Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 07.02.14 |
von Klaus M. Kodalle
Einleitung
Vom Geist der
Verzeihung
Ist
Verzeihung die heimliche „Mitte der Ethik“?[1]
Lange
Zeit hat sich die Philosophie in ihren ethischen Diskursen über ein Thema
ausgeschwiegen, das den Kernbereich menschlichen Zusammenlebens betrifft. In
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das allmählich geändert.
Anlass, mich dem thematischen
Komplex Verzeihung zuzuwenden, waren
vor über zwanzig Jahren die Debatten um Schuld und Schuldverdrängung, um
Rechthaberei und heuchlerisch gutes Gewissen, um Entlarvungsattitüden und
Demokratie-Enttäuschungen im Umfeld der deutschen Vereinigung. Der Anlass
beschränkt jedoch nicht das Feld der Fragestellung. Das Problem des Umgangs mit
der Vergangenheit des Nationalsozialismus schiebt sich unweigerlich, parallel,
in den Vordergrund. Seitdem habe ich mich immer wieder bestimmter Aspekte
dieses Themas angenommen – bis hin zur zivilreligiösen Rhetorik des Einforderns
von Schuldbekenntnissen und des öffentlichen Schuld-Bekennens, bei dem man eher
mit der Resonanz medialer Anerkennung als mit einer schuldentlastenden Kultur
der Nachsicht oder gar Verzeihung rechnet.[2]
Bei der Anstrengung, den
Begriff des Verzeihens[3]
in seiner Tiefenschärfe erfassbar zu machen und die Philosophiegeschichte unter
der leitenden Frage nach Ort und Status des Verzeihens zu erschließen, blieben
Überraschungen nicht aus: Einerseits trifft man auf Theorien, die das Thema
bereits umkreisen – oft freilich, ohne seine zentrale Bedeutung angemessen zu
würdigen –, andererseits auf große Klassiker der Philosophie, deren Theorien
gegen den Verzeihungsdiskurs regelrecht abgeschottet sind; sie firmieren in
diesem Buch als „gnadenlose Denker“.
Die
philosophiehistorischen Sondierungen im Hauptteil des Buches verstehen sich als
Suche nach den Spuren eines Geistes der
Verzeihung[4].
Dieses Schlüsselwort signalisiert eine Frage- und Problemstellung, die über
explizite Theorien der Verzeihung
noch hinausreicht: Je nach
geschichtlicher, kultureller oder politischer Konstellation erweist Verzeihung
sich in ganz unterschiedlichen Formationen als handlungsbestimmend. Auch
diesseits einer ‚passenden‘ theoretischen Aufarbeitung kann sich in konkreten
geschichtlichen Situationen des ressentimentgeladenen Lebens ein Wille zur Entschuldung oder eine Bereitschaft zur Nachsicht durchsetzen.
In solchen Durchbrüchen bekundet sich der besagte Geist der Verzeihung.
Mit diesem Ausdruck findet
auch meine Überzeugung ihren Niederschlag, dass dem kommunikativen Leben eine
es „tragende“ Geisteskraft eingewoben ist, die sich zwar in Akten
einzelner und auch in kollektiven, kulturell vermittelten Einstellungen manifestiert,
die aber nicht durch sie konstituiert ist, sondern in einer
unkalkulierbaren Tragweite jenen Manifestationen zugrunde liegt, ihnen
geschichtliche Schubkraft verleiht und sie in ihren konkreten, immer
unvollkommenen Ausformungen letztlich unsagbar übertrifft.Von einer ‚schwachen‘ metaphysischen Kraft
zu sprechen, ist in diesem Bezugsfeld keineswegs unpassend, geht es doch um eine tiefe und komplexe Handlungsnormierung
beziehungsweise um einen umfassenden Sinnhorizont, der beim Umgang mit Schuld
auch dann im Spiel ist, wenn ein anderes Vokabular bei der Phänomenbeschreibung
benutzt wird. Im Verzeihen kommt etwas zum Zuge, das auf den ersten Blick nicht
im moralischen System verankert zu sein scheint, es in gewisser Weise
übersteigt. Mit dem Verzeihen wird – so drückt Georg Lohmann[5] es aus – ein „scheinbar
außermoralisches Licht auf die moralische Welt geworfen“; Verzeihung mache die
moralische Verfehlung „zwar nicht ungeschehen, sonst gäbe es ja keinen Anlass
oder Grund zu verzeihen, aber sie behandelt es wie ungeschehen, als ob es
nicht geschehen sei.“ Das kommunikative Leben,
das gelebte Ethos, liefert zwar den
Anlass, die philosophische Bemühung um die Ethik
– verstanden als Systematik der Normbegründung, des Gerechtigkeitsdiskurses und
der Verständigung über das ‚gute’ Leben – ständig weiterzutreiben, um
vernünftige Verbesserungen zu erzielen, doch die Geistesgegenwart im Leben ist den
philosophischen Rationalisierungen immer voraus. Dieses ‚Mehr’ bezeugt sich in überraschenden
Handlungskonstellationen – zumeist ganz unerwartet und unverhofft. Insofern ist
es angebracht, die Formulierung des Eingangssatzes zu korrigieren und von
Verzeihung als Mitte des Ethos zu
sprechen.
Kant hatte einst das christliche
Erbsünde-Dogma durch die Unterstellung einer mit dem Menschsein verbundenen
Tendenz zum Bösen ersetzt, die er ‚radikal’ nannte, weil sie bis in die Wurzeln
der Existenz reicht: Er sprach von einem „Hang“, der den Menschen immer wieder
in die Falle einer Wahl falscher Maximen geraten lässt. Das Böse, das so in die
Welt kommt, wird demnach nicht als Zufallsprodukt einer freiheitlichen
Entscheidung unter ungünstigen Randbedingungen gedeutet, sondern als Ausdruck
einer unüberwindlichen Verfallenheit des Daseins. Jede einzelne Schuld-Last ist
der Verantwortung des Freiheitssubjekts zuzurechnen; sie wäre vermeidbar
(gewesen), die Verschuldung des Daseins aber nicht.
Dieser Gedanke ist noch einen
Schritt weiter zu treiben. Bei genauer
Prüfung der Lebensumstände kommt wohl niemand umhin einzuräumen, dass er unweigerlich
sein Leben auch auf Kosten anderer führt. Lebenspraktisch nehmen wir diese
Erkenntnis von etwas scheinbar Unabänderlichem mit einer gewissen
Gleichgültigkeit hin. Das ändert aber nichts daran, dass wir uns hier mit einer
Art vor-reflexiver „Schuld“ konfrontiert sehen. Diese Schuld ist „nicht primär
eine moralische, das heißt die Verletzung eines Sollens, das in einem Anspruch
des Anderen gründet“.[6]
Vielmehr handelt es sich um eine Schuld, die mit der conditio humana unlösbar verschränkt ist. Vor allen
Diskursen, die darauf zielen, Gerechtigkeit als Tausch, als Fairness, als
Gleichgewicht zu umschreiben, müssen wir uns darauf einstellen, dass wir
aufgrund jener koexistentiellen Lebensverfassung verzeihungsbedürftig
sind.
Die Philosophie der
Verzeihung setzt die Negativität dieser dynamischen Struktur voraus. Sie
reflektiert nicht über das Gute ‚jenseits des Seins‘, sondern glaubt an eine
fundierende Gegenkraft im menschlichen Dasein selbst, die wie der
Hang-zum-Bösen als Hang-zum-Guten nicht anders zur Erscheinung kommt als in
‚zufälligen’ Akten und Haltungen des Verzeihens, die im Kleinen wie im Großen reaktiv die Wirkmächtigkeit des Realität
gewordenen Bösen brechen und durchkreuzen. Kant hatte das nicht konzipieren
können, weil er die Sphären von empirischem Geschehen und Intelligibilität
strikt getrennt dachte und vor der Frage, wie mit der nun einmal aufgehäuften
Schuld-Last umzugehen sei, im Grunde kapitulierte. Im Rahmen der in diesem Buch
in Betracht gezogenen Perspektiven ist es hingegen ‚evident’ zu formulieren:
der einzige Handlungsvollzug, in dem das, was Kant das „Intelligible“ nannte,
also die an raum-zeitliche Beschränkungen nicht gebundene reine Vernunft als kausal wirkende Freiheit, im menschlichen Dasein
zur Erscheinung kommt, ist das Verzeihen.[7]
Dies zu verstehen und zu
akzeptieren fällt schwer in einer Welt, die sich als Resultat der Selbst-Produktion des Menschen versteht und in
der das Prinzip des Tausches alle sozialen Sphären durchdringt. In dieser Sicht
auf die Welt-Verhältnisse sind zwar Erfahrungen des Scheiterns und des
Schuldigwerdens nicht zu ignorieren, doch sie sind eben ‚Betriebsunfälle’,
denen mit besserer Strategie beizukommen sein müsste. Die an sich ‚sündlose’
Menschheit (Strauss, Feuerbach) führt das Scheitern von ursprünglich großartig
Projektiertem und dessen Verfilzung mit dem Bösen auf die Restbestände der
Unaufgeklärtheit in der Individual- wie in der Kollektivgeschichte zurück.
Schopenhauer bezog dazu die Gegenposition, indem er auf der Unaufhebbarkeit
antagonistischer Willensdynamik beharrte, die unvermeidbar dazu führt, dass
sich die leidende Kreatur immer tiefer in der Negativität des Daseins verfängt.
Die Philosophie der
Verzeihung plädiert dem gegenüber dafür, jenen Phänomenen besondere
Aufmerksamkeit zu widmen, in denen sich Menschen ohne Angst vor Selbstverlust
und ohne Erwartung von Gegenleistung zugunsten anderer verausgaben. Ein
Hang-zum-Guten wird da trotz aller Flüchtigkeit erfahrbar. Ihn interpretieren
Philosophen wie Derrida oder Ricœur als Zeichen einer das Dasein durchwirkenden
Potenzialität der Gabe, die in Akten
des Vergebens ihren dichtesten und zuweilen provokativsten Ausdruck findet.
Das
Verzeihen ist per se re-aktiv. Der negativen Dialektik der Geschichte und der
Schuldverfallenheit des Daseins vermag diese Philosophie keine ‚positive’
Vision einer Gegenwelt des Guten-Wahren-Schönen entgegenzustellen. Vielmehr
gilt sogar: Angesichts des Hangs-zum-Bösen sind Moral und Recht so stark wie
möglich zur Geltung zu bringen. Aber sie sind auch nur Instrumente, die durch
kumulierte menschliche Niedertracht pervertiert werden können (und immer wieder
pervertiert werden). Dann bedarf es stärkerer Impulse, das gefährdete Ethos zu
sanieren und Kräfte des Neuanfangs zu entbinden.
