Erschienen in Ausgabe: No 108 (02/2015) | Letzte Änderung: 02.02.15 |
Pablo Ramos Der Ursprung der Traurigkeit Aus dem Spanischen von Susanna Mende Titel der Originalausgabe: El origen de la tristeza. Suhrkamp Verlag (September 2007) 178 Seiten, Taschenbuch ISBN-10: 3518459112 ISBN-13: 978-3518459119 Preis: 7,50 EURO
von Heike Geilen
Die Adoleszenz ist nicht nur ein gewöhnlicher Abschnitt der
biologischen Reife eines Menschen. Sie stellt außerdem eine wesentliche Periode
der persönlichen Lehrzeit dar, in der die kindliche Fantasie verschwindet und
unerbittlich mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Wenn dieses Erwachen noch
dazu in einer gesellschaftlich kritischen Periode erfolgt, werden Hoffnungen
schnell zerstört, und Angst und Ungewissheit treten zutage.
In seinem Buch "Der Ursprung der Traurigkeit",
dessen Titel als zentrale Metapher für das Ende der Kindheit steht, zeichnet
der argentinische Schriftsteller Pablo Ramos ein überzeugendes menschliches
Bild eines zwölf- bis dreizehnjährigen Jungen, der sich dem Elend, den
stürmischen Konflikten und dem sozialen Gefälle in der Welt der Erwachsenen
stellt.
Auch wenn Ramos die zeitliche Einordnung seiner Geschichte nicht erwähnt, wird
schnell klar, dass die drei Erzählungen, die er mit sensiblem
Fingerspitzengefühl zu einem kostbaren kleinen Roman zusammengefügt hat, zu
Beginn der 1980er Jahre angesiedelt sind. Argentinien hat seine Diktatur
überwunden, bekommt aber - hoch verschuldet und wirtschaftlich angeschlagen -
die Wirtschaftsprobleme nicht unter Kontrolle. Für zahlreiche Argentinier hat
sich die große dunkle Wolke des täglichen Albdrucks noch nicht aufgelöst.
Ramos inszeniert ein literarisches apokalyptisches Szenario in einem Randbezirk
von Buenos Aires, einem Armenviertel, wo Abenteuer und Illusionen mit Drogen,
Alkohol, dem Zerfall von Fabriken und Werkstätten, Prostitution und allgemeiner
Hilflosigkeit eng zusammenleben. Auf diese menschliche Bühne der
"entzauberten Schauspieler" hat der Autor, ähnlich Mark Twains
"Huckleberry Finn", seinen jungen Helden Gabriel Gavilán gesetzt,
dessen reale Welt kaum etwas mit seinen Träumen gemeinsam hat. Doch trotz allen
Leids hat Gabriel diese noch nicht verloren, egal wie sehr die Wirklichkeit
eine oft unpassierbare Grenze ist.
Zwischen frühreifen Räuschen, kühner Neugierde und herausforderndem sexuellen
Erwachen entwickelt sich die Geschichte seines Ich-Erzählers in Richtung der
wahren, täglich neuen Erlebnisse des komplizierten Familien-Zusammenlebens, der
Freundschaften und des Sammelns von Erfahrungen in der trostlosen, ja fast
finsteren Gegend seines Viertels.
Der Roman hat stark autobiografische Züge. Auch Pablo Ramos wuchs in ärmlichen
Verhältnissen auf. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er dieses Milieu so
erschreckend realistisch und ungeschönt beschreiben kann.
Gabriel symbolisiert das Leben und die Zukunft
Die Reise des jungen Protagonisten, der das Leben und die Zukunft symbolisiert,
beginnt auf einem Friedhof (dem gefürchteten Trugbild des Todes): eine
wirkungsvolle Kontroverse.
Dieser Friedhof, den Gabriel in der Nacht gemeinsam mit dem in einer Gruft
lebenden Grabpfleger Rolando durchquert, stellt eine Erfahrung und
Auseinandersetzung - in positivem Sinn - mit der Wirklichkeit und ein Fragment
der Welt der Erwachsenen dar (auch wenn das auf dem Friedhof besorgte
Geburtstagsgeschenk für seine Mutter nicht ganz so gut ankommt).