Sind
auch die re-aktiven Akte vollzogener
Verzeihung die eigentlichen Ausdrucksformen jener grundierenden ontologischen
Potenzialität des Guten, so lässt sich doch auf dieser Basis der Umriss einer pro-aktiven ethischen Einstellung
angeben. Der gesteigerten Sensibilität für die Verletzbarkeit des Menschen und
dem Wissen um die Prozesse des aus gegenseitiger Vereinnahmung folgenden
Leidens und der Verzerrung der Kommunikation auf allen Ebenen des
gesellschaftlichen Lebens folgt ein Sollensgrundsatz, der freilich nur als Korrektiv eingeführt werden kann: Prüfe
bei jedem Vorhaben, jeder praktischen Handlungsoption, ob es nicht auch gute
Gründe gibt, den Nächsten (die Gruppe, die Gesellschaft …) damit zu verschonen. Das gilt nicht zuletzt für
den in jedem sachhaltigen Dialog mitschwingenden ganz ‚natürlichen’ Anspruch
‚Recht zu haben’. Im Vertrauen darauf,
dass ethische Verhältnisse immer nur wirklich gelingen, weil und insofern die
eng mit dem Austrag von Streit verbundene Rechthaberei zurückgenommen wird im
Zeichen einer noch stärkeren Kraft, die sich als Souveränität, als Großzügigkeit
im Dasein manifestiert, kennzeichnet eine gewisse Gelassenheit die Rhetorik
eines solchen moralphilosophischen Diskurses.[8]
Diese Großzügigkeit, Manifestation der Souveränität eines Geistes der
bescheidenen Menschenfreundlichkeit, trägt
die zukunftsorientierten Tätigkeiten und verhindert eine ‚Zukunftsbewältigung‘,
die wähnt, sie besäße das einzig richtige Konzept, dem sich alle zu
fügen oder anzuschließen hätten, die guten Willens sind. Wird der
Respekt für die Nichtidentität der Person so ernst genommen, könnte sich
‚regelrecht’ ein „Ethos der Grazie und Leichtigkeit“ (Plessner) entwickeln, in
dem Fingerspitzengefühl, Biegsamkeit, Mäßigung und Takt den Ton angeben und den
Rigorismus der Eindeutigkeit und der ‚reinen’ Gesinnung auf die Plätze
verweisen. Die Fähigkeit zur großzügigen Bildung von Kompromissen,
beispielsweise, verweist zurück auf ein Ethos
der Nachsichtigkeit und der Selbst-Zurücknahme.
Diese
prophylaktische Nachsicht geht in der Gelassenheit des ‚Ethos der Grazie’ von
vornherein davon aus, dass niemand hält, „was er durch sein Wesen verspricht“.[9]
Im Kern sind darunter die Ansprüche zu verstehen, die wir sinnvollerweise an
uns und andere richten: als Vernunftwesen angesprochen und behandelt zu werden.
Diese Ansprüche aufrecht zu erhalten und zugleich,
enttäuschungsresistent, nachsichtig mit korruptiven Tendenzen zu rechnen und
umzugehen, bedeutet praktisch, sich zu weigern, in Dialog und Konflikt jemanden
auf seine Verfasstheit-jetzt festzulegen, ihn bei seinem Worte so zu
behaften, als sei es schlechthin unabänderlich. Robert Spaemann geht so weit zu
formulieren, wir verhielten uns dem Anderen gegenüber nur human, „wenn wir ihn
nicht vollkommen ernst nehmen. Einen Menschen vollkommen ernst nehmen, heißt
ihn vernichten. Denn vollkommen ernst genommen zu werden überfordert uns. Die
Vernunft eröffnet uns eine Dimension, von der wir zugleich erkennen, daß sie
von uns nicht ausfüllbar ist.“[10]
Bezüglich dieser Haltung der Nachsichtigkeit
spricht Spaemann von ontologischer
Verzeihung. „In der ‚ontologischen‘ Verzeihung erlauben wir es dem Anderen,
das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen ist.“[11]
Nur sofern die Kraft zu dieser Nachsicht oder Verzeihung aufgebracht wird,
sichern wir den Anerkennungsverhältnissen, in die wir mit allen Fasern der
Existenz verflochten sind, ihre Lebbarkeit. Verzeihung ist somit Ausdruck eines
fundamentalen Wohlwollens.[12]
Auf der Grundlage des soeben
Dargelegten bedarf allerdings ein gravierendes Problem der Klärung: Inwiefern
läuft dieses relativierende Ethos, das so stark auf die Eigendynamik des
Verzeihens setzt, nicht auf eine Infragestellung des absoluten Geltungsanspruches
der prinzipien-fundierten Moral hinaus? Schließlich stellen Moral und Recht
angesichts erlittenen Unrechts rationalisierte Formen der Verarbeitung solcher
Geschehnisse zur Verfügung. Sie leichtfertig auszuhebeln, wäre
unverantwortlich. Mithin steht das Verzeihen unter Druck: Wie lässt es sich vor
dem Forum der historisch pluralisierten Vernunft rechtfertigen? Sind
Indikatoren zu benennen, die die Annahme einer Kompatibilität mit dem System
der Moral plausibel erscheinen lassen? Im Zentrum der Moral steht der Begriff
der Pflicht. Ein Versuch, das
Verzeihen als Pflicht zu rechtfertigen, scheint von vornherein zum Scheitern
verurteilt zu sein. Er widerspräche dem Grundzug des Verzeihens, welches ein
nicht durch allgemeine Gründe erzwingbarer, absolut frei-gewährter Akt eines
Menschen ist, der im Selbst-Verhältnis – unter Umständen nach einer Bitte des
Übeltäters – zur funktionalen Rationalität der nach allgemeinen Maßstäben
gerechtfertigten Sanktionierung auf Distanz geht. Die Verzeihung hat auch in
jenen Fällen befreiende Wirkung, in denen die Gesellschaft mit guten Gründen
darauf bestehen muss, dass Recht gesprochen wird. Allerdings wären leicht auch
all die Phänomenbereiche von Schuld zu erfassen, bezüglich deren es in der
Kompetenz und in der Macht der verzeihenden Person liegt, auf Initiativen zu
verzichten, die den Täter der Justiz überantworten.
Nimmt man die allgemeinen
Maßstäbe der moralischen Vernunft nicht als kontrafaktische Orientierung für
das einzelne Gewissen, sondern zieht man in Betracht, wie diese Normen in einer
historisch-empirischen Gesellschaft als konkrete Sittlichkeit (anders gesagt:
als in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiertes Wertesystem)
funktionieren, so ergeben sich weitere Konfliktbeschreibungen. Da muss die Art
der Verletzung der Integrität eines Menschen in der Sicht der Allgemeinheit nur ungeheuerlich genug sein, um
demonstrieren zu können, dass es verwerflich wäre, Druck auf das Opfer
auszuüben, ‚gefälligst’ zu verzeihen. Andererseits kann sehr wohl ein gewisser
sozialer Druck auf Opfer entstehen, ‚sich endlich einen Ruck zu geben’, wenn
die Mit-Welt eine Verletzung ganz anders gewichtet als das auf Wiederherstellung
der Selbst-Achtung bedachte Opfer; schnell wird dann eine Person als
verstockt-unversöhnlicher Charakter disqualifiziert, der selbst angesichts
einer ‚Kleinigkeit’ nicht zur Verzeihung bereit ist. Es lässt sich beobachten,
dass Menschen, die wenig nachsichtig sind und auch ‚im Kleinen’ nicht verzeihen
können, sich tendenziell sozial isolieren. Sie wirken auf andere ‚abstoßend’
und werden lieber gemieden.
Diese Beispiele einer
Spannung zwischen sozialen Erwartungen und individuellem Verhalten können
nichts daran ändern, dass das Verzeihen als ein extra-ordinärer kontingenter Akt zu beschreiben ist, der nicht in
moralische Regelsysteme zu integrieren und in moralische Forderungen zu
übersetzen ist. Dies sagt sich so mit Entschiedenheit. Aber die Rede vom Geist der Verzeihung nötigt das
philosophische Denken doch, das Allgemeine,
von dem im Grunde jeder einzelne Verzeihungsakt inspiriert ist, zur Sprache zu
bringen. Ein Vorschlag von Georg Lohmann[13] ist hier aufzugreifen:
Der unmittelbare einzelne Akt eines konkreten Verzeihens ist zwar so
individuell und situativ, dass es nicht angeht, ihn als Einlösung einer
moralischen Forderung zu interpretieren; wohl aber kann es gelingen, das
Postulat einer generellen „Haltung der
prinzipiellen Verzeihensbereitschaft“, die wir wechselseitig von einander
erwarten dürfen, in das Moralsystem zu integrieren. Dem entspräche es, eine schwache Form des Verpflichtetseins zum
Verzeihen einzuräumen. Das würde erklären, warum wir von Fall zu Fall sehr wohl
eine Unangemessenheit von
verzeihungsresistenten Verhaltensweisen mit Unbehagen registrieren. Für diese
sog. schwache Verpflichtung eine Struktur
der Regelhaftigkeit und damit Berechenbarkeit auszuweisen, dürfte ein
erfolgloses Unterfangen bleiben.
Ob diesem Konstrukt einer
schwachen Pflicht zu verzeihen auch eine schwache Pflicht zur Bitte um Vergebung zu entsprechen hätte,[14] muss eigens kritisch
bedacht werden. Auf Anhieb ist die Frage als Selbstverständlichkeit zu bejahen.
Die Analogie zwischen Opfer und Täter besteht im Vorgang der
Selbst-Überwindung. Die Differenz zwischen diesen Zuschreibungen aber bringt
ins Grübeln: Der Übeltäter befindet sich in einer Position, in die er sich in
der Regel aktiv, durch eigene
Entscheidung, hineinmanövriert hat. Das Opfer ist passiv durch eine fremde Handlung in seiner Integrität verletzt
worden. Seine innere Freiheit ist
gerade durch die ‚Verobjektivierung’ nicht
im Kern getroffen worden. Anders beim Täter: Indem er seine Freiheit
missbrauchte, ist er gewissermaßen im Kern seiner Existenz korrumpiert. Er kann
sich nicht selbst sagen „aber meine Tat drückt doch gar nicht aus, was ich in
meinem Wesen ansonsten bin!“. Äußert er von sich aus eine Bitte um Verzeihung,
kann dies je nach Umstand immer als leichtfertiger Versuch der Selbst-Sanierung
ausgelegt werden, der zudem das Opfer unbillig unter Druck setzt. Aber
fundamental ist doch die Einsicht, dass der Täter für die restitutio in integrum auf das ihn als Freiheitswesen neu
ansprechende Zukommen eines Anderen angewiesen
ist. In dieser Kommunikation wird seiner Freiheit ‚aufgeholfen’. Allerdings ist
diese Kommunikation an Fragilität kaum zu übertreffen. Denn mit der Bitte um Vergebung wagt der Übeltäter ja eine
Selbstentblößung bzw. Selbst-Auslieferung an den Anderen. Diesem unumgänglichen
Angewiesensein-auf-den-Anderen entspricht auf Seiten des Verzeihung-Gewährenden
die Schamhaftigkeit. In der
Unbehaglichkeit, die die Person empfindet, der der Andere sich offenbart,
drückt sich die Überforderung aus, die mit dieser Situation verbunden ist. Der
Ausspruch ‚gut, ich verzeihe dir‘ steigert – als stünde hier ein absolut
Reiner, dort ein absolut Verworfener – die Asymmetrie des Vorgangs ins
Unerträgliche. Es entspricht deshalb einem feinen Gespür für die eigene
Schuldanfälligkeit, wenn das Opfer in der Regel jenen Satz lieber gar nicht
ausspricht, sondern in einer non-verbalen Geste dem Täter signalisiert, er könne
befreit abziehen.
Der
Gestus des Verzeihung-Gewährens, gar
noch aus eigener tiefer Verletztheit heraus, ist ein Schritt der mutigen, aber
extrem schwierigen Selbstüberwindung. Sogar dann, wenn er wirklich gelingt,
bleibt unter Menschen oft ein Gefühl der
Unangemessenheit zurück; es stellt sich in der Regel nicht einmal ein
Gefühl der Selbstzufriedenheit ein, zu solcher souveränen Distanznahme
gegenüber den eigenen Impulsen des gerechten Zorns fähig gewesen zu sein.
Während das Gefühl der Pflicht oder
das Gefühl der Verantwortlichkeit
durch Argumente intersubjektiv autorisiert werden muss, obwohl es ja die
jeweilige Entscheidung erst mit der erforderlichen Lebens- und Schubkraft
versieht, ist die ko-existentielle Seite der Aussöhnung im Horizont der Verzeihung
weder einer intellektuell-konsensuellen noch einer kollektiv-emotionalen
Bestätigung fähig. Wohl finden wir im allgemeinen Zustimmung zu dem Satz ‚Verzeihung
ist höherwertig als Vergelten‘, aber alle Erfahrung lehrt, dass die praktische
Anerkennung dieses Sollenssatzes graduell mit der Nähe zum Vorgang einer
Lebens-, Rechts- und Würdeverletzung verblasst und die ausgelösten berechtigten Affekte der Empörung
dominieren. Irgendwie lebensfremd wirkt deshalb
die radikale ethische Forderung, ‚ohne
wenn und aber‘ zu verzeihen. Diese Idee eines schlechthin bedingungslosen Verzeihens wird vielfach
der Lehre und dem Handeln Jesu von Nazareth zugeschrieben und als besonders
vorzüglich und moralisch herausragend eingeschätzt,[15] wenngleich selbst unter
Theologen strittig ist, ob Jesus wirklich ein solches bedingungsloses Verzeihen
gelehrt hat.[16]
Es ist nun zu klären, wie sich die hier in diesem Buch entfaltete Auffassung zu
dieser radikalen ethischen Forderung verhält.
In der Regel werden Reue des Täters und dessen Bitte um Verzeihung als ganz
fundamentale Voraussetzungen angeführt, die ‚gegeben’ sein müssen, wenn
Verzeihung möglich sein soll. Eine in diesem Buch leitende Hinsicht ist
hingegen die des ‚vorlaufenden’ Verzeihens. Es ist unübersehbar, dass sich
diese Idee eines vorlaufenden, eines entgegenkommenden Verzeihens mit
bestimmten Inspirationen des Christentums trifft. Doch auch wenn der
Verzeihende in seinem grundsätzlichen (aus Ursachen unerklärlichen und insofern
unbedingten) Willen, Verzeihung zu gewähren und dem Übeltäter die Chance zur
Rückgewinnung seiner Integrität zu eröffnen, auf die Reue nicht wartet und ihr
zuvorkommt, so hofft er doch auf sie
im Glauben, gerade die Erfahrung der Verzeihung werde den Übeltäter ermutigen,
sich endlich seinen Abgründen zu stellen. Aber darum kümmert sich der
Verzeihende nicht; ihm liegt nicht daran, von der – hoffentlich ausgelösten –
Reue Kenntnis zu erhalten. Jedenfalls sollte
ihm nicht daran liegen, denn dann wäre seine Handlungsweise keine souveräne
Daseinsäußerung, die jetzt und hier aus einer ‚Überfülle’ schöpft. Die offene Frage,
ob der Täter nun bereut (hat) oder nicht, stuft der Verzeihende für sich zur quantité négligeable herab. Die
Authentizität des Verzeihungsaktes ist davon nicht abhängig. In der theoretischen Betrachtung des
kommunikativen Gesamtvorgangs, die den Begriff
des Verzeihens in seiner Komplexität zu erfassen hat, ist aber sehr wohl
festzuhalten, dass sich jener Akt erst vollendet,
wenn der Übeltäter ein ‚anderer’ geworden ist, nicht der, der er vor seiner Verfehlung
(die ja auch eine Selbst-Verfehlung
ist) einmal war, sondern ein anderer, der sich neu erfinden darf aufgrund einer
Zuwendung, auf die er keinen Anspruch hatte und die ihm wieder das Bürgerrecht
im „ethisch gemeinen Wesen“ (so ein Begriff Kants) verleiht. Ob also das
Verzeihen im beschriebenen Sinne zum Ziel kommt, wissen die Handelnden nie mit
Gewissheit.
Die
beschriebene äußerst fragile Täter-Opfer-Kommunikationsform lässt das für
Verzeihungsvorgänge so eigentümlich Asymmetrische
wieder vor Augen treten. Zum Wesen einer ‚idealen
Kommunikationsgemeinschaft‘ (Apel, Habermas) zählt die symmetrische Relationalität. Die Schuld-Verzeihungsbeziehung ist im
Kern asymmetrisch. Es fällt schwer,
in der intimen, der privaten Kommunikation gegenüber einem anderen Menschen
einzugestehen, dass man an ihm schuldig geworden ist. Situativ gerät der Verzeihung Gewährende in eine Überlegenheit
gegenüber dem Übeltäter, die für Täter wie Opfer schwer erträglich sein kann.
Des „Empfängers“ der Vergebung könnte sich ein Gefühl der Demütigung
bemächtigen und ihn geradezu erneut in Trotz und Verhärtung treiben. Da scheint
es von erheblicher Tragweite zu sein, wenn einer nicht (vielleicht sogar
ostentativ großmütig) sagt ‚ich verzeihe dir‘, sondern sich in der Lebenspraxis
so verhält, dass dem anderen allmählich zur Gewissheit wird, dass ihm
verziehen ist.
Das
Verzeihen „entzieht sich der Sprache. Im Wesentlichen ist die Verzeihung kein
Sprechakt“. „Die Worte der Verzeihung sind belanglos: ob mir Verzeihung
widerfährt, kann ich an sprachlichen Wendungen gar nicht erkennen.“[17]
In der philosophischen Sprechakttheorie
gilt der Satz ‚Ich vergebe Dir‘ als ein Akt, in dem nicht nur eine Aussage
(über etwas) getätigt wird, sondern das Ausgesagte zugleich geschieht
(performativer Satz). Doch auch in der Sprechakttheorie[18]
ist eine verbale Äußerung nicht zwingend für das Zustandekommen von Vergebung
(der Sprachbegriff kann, genügend weit gefasst, auch Gesten einschließen). Die
ausdrücklich sprachliche Wendung wird höchstens deshalb als „hilfreich“ bevorzugt, weil sie „weniger
missverständlich ist als andere Mitteilungsformen.“[19] Gewissheiten freilich kann man da nicht einfordern. Die innere Autorität
eines Handlungsvollzuges der Verzeihung wird entweder erfasst oder nicht
erfasst; über diese ereignishafte Plötzlichkeit einer Wiederherstellung der
Kommunikation – womöglich sogar auf höherem Niveau als zuvor – kann man sich
nicht räsonierend verständigen. Es ist eben nicht auszuschließen, dass die explizite
Verbalisierung für die Glaubwürdigkeit des Verzeihungsvorgangs sogar hinderlich
sein könnte. – Zum Kontrast: Wenn
sich die Gesellschaft bzw. die Öffentlichkeit anheischig macht, einzelnen
Tätern oder ganzen Tätergruppen die Schuld-Entlastung (z.B. durch Amnestie)
zuzusagen, wird das psychologisch von
den Tätern sicher als Erleichterung empfunden; eine wahrhafte Befreiung von der
Gewissenslast folgt, wie angedeutet, einer anderen kommunikativen Dynamik.
Nach dem Gesagten lässt sich
die Frage nicht umgehen: Ist Verzeihen eigentlich immer gut? Ist es unter allen
Umständen besser als die Forderung nach gerechter Sanktionierung? Gibt es nicht
Unverzeihliches, das durch Verzeihen
nur verharmlost würde? Zur Verfassung des mit-menschlichen Daseins gehört in
der Tat das Phänomen leichtfertigen
Verzeihens. Akte des Verzeihens können verfehlt sein, können von der
Korruptibilität des Menschen infiziert sein. Zwischen Feigheit und
leichtfertig-unbedachter Großherzigkeit, zwischen Bequemlichkeit und Berechnung
gibt es viele Varianten eines kritikwürdigen Verzeihens, das Gefahr läuft, sich
aus dem Bezug auf gemeinsame Wertungen zu verabschieden. Im vernünftig
geführten Diskurs bedarf es mithin immer auch einer aufmerksamen Kritik des reinen Verzeihens.
Philosophisch liegen die
Argumente gegen eine zu starke Favorisierung des Verzeihens auf der Hand.
Fokussiert auf das Anliegen, die verletzte und wiederherzustellende Selbstachtung in den Mittelpunkt zu
rücken, lässt sich – je nach Beurteilung von Täterpersönlichkeit, Stabilität
oder Instabilität des gesellschaftlichen Normengefüges und Grad der eigenen Verletztheit
– auch die subjektive Berechtigung rational vertreten, das Verzeihen zu
verweigern. Ob man dies weitertreiben kann bis zu einer Pflicht, nicht zu verzeihen bzw. bis zu einem moralischen Verbot,
steht dahin.[20]
(Nicolai Hartmann hatte mit Blick auf den Täter/Schädiger die Befürchtung
geäußert, der Verzeihungsdiskurs nehme die ursprüngliche freiheitliche
Verantwortung des Täters/Schädigers nicht ernst und stelle damit dessen Würde
in Frage.) Zieht man die inzwischen kodifizierte Unverjährbarkeit von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Betracht, lässt sich leicht vorstellen,
welche moralischen und rechtlichen Gründe gegen die Emphase des
Verzeihungsimpulses vorgebracht werden können. Allemal wird jedes Plädoyer für Verzeihung sich der Frage zu stellen
haben, wie es der Aufweichung des verbindlichen Geltungsanspruchs der
moralischen Imperative entgegenzuwirken gedenkt.