Ramos beschreibt mit eindringlicher und klarer Kraft das parallele Universum
der Toten, mit seiner tiefen Stille, seinen Schatten, den monumentalen Grüften,
seinen Steintafeln, die sich im Mondlicht spiegeln, und den in ihren
endgültigen "Wohnungen" gefangenen Gebeinen.
Die noch kindlichen Augen beobachten versunken Tausende von Inschriften, die
von der Erinnerung, dem Heimweh und der Vergangenheit der Leidtragenden zeugen.
Ein Jahr später begleitet der Leser den jugendlichen Helden zu neuen
Abenteuern. Da wird ein Fußballspiel ausgetragen, dessen Ergebnis die
Reihenfolge des Besuchs bei den ortsansässigen Dirnen ermitteln soll, oder man
bricht in den Keller der gefürchteten Zwillinge ein, um deren Weinvorräte zu
plündern.
Ramos hat der Erzählung - trotz der permanent spürbaren Trostlosigkeit - einen
wundervollen Humor gegeben. Durch die infantile Leichtigkeit des Ich-Erzählers
wirft der Leser einen beinahe unbekümmerten Blick auf die brutale Realität, die
nach Verinnerlichung des Gelesenen das Entsetzen mit doppelter Intensität
zurückwirft.
Der Autor zeichnet überzeugende Bilder, die ahnen lassen, dass eine Lebensweise
einstürzt und der soziale Kollaps schon bald bevorsteht.
Da ist einmal die Geißel der Droge, die, genauso wie der Alkohol, die
Willenskraft der Jugend zu regieren beginnt. Auf der anderen Seite ist es die
desolate Landschaft mit den stinkenden, rattenverseuchten Müllhalden,
halbverlassenen industriellen Brachen und dem ölverschmutzten, brennenden Bach,
dem Ramos einen symbolischen Charakter verleiht: eine Metapher auf das Leben
seiner Bewohner, die in wackligen Holzhütten aus Pappe und Blech hausen.
Ein
ungeschöntes Röntgenbild der Gesellschaft
Dessen ungeachtet, dass der Junge Zeuge dieses brutalen Lebens ist, hat er
seine Wahrnehmungsfähigkeit nicht verloren. Er erkennt, was Andere nicht sehen
wollen oder durch ihre Feigheit nicht sehen können. In Kontrast zu denen, die
an der Trostlosigkeit verzweifeln, identifiziert er diese und verschweigt sie
nicht. Er will darüber sprechen, möchte wissen, warum zum Beispiel seine Mutter
einen Selbstmordversuch unternimmt oder sein Vater die Werkstatt verliert. Auf
seine Fragen weiß ihm die Welt der Erwachsenen meist keine Antwort zu geben.
Groteskerweise sind es gerade die Außenseiter der Gesellschaft, die ein Ohr für
ihn haben: ein Verrückter und ein Homosexueller.
Doch am Ende schleicht sich auch in Gabriels Seele die Traurigkeit, dann
nämlich, als sein Freund Tumbeta bei einem Raubüberfall erschossen wird. "Ich
spürte, dass das ganze Viertel traurig war", sinniert er, "und
auf einmal wusste ich, dass es stimmte; dass alle Dinge um uns herum lebendig
sind weil wir lebendig sind, und dass sie traurig sein können, wenn wir traurig
sind."
Gabriel streift seine Kindheit brutal ab und kommt zu der Erkenntnis, dass "der
Tod nicht das Gegenteil vom Leben ; wie ein Toter zu leben ist das
Gegenteil vom Leben."
Der Erzählton von Pablo Ramos ist hart und gleichzeitig weich, ein vibrierender
Rhythmus, der großartig die differenzierten Nuancen unterschiedlicher Gefühle
aufnehmen kann.
Fazit:
"Der Ursprung der Traurigkeit" ist ein Roman von
klarer und entzauberter Sprache, der dem Leser die erschütternde Wirklichkeit
dieses gebeutelten südamerikanischen Landes ungeschönt wiedergibt.
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