Menschen wie Jean Améry und
Simon Wiesenthal haben die Abgründe der Entwürdigung im Konzentrationslager am
eigenen Leib erlitten. Während Wiesenthal jahrzehntelang sich mit der Bürde nicht
gewährter Verzeihung für einen sterbenden reuigen SS-Mann quälte und seine
Geschichte zahlreichen Personen des öffentlichen Lebens zur Beurteilung
vorlegte,[21]
weigerte sich Améry entschieden, sich für solche Gedanken aufzuschließen. Alle
Schuld-Entlastungsargumente, die im
Selbstverhältnis ihre Funktion haben, weil sie z.B. helfen, die
Selbstverhärtung im Hass zu überwinden, sind nicht kommunikativ übersetzbar,
lassen sich nicht quasi-objektivieren, als ginge es an zu formulieren, ‚unter
den-und-den Umständen sollst du
verzeihen’. Die Hemmung, die jede(r) Unbetroffene verspürt, zu solchen
abgründigen Entscheidungen Stellung zu nehmen, ist selbst Ausdruck des Respekts
gegenüber Opfern. Im konkreten Einzelfall ist Verzeihen „immer ein Überwiegen
von subjektiven Motiven über eigentlich zutreffende moralische Gründe“; der von
der Verzeihung inspirierte Blick entkleidet die Moral nur der „Hybris, in allen
Fragen das letzte Wort haben zu müssen“.[22] Stärksten Anhalt findet
eine solche Auffassung in der Konstellation Hegel-Kierkegaard (siehe Teil II).
Dahinter steht die Grundannahme einer nie zu überwindenden Fehlbarkeit des
Menschen, die sich philosophisch in der Überzeugung spiegelt, der an sich
ebenso unparteiische wie unnachsichtige Blick des moralisch Urteilenden bedürfe
im Großen wie im Kleinen immer wieder der Korrektur im Geist der Verzeihung.
Die jeweiligen Gründe für diese
Korrektur können im Nachhinein
situationsbezogen freigelegt und gerechtfertigt werden – im Augenblick der
Entscheidung zum Verzeihen bleiben sie ungesagt. Jede ‚Begründung’ zöge den Akt
sofort in eine Diskussion des Für-und-Wider und wäre geeignet, die unmittelbare
Überzeugungskraft des Vorgangs abzuschwächen und auch den Empfänger des
Zuspruchs der Verzeihung zu verunsichern. Das Verzeihen passiert. Am besten wäre es, der Vorgang täte seine Wirkung – und
würde sofort vergessen.
Indem die Begründungslogik
primär der internen Selbstverständigung dient und es eine kategorische Pflicht zur Verzeihung nicht geben kann, bleibt der
Charakter des Verzeihungsaktes als freie spontane Bekundung des Willens zur
Aussöhnung erhalten. Es könnte sein,
dass sich menschliche Freiheit –
nicht als Willkürfreiheit verstanden, sondern begriffen als Wahrung eigener
Würde in der Bindung an die Achtung der Würde der anderen – in keinem anderen Akt so
interesselos-lauter manifestiert wie in dem immer von Missverständnissen
umlauerten Akt der Verzeihung. Auch der „Schwächste“ und Unbedeutendste vermag
da Souveränität und Größe des Menschseins zum Ausdruck zu bringen. Die
Authentizität eines solchen Vorgangs wird dadurch gewahrt und gesteigert, dass
er dem Blick des Dritten, des Zeugen, ausweicht. Bei der Pflicht verhält
es sich durchaus anders: Die mutige Erfüllung der Pflicht regt wie das
tugendhafte Leben geradezu an zur Bewährung im Raum des öffentlichen Diskurses:
Mut und Entschlusskraft sollen zur
Nachahmung bewegen. Auch die Akte der Verzeihung
bedürften der Nachahmung – und doch vertragen sie nicht die Publizität:
Es ist gerade die in der Verzeihung neu konstituierte Integrität dessen, dem
Verzeihung gewährt wurde, welche die öffentliche Beachtung (und Begutachtung!)
nicht verträgt. Aufschlussreicher als alle Worte können authentische Gesten und
symbolische Handlungen sein. Das gilt ebenso für die Bitte um Verzeihung – erst recht wenn sie stellvertretend für ein
Kollektiv erfolgt (wie der kommentarlose, schlechthin unprotokollarische
Kniefall eines Bundeskanzlers am Gedenkort des ehemaligen Feindes).
Eine
Ethik, welche Verzeihung als Grundbegriff versteht, wird sich also einer
Sprache befleißigen, die auf ein rigides
Forderungsvokabular verzichtet, weil das Verlogene moralischer
Selbstgerechtigkeit nicht erst entlarvt, sondern von vornherein unterlaufen werden soll. Erkennbar muss werden, dass
kooperative solidarische Verhältnisse nicht etwa deshalb gelingen, weil einer
den anderen von der Richtigkeit seiner moralischen Auffassungen überzeugt hat,
sondern weil im kommunikativen Prozess Nachsichtigkeit und Selbstzurücknahme
dazu geführt hatten, dass man sich trotz unterschiedlicher, mit Sollenssätzen
verbundener Betrachtungs- und Urteilsperspektivenzu einer Verständigung fand: Im ‚Geist der Verzeihung‘ findet sich die Verständigung – so
könnte man auch formulieren, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich darin stets
auch eine Brechung der eigenen
Intentionen und Deutungen vollzieht.
Häufig wird viel Zeit nach
einem Vorgang, der als Entwürdigung empfunden wurde, verstreichen (womöglich
Jahrzehnte!), ehe der Geschädigte mit sich zu Rate geht und eine Entscheidung
über Verzeihen oder Nicht-Verzeihen trifft. In dieser Zeit hat das Gedächtnis
des Betroffenen das Ereignis ja nicht einfach abgespeichert und unverändert
aufbewahrt, sondern es hat die vergangene Faktenlage subjektiv (man könnte
sagen: ‚kreativ’) verarbeitet und ihm womöglich eine Dimension an Schwere und
Bedeutung verliehen, die mit dem ‚ursprünglichen’ Vorgang nur noch wenig zu tun
hat. Die ganze Lebenserfahrung eines Menschen – weitere irritierende
Erfahrungen des Verletztwerdens und Erfahrungen des großen Glücks der
Anerkennung und Selbstbejahung – infiltrieren die Gedächtnisleistungen und
unterziehen weiter zurückliegende Fakten einer ständigen Umwertung. In dem
nicht voll kontrollierbaren Wandel der Erzählung von dem, was sich abgespielt
hat, schlagen sich diese komplexen Umwertungsprozesse nieder.
Die in den zurückliegenden
Jahren gängig gewordene Denkfigur von „Narrativen“ hat Charles Grisholm auch in
den Verzeihensdiskurs eingeführt,[23] um die allmähliche
Wandlung des Opfers von Zorn, Rachsucht oder Ressentiment zur
Verzeihungsbereitschaft, und den Durchbruch des Täters zur Reue über seine Tat
sprachlich angemessen zu fassen. In diesem methodischen Zugriff versteht man
unter „Geschichte“ (story) die reduktionistische Protokollierung des
historischen Faktums und unter „Erzählung“ (narrative) dessen perspektivische
Einbettung und personale Gerichtetheit, die einer ständigen Modifikation
unterworfen ist. Die Erzählung aus der unmittelbaren Betroffenheit heraus, wird
verdichtet, wenn sie auf die Resonanz der Mit-Empörten trifft, und sie wird
destabilisiert und relativiert, wenn eine Person, der man Wertschätzung
entgegenbringt, den Fall womöglich nicht nur in einem milderen Licht erscheinen
lässt, sondern die Faktenlage so beschreibt, dass für Empörung gar kein Anlass
mehr besteht. Ebenso wird der Täter mit seiner sich selbst rechtfertigenden
Erzählung auf Zustimmung, Vorbehalte und Kritik treffen. Im Durchgang durch den
vielstimmigen Dialog der Narrative könnte
sich die Erzählung des Geschädigten, sich verletzt Fühlenden, mit der Zeit gravierend ändern und die
anfängliche Diskrepanz zwischen dem Narrativ des Opfers und dem des Täters
wiche vielleicht einem lebbaren, weil emotional nicht mehr als Anfechtung
empfundenen aushaltbaren Nebeneinander der diversen Erzählungen.[24] Auch die Rolle der
Öffentlichkeit, die bestimmte Narrative über moralisch dubiose Fakten
favorisiert und gegen Kritik immunisiert und andere Erzählungen disqualifiziert
bzw. von vornherein tabuisiert, wäre in das unberechenbare, keiner
zielorientierten Strategie sich fügende Zusammenspiel der Narrative
einzubeziehen.
Nimmt man dies
alles in Betracht, wird verständlich, dass es interpersonell gar keinen
irgendwie ‚objektiven’ Maßstab für die Angemessenheit oder Unangemessenheit
eines Verzeihungsaktes geben kann. Wo eine Person nach gründlicher Prüfung der
Entlastungsargumente sich zur Verzeihung durchringt,
muss dies eine andere Person noch lange nicht tun. Die seelische Verfassung und
Betroffenheit ist eine andere, das Verletzungsempfinden auf Grund der eigenen
Geschichte und Erfahrung ist womöglich größer, die Sensibilität komplexer;
intensiver ist vielleicht auch die Reflexion darauf, was der Verzeihungsakt in
seinem gesellschaftlichen Ausstrahlungscharakter in der allgemeinen Beachtung
von Recht und Gesetz für Spuren hinterlassen wird. Auch unter solchen Auspizien
kann Verzeihung zum Durchbruch gelangen und mit einem Schlage die Szenerie des
‚Mit-Seins’ verändern und eine allgemeine, beispielsweise zur Revision von
Vorurteilen anregende Nachdenklichkeit auslösen. Aber es ist doch kaum
vorstellbar, dass dem nicht ein innerer Kampf mit Abwägung des Für und Wider
vorausginge. Die Selbst-Wahrnehmung ist jedenfalls alles andere als
verlässlich. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich auch, wie es dazu kommen kann,
dass ein Mensch gegebenenfalls zu irgendeinem späteren Zeitpunkt (womöglich aus
Ressentiment und Neid gegenüber einem erfolgreichen früheren Übeltäter) sogar
bereut, Verzeihung gewährt zu haben.[25]
Studien zeigen,
wie groß die Unterschiede sind zwischen der Selbstwahrnehmung als moralischer
Akteur, also im Modus der Vorstellung,
und der Wirklichkeit des Handelns. „Zwischen dem, was Menschen zu tun glauben,
wenn sie sich eine Situation vorstellen, und dem, was sie tatsächlich tun,
liegen Welten.“[26]
Zwischen der Vorstellung, wie man
sich als Geschädigter verhalten würde, und der faktischen Fähigkeit, in einer konkreten Situation der
Betroffenheit zu verzeihen, sind enorme Divergenzen zu verzeichnen. Allerdings
darf diese Beobachtung nicht zu skeptisch-defensiv eingeschätzt werden: Es ist
bezeugt, in welch eindrücklichem Maße Menschen in einer kritischen Situation
‚über sich hinauswachsen’ und alle einschränkend-handlungshemmenden Erwägungen
hinter sich lassen können. In der
Situation wachsen unvorhersehbar diese Kräfte zu, die den Impuls zu einer souveränen Daseinsäußerung[27] geben.
Mit den hier vorgebrachten
Überlegungen zur Situierung und Reichweite des ‚Geistes der Verzeihung‘ sollte
der weite Rahmen des vorliegenden Buches umrissen sein. Es liegt damit quer zu
den immer zahlreicher werdenden Studien vorwiegend aus dem englischen
Sprachbereich[28]
zum Thema „forgiveness“. Darin wird
analytisch scharf erörtert, worin genau das Verzeihen besteht, ob es sich dabei
auf Seiten des Opfers um die Überwindung eines Gefühls des Ressentiments handelt[29]
oder ob es um die Wiederherstellung verletzter Selbstachtung geht,[30]
und wie sich Verzeihen im eigentlichen Sinne etwa von einem
„Darüber-Hinweg-Sehen“ oder einem „nachsichtigen Entschuldigen“ unterscheidet.
In methodologischer Strenge ist man bemüht, einen quasi idealtypischen Begriff
vom Verzeihen zu konstruieren („complete forgiveness“).[31] Die Philosophie verfügt
dann mit solchen Konstruktionen über ein Messer, mit dem man die realen
Lebensvollzüge anschneiden kann – um festzustellen, dass im Grunde die meisten
Akte des Verzeihens nach dieser oder jener Hinsicht defizitär sind. Ein „richtiges“ oder „vollständiges“ Verzeihen
scheint dann im Leben nur ein
selten Ding zu sein.
Zu den
Selbstverständlichkeiten dieser Verzeihensdiskurse gehört es mittlerweile, das Entschuldigen streng von Verzeihen zu unterscheiden. Bei einem
solchen Verzeihensbegriff stehen
Absichtlichkeit und volle Verantwortlichkeit des Täters außer Frage, ebenso wie
das Urteil über die uneingeschränkte Verwerflichkeit der Tat. Voraussetzung für
Verzeihen ist also eine schuldhaft begangene Schädigung. Der Übeltäter muss für
sein Tun verantwortlich sein, er muss freiwillig
und absichtlich agiert haben und
um die Folgen seines Tuns gewusst haben. Ist dies nicht der Fall, geschah ein Vergehen
unabsichtlich, war man unwissend
hinsichtlich entscheidender Aspekte oder nicht im Vollbesitz seiner Kräfte,
blind aus Leidenschaft u.ä., so erscheint die Schuld als minder schwer und am
Ende kann sich der Schuldvorwurf sogar gänzlich verflüchtigen, selbst wenn der
Täter als Verursacher des Übels identifiziert ist. Wenn Entschuldigungsgründe
geltend gemacht werden, gilt dies einigen Theoretikern als Einschränkung der
Verantwortlichkeit und damit des Schuldvorwurfs.[32] Ohne Schuld aber braucht
nicht verziehen zu werden.[33] Damit ist angedeutet, was
immer wieder als ‚Paradox der Vergebung‘ bezeichnet wird, und was der Sache
nach in unterschiedlichen Varianten schon in der philosophischen Tradition
auftaucht: Wenn ‚entschuldigt‘ wird, braucht nicht mehr‚verziehen‘ zu werden. Der
radikale Verzeihensbegriff wäre demnach nur anzuwenden im Falle solcher
Vergehen, bei denen es keine Schuldermäßigung gibt und die als böse Taten ohne
Entschuldungsgründe verziehen werden.[34]
In der Tat ist dieses
(vermutlich höchst seltene) Verzeihen nicht gleichzusetzen mit jenen Vorgängen
der Nachsicht, die im zwischenmenschlich-alltäglichen Handeln dauernd
vorkommen. Aber auch dies ist dann zu folgern: Ganzen Epochen, wie z.B. der
Antike, müsste man dann nachsagen, sie hätten ein ‚Verzeihen’ im eigentlichen
Sinne gar nicht gekannt, sondern eben nur Haltungen und Akte, bei denen (vom
Übeltäter) Entschuldigungsgründe geltend gemacht werden, die darauf
hinauslaufen, die Tat nicht anzurechnen, so dass der Geschädigte sie dem Urheber
der Tat nachsieht.[35] Auch der Evangelist Lukas
(bzw. genauer seine Übersetzer) hätten korrekterweise für die Worte Jesu am
Kreuz eine passendere Übersetzung vorlegen sollen: statt „Vater vergib ihnen…“
müsste der Ausspruch lauten „Vater entschuldige
sie“, denn der Entlastungsgrund, warum sie nicht verantwortlich zu machen sind,
wird ja sogleich hinzugefügt: „denn sie wissen nicht, was sie tun.“[36]
Nun ist es gewiss richtig,
‚entschuldigen‘ begrifflich von
‚verzeihen‘ zu unterscheiden. Doch mit Blick auf das konkrete Leben drängt sich
die gründlich zu bedenkende Frage auf, ob es überhaupt einen Verzeihensvorgang
gibt, der die ‚Schuld‘ des anderen ohne
irgendwelche Entlastungs- oder Entschuldigungsgründe bestehen lässt. Gleiches
gilt für jene ‚Dritten’, die die Entlastungsargumentation hören und anerkennen,
obwohl man mit Verstand, also mit Fug und Recht, auch ganz anders optieren
könnte. Sofern wir als Betroffene uns dazu durchringen,
das Verzeihen dem Vergelten vorzuziehen, entschuldigen
wir die Handlungsweise des Übeltäters,
indem wir sie so interpretieren, dass
wir keinen Anlass mehr sehen oder empfinden, uns angegriffen zu fühlen (vgl.
dazu oben die Sichtweise, dies in der Form verschiedener Narrative zu
exemplifizieren). Das kann auch einfach heißen, dass wir uns entschließen, eine
anstößige Handlungsweise zu ‚übersehen‘. Dies fällt uns dann vergleichsweise
leicht, wenn wir ohnehin der betreffenden Situation gegenüber relativ
gleichgültig eingestellt sind, so dass sich ein Streit gar nicht lohnen würde.
Gravierender stellt sich der Fall dar, wenn es eines eigenen
Erklärungsaufwandes, einer Interpretationsanstrengung
bedarf, um die Schulddimension im betreffenden Vorgang zu verkleinern.
Ein Geschädigter oder Verletzter
wird – selbsttherapeutisch sozusagen – sich bemühen, nach
Ursachenbeschreibungen, nach Analysen der sozialen und psychischen Umstände zu
suchen, die ihn selbst davon überzeugen könnten, das Übel als geringer zu
veranschlagen als es ursprünglich und unmittelbar
nach der Tat erschien. Die Gründe, die von der Schwere der Schuld entlasten
sollen, sind freilich einzig und allein geeignet, im internen Prozess der
Selbstverständigung eine Umwandlung der Betroffenheit zu erreichen und den
ursprünglichen Impuls der Verzeihung vor der eigenen Ratio zu plausibilisieren
und zu verstärken.
Verzeihen
setzt sich damit geradezu zwangsläufig dem Generalverdacht aus, es befördere mittels Verharmlosung das stillschweigende oder explizite Einverständnis
mit krimineller Schuld oder auch durchschaubaren Entschuldungsstrategien der
Täter. Was ist – so lautet die kritische Anfrage – angesichts eines
ungeheuerlichen Vergehens, das wir eigentlich als unverzeihlich einstufen müssen, von einer unbedingten Bereitschaft
zur Verzeihung zu halten? Sind Bedenken so abwegig, die dem Verdacht Ausdruck
geben, da werde womöglich die Schwere der Tat nicht ernst, nicht gewichtig
genug genommen? Empörung über abwiegelnde Kommentierungen, die seitens des
Täters oder anderer ‚interessierter Kreise’ vorgebracht werden, ist oftmals
nachvollziehbar und berechtigt. Doch wenn das Opfer einer horrenden Untat für seine eigene Willensbildung und zur
Selbstrechtfertigung gegenüber anderen, die unversöhnlich sind und eine
dauerhafte Aufrechterhaltung von Schuldvorwürfen befürworten, nach
Beschreibungen und ‚Gründen’ sucht,
die das Geschehene oder die schrecklichen Täter in einem etwas milderen Licht
dastehen lassen – anders gesagt: Gründe, die das extreme Böse als ‚normales’
Böse auffassbar machen, um die Verletzung besser bewältigen zu können, liefert
solche subjektive Urteilsbildung doch niemandem die Rechtfertigung einer Tat (und schon gar nicht ‚erspart’ sie deren
juristische Sanktionierung). Insofern kommt es immer darauf an, wer entschuldigende Gründe vorbringt.
Der Täter selbst? Die an
‚Bewältigung’ der Vergangenheit und Bevorzugung der Zukunft interessierte
Öffentlichkeit? Oder das Opfer, das zur Deeskalierung der Schuld-Vorwürfe
beiträgt und doch durch sein Zeugnis
und seinen Beitrag zum öffentlichen Erinnern an menschenverachtendes Tun die
Wunde offen hält. Wenn Täter zu ihrer
Selbstentschuldung Entlastungsgründe vorbringen, so steht immer der Verdacht im Raume, dass eine Übeltat ‚weggewischt‘ werden
soll. Ringt sich hingegen ein Opfer zu einer Haltung durch, dem Täter zu
verzeihen, so kann die Beurteilung dieser Handlung der ‚Selbstrettung‘ wiederum
nur jenseits einer moralischen Bewertung ansetzen. Wenn man Nachsicht walten lässt, gibt man einer
Handlung ganz bewusst ein geringeres moralisches Gewicht als es in der
Perspektive unbeteiligter bzw. unparteiischer Dritter angezeigt wäre.
Nachsicht
ist in sich eine abgeschwächte Form
des Verzeihens. Nachsicht ist einerseitszu verstehen als Manifestation eines verzeihenden Geistes anlässlich
eher belangloser Verfehlungen und Karambolagen; andererseits kennzeichnet der
Begriff jene Haltung der Gesellschaft, der Öffentlichkeit, ganz allgemein:
Dritter, die zwar nicht das Recht haben, ohne Rückbindung an die Opfer dem
Übeltäter zu verzeihen, die aber sehr wohl den Anspruch erheben können, einen
Tatzusammenhang im Rückblick neu zu bewerten und gegebenenfalls für ein
gesellschaftliches Klima der Nachsicht
einzutreten. Spannungen im Verhältnis zu der Sicht- und Beurteilungsweise der
betroffenen Opfer lassen sich in solchen Prozessen nicht ausschließen. Ihnen
hätte die Gesellschaft dadurch entgegenzukommen, dass sie – die Differenz von Person und Tat geltend
machend – den Unrechtscharakter der Tat kompromisslos deklariert und sich
Verharmlosungen nicht zuschulden kommen lässt.
Ein Verdacht (geäußert von
Hegel und Nietzsche) ist allemal nicht von der Hand zu weisen: die verzeihende
Person wolle mit ihrer Verzeihungsbereitschaft womöglich der Konfrontation mit
dem Bösen lieber ausweichen. Nur muss man hier auch die Frage stellen, wer (mit
welchem Recht) befugt ist, eine Schwäche
des Opfers auszumachen. Es hat etwas Beklemmendes, wenn Leute sich anmaßen, von
außen zu beurteilen, wann ein Opfer in seiner Verzeihungsbereitschaft unter das
Niveau seiner Selbstachtung sinkt. Kann sich doch die Entscheidung einer
betroffenen Person, einen an sich verwerflichen Sachverhalt in einem
günstigeren Licht darzustellen, als nach ‚allgemeiner’ Überzeugung angebracht
wäre, der Klugheit verdanken, die den kontraproduktiven
Effekt von moralischen Vorhaltungen im Ich-Du-Verhältnis einzuschätzen und
zu vermeiden weiß; nicht auszuschließen ist, dass sie es für ausreichend hält,
wenn im öffentlichen Diskurs der Unrechtscharakter solcher Taten ohne
Abschwächung immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Es ist dann Sache der
Gewissenskultur des Täters, ob er sein Verhalten in diesen Standards spiegelt.
Gewissheiten gibt es schließlich in solchen Fällen nicht.
Ein anderes Licht fällt
allerdings auf diese Vorgänge, wenn in der Öffentlichkeit einer demokratischen
Gesellschaft Tendenzen zur Verharmlosung schlimmer Vergehen, zu denen z.B.
staatliche Organe einst anstifteten, sich vernehmbar artikulieren. In dieser Konstellation muss es das
Anliegen des Opfers – wenn es denn stark genug dazu ist – sein, gegenläufig zu
dieser Art von Öffentlicher Meinung das Unrecht und auch den einzelnen Täter,
sofern er sich vor der Verantwortungsübernahme drückt, klar zu benennen.
Für die Kultivierung humaner
Lebensverhältnisse ist es jedenfalls erforderlich, auch darüber abwägend zu
befinden, ob ein explizites Verzeihen oder schwächere Formen wie Nachsicht oder
gar leichte Verharmlosungen situationsangemessen sind. Denn was schließlich
erreicht werden soll, ist die Sinnesänderung des Täters, seine Reintegration in
das kommunikative und das gesellschaftliche Leben bei gleichzeitiger
Bestätigung und Bestärkung der normativen Standards in den Systemen Moral und
Recht.
Vorblick
Eingangs war davon die Rede,
dass das Thema ‚Verzeihung’ in der Geschichte der Philosophie lange Zeit
unterbelichtet geblieben ist. Das änderte sich allerdings im 20. Jahrhundert.
Bereits die frühen Phänomenologen wie Reinach und Scheler haben Analysen zum
Verzeihen ausgearbeitet, doch diese Impulse beeinflussten noch nicht nachhaltig
den ethischen Diskurs. Mit Hannah Arendts Überlegungen, insbesondere denen in Vita activa,[37] verhält es sich schon
anders. Sie rückt das Verzeihen, in Verbindung mit dem Versprechen, in die Funktion eines ethischen Grund-Begriffs und hat
damit wirkungsvoll Akzente gesetzt. Wer sich nun prominent des Themas annahm,
wertete Arendts Insistieren als Durchbruch zu einer Theorie des Verzeihens.
Dabei ist auffällig, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
überwiegend jüdische Autoren sind, die das Verzeihungsthema für unumgänglich
halten.
Es kann nur der Schärfung des
Problembewusstseins dienen, auch solche Stimmen der Philosophie zur Kenntnis zu
bringen, die entschieden Einspruch gegen eine zu starke Zentrierung des Ethos
auf das Verzeihen einlegen. Auffällig sind aber auch die Leerstellen: Der
Analytiker des ‚Daseins’ und ‚Mitseins’ Martin Heidegger schweigt sich über das
Verzeihen aus. Jürgen Habermas, der bekannteste lebende deutsche Philosoph, hat
es bei der Entfaltung seiner Diskursethik
bislang ebenfalls vermieden, explizit und mit Gewicht auf die Konstellation
Schuld-Verzeihen einzugehen, doch die ‚Systemstelle’, an der der
Verzeihungsdiskurs zu integrieren wäre, lässt sich ausfindig machen. Habermas’
Antipode in der Sozialwissenschaft, Niklas Luhmann, hat sich, indem er „Liebe
als Passion“ bedachte, einer Theorie des Verzeihens stark angenähert.
So vielfältig wie im 20.
Jahrhundert wurde in der Philosophie noch nie das Verzeihen thematisiert und
umkreist. Allein in den letzten Jahrzehnt hat man in der Philosophie (von der
unüberschaubar gewordenen psychologischen Literatur zumal in Amerika ganz zu
schweigen) begonnen, in einer Fülle von Aufsätzen und Büchern das Feld
rational-systematisch zu kartographieren. So lässt sich sagen: eine Theorie der Verzeihung steht immer noch in
den Anfängen.
Für dieses Buch bedeutet das,
die Üblichkeiten der chronologischer Darstellung umzukehren und mit der
Rekonstruktion der verzeihungsphilosophischen Ansätze im 20. Jh. zu beginnen,
um dann, sensibilisiert für die Facetten des Problems, rückwärts in den Brunnen
der Geschichte zu steigen. Diese umgekehrt-chronologische Vorgehensweise lässt
dem Leser aber durchaus die Freiheit, seiner spezifischen Interessenausrichtung
zu folgen, also chronologisch anders einzusteigen oder auch die zu
Kontrastzwecken rekonstruierten Theorien der hier so genannten ‚gnadenlosen’
Denker ganz zu überspringen.
In der Konfiguration neuzeitlicher Philosophie (Teil II) erweitert
sich zusehends der Problemhorizont. Die Anregungen der schottischen
Moralphilosophie und die ambivalenten spekulativen Systemkonstruktionen der klassischen
Deutschen Philosophie liegen auf sehr unterschiedlichen Theorie-Ebenen. Ein
Schwanken zwischen prinzipiell gnadenlosem Denken und notgedrungen vorgebrachten, eher beiläufigen Einräumungen der
Angewiesenheit auf Verzeihung ist unübersehbar. Kant ist hier das sprechendste
Beispiel für diesen Zwiespalt. Andere, wie Fichte oder Schelling, geraten in
diesen Zwiespalt erst gar nicht, weil sie von ihren Prämissen her in ein
verzeihungsresistentes Denken einmünden. Auf der Linie Jacobi-Hegel-Kierkegaard
werden jedoch Einsichten eröffnet, auf die auch eine gegenwärtige Reflexion mit Gewinn zurückgreifen kann.
In der Antike (Teil III) wird
der unverbrüchliche Zusammenhang von Schuld und Zurechenbarkeit des Handelns
zugrunde gelegt. Doch die Blickrichtung für den Verzeihensvorgang ist umgekehrt
zu der heutigen: Nur wenn eine Tat nicht
schuldhaft und ohne Absicht erfolgt
ist, wird Nachsicht geübt, wird sie ‚verziehen‘. Dieser Geist der
Nachsichtigkeit, Nachgiebigkeit und Entschuldungsbereitschaft bricht sich Bahn
in Mythos, Rechtskultur und Philosophie.
Vom Geist der Verzeihung im Christentum handelt
Teil IV. Der jesuanische Impuls zu einem unbedingten Vergeben stellt alles in
den Schatten, was bisher an Praxis des Verzeihens gewollt und im Ethos
eingelebt wurde. Doch schon sehr früh in der Christentumsgeschichte und in der
theologischen Deutung dessen, was Jesus für das Heil der Menschen bedeutet,
verlagerten sich die Gewichte. Ein unnachsichtiges Wahrheitsbewußtsein
bemächtigte sich dieser ‚Botschaft’ und die Häresie-Verdächtigung durchdrang
als Konstante eines Freund-Feind-Denkens Theorie und innerchristliche Praxis.
Der Kirchenvater Augustinus war mit seiner Gnadenlehre in dieser Hinsicht tonangebend.
Auch bedeutende andere Theologen des frühen Christentums hatten die
Weichenstellung vorgenommen, die Unterscheidung verzeihlich-unverzeihlich von der Ebene der Beurteilung des Handelns (wo sie in griechischer
Philosophie ihren Ort hatte) auf die Ebene des Doktrinalen zu verlagern: Wer
auf der Suche nach der Wahrheit seines Glaubens von der immer umstrittenen,
aber doch jeweils autorisierten Lehre der Kirche abwich, konnte als Feind
Gottes behandelt, und das heißt, vernichtet werden. So blieb das
zwischen-menschliche Verzeihen auf der Strecke.
Die Erfindung der Beichte als das große Instrument der
kirchlichen Verwaltung göttlicher Vergebung und ihrer Zusage durchzieht die
christliche Geschichte in vielen historischen Varianten. Im Ablass findet die Gnadenbürokratie ihren
exzessivsten Ausdruck. An einigen Beispielen leichtfertiger priesterlicher Absolution wird der Frage
nachgegangen, ob ein Sakramentsverständnis tolerabel ist, welches sich in
völliger Gleichgültigkeit gegenüber einem ernsthaften lebensweltlichen
Minimal-Ethos (neminem laede/verletze
niemanden) und den moralisch-politischen Standards rechtsstaatlicher Ordnung
vollzieht. Der im Laufe der Säkularisierung und auch der Evolution des
christlichen Bewusstseins sich abzeichnende schleichende Bedeutungsverlust der ‚Beichte’
hat keineswegs auch das Bedürfnis verdampfen lassen, in der Hoffnung auf
Erleichterung vom Gewissensdruck Schuld gegenüber einem Du oder gar der
Öffentlichkeit zu bekennen. Von Montaigne über Rousseau und Goethe bis zu Camus
und Wittgenstein wird eine Kultur der „Bekenntnisse“ extra ecclesiam sichtbar, die teilweise skurrile Züge annimmt.
In den Bedarfslagen einer
noch weiter fortgeschrittenen Emanzpationsgeschichte treibt der kulturelle
Prozess der Ausdifferenzierung der Gesellschaft neue Institutionen zur
Bewältigung individueller Schuld und Schuldverdrängung hervor: Psychoanalyse und Psychotherapie im
weiteren Sinne (Teil V). In Kenntnis der Kontroversen in den Fragestellungen
der frühen psychoanalytischen Schulen, die ja um die Aufdeckung unbewußter Triebstrukturen kreisten –
und wohl auch: in Kenntnis der Persönlichkeiten ihrer Hauptvertreter wie
Sigmund Freud – erstaunt es nicht, dass das Thema zwischenmenschlicher
Verzeihung zunächst keine Rolle spielte. Es bedurfte eines langen und sehr
kontroversen Prozesses der Selbstklärung, bis, zögerlich und tastend,
Analytiker und Psychotherapeuten der Vorstellung sich öffneten, dass es auch in
den Therapieprozessen um Aussöhnung geht, und das heisst nicht nur, im üblich
gewordenen Sprachgebrauch, ‚Versöhnung mit sich selbst’, sondern auch
Versöhnung[38]
mit einem Anderen, dessen Verletzung das Ich innerpsychisch nachhaltig
verknotet. Es war Julia Kristeva, die besonders nachdrücklich dafür plädiert
hat, den Begriff ‚Verzeihung’ innerhalb des Arsenals daseinshermeneutischer
Schlüsselbegriffe nicht länger zu marginalisieren.
Die zentrale Institution der
Gesellschaft, Normen des Zusammenlebens durchzusetzen und deren Verletzung zu
sanktionieren, ist das Recht (Teil
VI), sein vorrangiges Mittel die Strafe. Indessen, seit der Antike und ihrer
Lehre von der Billigkeit (Epikie, Aequitas,) gibt es korrelativ zur Logik des
Strafens diverse Ausformungen einer Praxis der Gnade. Dieser Begriff – alltagssprachlich weit gefasst (siehe:
„gnadenlose“ Denker …) – wird, zusammen mit Begnadigung,
terminologisch-institutionell recht spezifisch eingegrenzt und an jene
Ordnungen gebunden, die die Wahrung der Integrität normativer Regelsysteme zu ihrem
Zweck haben: das Recht (siehe: Gnadenrecht),
aber auch – spezifischer oder weiter ausgreifend: – Gott. Geläufig gehört in
dieses Feld die Amnestie, aber auch die Begnadigung im Einzelfall. Der
Rechtsstaat integriert die Suche nach Entlastungsgründen und strafmindernden
‚Umständen’ in das Gerichtsverfahren. Er weitet bei bestimmten Delikten das
Verfahren bis zum sog. Täter-Opfer-Ausgleich aus, so dass im Grenzfall ein
direktes Verzeihen des Opfers und eine Entschuldung des Täters resultieren
können. Darüber hinaus behält der Souverän die Prärogative, nach einem Richterspruch in einem
außer-ordentlichen Akt Gnade walten zu lassen.
* **
Das vielfältige Netzwerk von
Profilierungsversuchen, den Akt und die Einstellung des Verzeihens theoretisch zu erfassen und dabei die
kulturellen und politischen Randbedingungen nicht zu vernachlässigen, ist
hoch-komplex. Doch das konkrete
‚nichtidentische’ Leben des Einzelnen – sein Betroffensein von Schuld und
die Versuche, das Unheil durch Verzeihung zu überwinden – übertrifft alle Theorie. Das zu verdeutlichen ist Anliegen der
Dokumentation im Anhang.
Keineswegs ist diese
Dokumentation der individuellen Wagnisse, nach finstersten lebensgefährlichen
Zeiten am schwachen Abglanz eines Geistes der Nachsicht und Verzeihung
festzuhalten, ein Beleg für die Theorie. Vielmehr übersteigt das gelebte
Zeugnis, welches nach Maßstäben eines
theoretisch erarbeiteten Idealtyps
von Verzeihen immer höchst unvollkommen und
ambivalent ausfällt, an suggestiver wie an Widerspruch und Unbehagen
auslösender Kraft alles, was denkend
antizipierbar ist. Insofern sieht sich der Leser hier stärker noch als durch
die Theorie-Arbeit des Buches in die Unruhe schlechthin eigener Urteilsbildung versetzt, und zwar – anders als im Gehäuse
der Reflexion – unausweichlich.
[1]
So hatte ich es bereits formuliert in Annäherungen
an eine Theorie des Verzeihens. Abhandlung der Akademie der Wissenschaften
und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jg. 2006,
Heft 8, S. 31.
[2]
Vgl. Klaus-M. Kodalle, „Vergebung oder Nachsicht? Klärung des Phänomens
öffentlicher Entschuldigung“, in: Berliner
Theologische Zeitschrift, Beiheft 2013, hrsg. v. N. Slenczka.
[3]
Im Deutschen besteht die Besonderheit,
zwei Ausdrücke unterschiedlicher Herkunft zur Verfügung zu haben: ‚Verzeihung‘
und ‚Vergebung‘ werden im alltäglichen und allgemeinen Sprachgebrauch in der
Regel mit identischem Sinn verwendet; allerdings wird in der Theologie das
Wort „Vergebung“ bevorzugt. Versuche, ‚Verzeihung‘
und ‚Vergebung’ semantisch zu
unterscheiden, etwa indem man ‚Verzeihung’ für die zwischenmenschlichen
Beziehungen verwendet, ‚Vergebung’ hingegen dem Gottesverhältnisvorbehält,
haben sich allgemein nicht durchsetzen
können.
[4]
Vgl.Kodalle,Annäherungen, a.a.O., S.
9f.; dort wird die Verwendung des Begriffs „Geist“ ausführlich gerechtfertigt. Als
ich fand, diese Wendung sei ein passender Ausdruck für meine Bemühungen, war
mir nicht bewusst, dass bereits Joseph Butler, der Archeget des
Verzeihensdiskurses in der Neuzeit, den „spirit of forgiveness“ beschworen hat.
Siehe dazu unten Kapitel II. 1.
[5]
Georg Lohmann, „Verzeihen“, in: Die
Ausnahme denken. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus-M. Kodalle, hrsg.
v. C. Dierksmeier, Würzburg 2003, Bd.1, S. 193-202; hier: S. 194.
[6]
Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen.
Versuch über Ethik, Stuttgart 21990, S. 239-254; hier: S. 240.
[7] Vgl. Vladimir Jankélévitch, Le Pardon, Paris 1967.
[8]
Vgl. zu diesem Gesamtkomplex Helmut Fleischer, Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins,
Frankfurt/M. 1987.
[9]
Spaemann, a.a.O., S. 241.
[10]
Ebd., S. 242.
[11]
Ebd., S. 235; vgl. S. 250f.
[12]
Vgl. unten Kap. II. 1 die Ausführungen zu Hutcheson und Butler.
[13]
Lohmann, a.a.O., S. 195.
[14]
So Thomas Dürr, Hannah Arendts Begriff
des Verzeihens, Freiburg 2009, S. 336ff. Diese Arbeit bietet nicht nur eine
Darstellung der Ansätze Arendts, sondern für eine theoretische
Auseinandersetzung mit Verzeihung überhaupt einen umsichtigen und
differenzierten Überblick.
[15]Anthony Bash, Forgiveness and Christian Ethics,
Cambridge 2007, S. 78: „Notwithstanding that the idea of unconditional forgiveness is
difficult to defend from pragmatic, practical and philosophical point of view,
most people still believe that to forgive unconditionally is a moral good and
sometimes represents what is noble and virtuous in human beings.”
[16] Zu unconditional forgiveness vgl. z.B. einige Beiträge in: The Ethics of forgiveness. A collection of
Essays, hrsg. v. Ch. Fricke, New York 2011.
[17]
Thomas Macho, „Fragment über die Verzeihung“, in: Zeitmitschrift. Journal für Ästhetik, Düsseldorf 1988, S. 135-145,
bes. S. 137-139.
[18]
Vgl. Karin Scheiber, Vergebung. Eine
systematisch-theologische Untersuchung [Religion in Philosophy and
Theology, hrsg. v. I. U. Dalferth, Band 21], Tübingen 2006, Kapitel 5:
Sprechakt, S. 163-218; Scheiber hat diese Theorien, ihre Rezipienten und
Kritiker, für das Thema Verzeihung gründlich aufgearbeitet. Ich verweise
besonders auf die Analyse der Bedingungen des Gelingens oder Misslingens von
Verzeihensakten, die auf einen weiteren als den sprachlichen Rahmen übertragbar
ist.
[19] Ebd., S. 191.
[20] So Jeffrie G. Murphy, Getting even. Forgiveness and its Limits, Oxford 2005;
Ders., Punishment and the Moral Emotions,
Oxford 2012, der die moralische Priorisierung von Verzeihung gegenüber den
„sanktionierenden Emotionen“ grundsätzlich kritisiert. Die Positionen von Pflicht
oder sogar „Verbot“ von Verzeihung wägt argumentativ ab in Berücksichtigung der
zahlreichen englischen Stimmen dazu: Oliver Hallich, Can the Paradox of
forgiveness be solved, in: Ethical Theory
and Moral Practice. An international Forum.1/ 2013 (e-journal). Er kommt zu
dem Ergebnis, dass weder eine Pflicht zur Verzeihung, noch eine Pflicht nicht zu verzeihen, mit guten Gründen
vertreten werden kann.
[21]
Siehe dazu die ausführliche Dokumentation im Anhang dieses Buches.
[22]
Lohmann, a.a.O., S. 200.
[23] Charles L. Grisholm, Forgiveness. A Philosophical
Exploration, Cambridge
2007, S. 98-110.
[24] Ebd., S. 105; vgl. S.
70:„Forgiveness rests in part, I argued above, on trust that the projected
narratives about the offender, as well as oneself, will become true.”
[25]
Im Neuen Testament gibt es das Gleichnis vom sog. „Schalksknecht“; es erzählt
davon, dass Gott selbst im Zorn über das mitleidlose Verhalten eines Menschen
die bereits gewährte Vergebung widerruft (siehe dazu Kap. IV. 3.a).
[26]
Manuela Lenzen in einer Besprechung einschlägiger Untersuchungen „Wir sind immer besser – oder manchmal
schlechter“, in: F.A.Z. vom 9.
Mai 2012, S. N4. Die Rezensentin bezieht sich u.a. auf die folgenden Studien
von Forschergruppen: „What we say and what we do: the relationship between real
and hypothetical moral choices“, in: Cognition. International Journal of cognitive science, 123,
2012, S. 434-441; „Are we more moral than we think? Exploring the role of affect
in moral behaviour and moral forecasting“. Psychological Science, Bd. 22, 2011.
[27]
Dieser Ausdruck wird von K. E. Løgstrup (siehe Kapitel I. 7.) in seiner Ethik
zentral verwendet.
[28]
Im französischen Sprachbereich bleibt
die Diskussion des Themas weitgehend im Rahmen der Vorgaben von Ricoeur,
Derrida, Jankélévitch oder Kristeva, deren Texte hier in diesem Buch
ausführlich behandelt werden. (Die umfangreiche, in Bindung an die katholische
Tradition abgefasste Studie von Alain Gouhier, Pour une Métaphysique du Pardon, Paris 1969, blieb weitgehend ohne
Resonanz in der Philosophie.)
[29]
An Butlers Wendung „to overcome resentment“ schließen die meisten angelsächsischen
Autoren an, auch wenn sie selbstverständlich dessen Konzept erweitern und
präzisieren.
[30] Jeffrie G. Murphy/Jean
Hampton, Forgiveness and Mercy,
Cambridge 1988. Die
beiden Autoren gehen von diesen beiden unterschiedlichen Voraussetzungen aus
und haben die Kapitel des Buches abwechselnd verfasst, so dass der Leser auf
diese Weise in ein fruchtbares Gespräch über den Vorgang, die Bedingungen und
die Grenzen des Verzeihens hineingezogen wird.
[31] Vgl. Grisholm, a.a.O., S. 113ff.: Kapitel
“Imperfect forgiveness”.
[32]
John Austin gab mit seiner für die Handlungstheorie und
Ordinary-Language-Philosophy einflussreichen Untersuchung, inwiefern geäußerte
Entschuldigungen Einschränkungen der Verantwortlichkeit und letztlich Freiheit
des Menschen implizieren, starke Impulse auch für die Diskussion von
Determinismus und Willensfreiheit und der Differenzierung des Vokabulars von
Freiwilligkeit und Absichtlichkeit: John L. Austin, „A plea for excuses“, in: Proceedings of the Aristotelian Society
57, 1956/57, S.1-30; deutsch: „Ein Plädoyer für Entschuldigungen“, in: Analytische Handlungstheorie, hrsg. v. G.
Meggle, Bd. 1, S. 8-42.
[33] David Kostan, Before Forgiveness. The Origins of a Moral
Idea, Cambridge 2012, S. 28: “truly involuntary acts do not count as
instances of wrongdoing but rather are innocent“.
[34]
Ebd., S. 91-145, bes. S. 91ff. Kostan setzt den radikalen eigentlichen
Verzeihensbegriff sogar erst in der Neuzeit an, nämlich erst nach der
Herausbildung des neuzeitlichen Subjektivitätsverständnisses. Er spricht somit
auch der christlichen Lehre ab, wirklich vom “Verzeihen” im strengsten Sinne
des Wortes zu handeln.
[35]
Jacqueline de Romilly, La douceur dans la
Pensée grecque, Paris 1979, führt dies in dem Kapitel zur Verzeihung aus.
Mit „indulgence“ und „douceur“ zeigt sie eine humane Haltung bei den Griechen
auf, die die Tugenden von Großmut, Nachsichtigkeit und Takt, eben den von mir
so bezeichneten ‚Geist der Verzeihung‘, unter ‚Gleichen‘ hervorhebt. Zur
Verbindung von ‚Nachsicht‘ mit ‚Nichtzurechenbarkeit‘ siehe die Ausführungen
zur Antike unten in Teil III., besonders die Kap. 5. und 6.
[36] Murphy, in: Hampton/Murphy, a.a.O.,
S. 20: “’Father forgive them for they know not what they do’ would go better as
‘Father excuse them for they know not
what they do.’” Zu dem ‚Paradox’ dieser Vergebungsbitte Jesu am Kreuz
siehe ausführlicher unten Kapitel IV. 3.b).
[37]
Auf Englisch unter dem Titel The Human
Condition bereits 1958 erschienen, deutsch 1960.
[38]
Inwiefern Verzeihung Bedingung von Versöhnung ist, untersucht Elisabeth
Seidler, „Versöhnung“, in: Freiburger
Zeitschrift für Theologie und Philosophie 42, 1995, S. 5-48, anhand der
Untersuchungen von Joram Graf Haber, Forgiveness,
Savage/Maryland 1991, sowie Hampton/Murphy, a.a.O.
Inhaltsverzeichnis
Klaus-Michael Kodalle
Verzeihung
denken -Die
verkannte Grundlage humaner Verhältnisse
Einleitung:Annäherungen an eine Theorie der Verzeihung
I.
Vom Hintergrund ins Zentrum: Philosophie
des Verzeihensim
20. Jahrhundert
Literarischer Auftakt:
Camus
1. Zugänge zum Verzeihen: Hannah Arendt
2. Theorie des Pardon – Praxis der Verweigerung des Pardon:
Vladimir Jankélévitch
3. Vergebung als „das eigentliche Werk der Zeit“: Emmanuel
Levinas
4. Mut zum Paradox – Verzeihen des Unverzeihlichen: Jacques
Derrida
5. Verzeihen aus der Logik der Überfülle: Paul Ricœur
6. Verzeihung und die unaufhebbare metaphysische Schuld:
Karl Jaspers
7. Verzeihen als souveräne Daseinsäußerung: Knut Ejler
Lögstrup
8.
Überforderung und Verzeihung: Albert Schweitzer
9.Entschiedener
Einspruch gegen den philosophischen Verzeihungsdiskurs: Nicolai Hartmannund Walter Kaufmann
10.Extra-ordinäre
Akte: Die Erkundungen der Phänomenologie: Adolf Reinach – Dietrich von
Hildebrand – Max Scheler
11. Martin Heideggers Selbst-Entmündigung: Der Philosoph als
Opfer des Seynsgeschicks
12. Die Unnachsichtigkeit
des moralischen Blicks:Jürgen Habermas
13. Wider den rationalistischen Reduktionismus in der
Moralphilosophie: Bernard Williams
14. Das Ethos der
Grazie und Leichtigkeit: Helmuth Plessner
II. An den Rändern der Systeme: Verzeihung
in der Philosophie der Neuzeit
1. Selbstliebe und Wohlwollen: Die britischen
Moralphilosophen.
Francis Hutcheson – Joseph Butler – Adam
Smith – David Hume
2. Immanuel Kant – ein gnadenloser Denker?
3. Gnadenlose Denker in der Nachfolge Kants: Fichte –
Schelling - Schopenhauer
4. Die Liebe als Tochter des Verzeihens: Franz von Baader
5. Verzeihung – als Gegenwart des Absoluten Geistes: Georg
Wilhelm Friedrich Hegel
6. Verzeihen – ohne zu vergessen, oder: Amnemosyne und
Anamnesis: Johann Eduard Erdmann
7. Der verzeihende Blick: Sören Kierkegaard
8. Verzeihung im Kraftfeld des Stolzes: Friedrich Nietzsche
III. Jenseits des
Vergeltungsdenkens: Nachsicht und Schuldentlastung in der Antike
1.Rache
und Vergeltung
2.Wider
den Starrsinn: Nachgiebigkeit und Nachsicht in der Tragödie
3.Verzeihung
in philosophischer Erzählung: Platon und Xenophon
4.Freiwillig
oder unfreiwillig? Entschuldungsgründe vor Gericht
5.Platons
Sokrates: Niemand tut wissentlich Unrecht
6.Aristotelesund die verschiedenen Arten entschuldigt zu werden
7.Nachsichtigkeit und die Ansprüche des Rechts.
Über Billigkeit (Epikie)bei
Aristoteles
IV: Der Geist der
Verzeihung und sein Schicksal im Christentum
1. Die christliche Innovation
2. Ein Blick zur Seite: Verzeihung in der hebräischen Bibel
3.
Jesus von Nazareth und die Vergebung der Sünde.
a) Biblische Aufschlüsse
b) Folter und Kreuzigung – Denn
sie wussten nicht, was sie tun
c) Kreuz und ‚Heilsplan‘. Die theologische
Bewältigung des Jesuanischen Impulses in der Dogmatik
4. Erbsünde und Göttliche Gnadenwahl – Verzeihung ohne Sinn und
Verstand bei Augustinus
5. Das Unverzeihliche im Blick: der ständige Häresie-Verdacht
6. Unwissenheit als
Entschuldungsgrund? Der Streit zwischen Intellektualismus und Voluntarismus in
der mittelalterlichen Philosophie
7. Beichte und Ablass
a)
Entstehungsgeschichte – Das Ringen um die Privilegierung des Amtes
b) Luthers Verständnis der Beichte und die Entwicklung des
Beicht-Instituts imProtestantismus
c) Das Problem der „billigen
Gnade“: Luthers Auseinandersetzung mit dem Ablass
d) Der Ablass in der Gegenwart
e) Bußsakrament und leichtfertiges Verzeihen
- Ein historisches Beispiel. Die Jesuiten im 17. Jahrhundert
- Ein aktuelles Beispiel: die Mafia und ihre
dienstbaren Priester
f) Beichte ohne Priester: Bekenntnisse im Prozess säkularer
Selbst-Prüfung. Petrarca – Montaigne – Rousseau – Goethe – Wittgenstein – Camus
V. Versöhnung durch
Arbeit am Unbewussten? Verzeihen in Psychoanalyse und Psychotherapie
1. Einleitung: Psychoanalyse als Beicht-Ersatz? Die
Abwehrgesten der Therapeuten
2. Wiedergutmachung – ein
Grundbegriff bei Melanie Klein
3. Julia Kristevas Plädoyer für
Verzeihung
4. Unfähigkeit zu trauern? Tilman Mosers radikale Kritik
VI.Gnade im Rechtsstaat
ANHANG
Verzeihung LEBEN: Das ‚Unverzeihliche‘ und das Ringen um
Nachsicht
Eine Dokumentation.
1. Die Menschheit nach dem Holocaust:
Eschatologische und mythische Deutungen der Schuld-Verstrickung (Wiesel –
Blumenberg – Jonas - Nozick – Nelson)
2. Der hassüberwindende Blick: Individuelle Zeugnisse
und Selbstprüfungen (Jonas
- Arendt/Tillich - Todorov - Hessel - Frankl - Klüger - Anni
Kraus - Mozes Kor - Wiesenthal )
3. Zwischen Verstocktheit und Selbstentschuldung(Höss – Speer- Schmitt/Taubes)
4. Erdichtete Verzeihung. Opfer und Dichter und die richtende
Öffentlichkeit im Streit um Authentizität. Der Fall Wolfgang Koeppen
Über den Autor:
Klaus-M. Kodalle (*1943) hatte bis 1992 eine Professur in Hamburg inne und lehrte danach Philosophie an der Universität Jena. Veröffentlichungen zur Politischen Philosophie, Ethik, Religionsphilosophie. – Die Erfahrung des Umgangs mit Schuld im wiedervereinigten Deutschland wurde damals zum Auslöser, Verzeihung als Kategorie des politischen Ethos zu erfassen. In der Folgezeit erarbeitete der Autor ein umfassenderes Verständnis für den Facettenreichtum des Verzeihens.
Die Rechte liegen beim Wilhelm Fink Verlag.Die Einführung finden Sie im Buch auf den Seiten 9-29.
Klaus M. Kodalle, Verzeihung denken - Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, 487 Seiten, Wilhelm Fink Verlag; Auflage: 1., Aufl. 2013 (18. September 2013), Preis: 49, 90 Euro
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