Erschienen in Ausgabe: No 95 (01/2014) | Letzte Änderung: 21.12.13 |
von Karim Akerma
Gandhi (1869–1948) gilt als geistiger und praktischer Vater des modernen
Indien, der bislang einzigen Milliardendemokratie der Welt. Doch denken
viele der mit Multifunktionstelefon und eigenem Auto ausgerüsteten
Mittelstandsinder der Gegenwart mit gemischten Gefühlen an ihn zurück.
Denn er leistete nicht nur den britischen Kolonialherren Widerstand: Der
magere Mann mit dem Spinnrad rief auch zum Widerstand gegen eine
Vereinnahmung spiritueller menschlicher Belange durch westliche Technik
auf. So sprach er sich 1940 nicht nur gegen Methoden künstlicher
Befruchtung aus – der aus seiner damaligen Sicht nur Idioten oder
Monster entspringen könnten–, sondern insgesamt gegen ein Zeitalter, das
er heraufziehen sah, „in dem Menschen nur noch zum Vergnügen zu Fuß
gehen, sofern sie es überhaupt tun, und mit dem Wagen oder Flugzeug zur
Arbeit gelangen.“ (Gandhis Werke, Bd. 78: 23 FEBRUARY, 1940–JULY, 1940,
S. 341f) Und tatsächlich wurde in London bereits seit den 1940er Jahren
eine Fruchtbarkeitsklinik betrieben (siehe:
http://www.welt.de/vermischtes/article106164248/Oesterreicher-zeugte-offenbar-600-Kinder.html),
deren Methoden und Ergebnisse ihm nicht zusagen konnten, da ihm die
Fortpflanzung – wenn sie schon stattfinden musste – allein in ehelichem
Rahmen zulässig schien.
Wie wäre Gandhi im heutigen Indien – und in
der Welt – angesehen, wenn man sein bevölkerungsethisches Ideal zur
Kenntnis nähme? Anders als man leicht vermuten könnte, läuft dieses
Ideal nicht auf eine Ein-Kind-Politik nach chinesischem Vorbild hinaus.
Auch lautet es nicht auf „So viele Menschen, wie das Land ernähren
kann.“ Der Vater des modernen Indien hatte keine sich nach Millionen
bemessende Obergrenze im Sinn. Die ihm vorschwebende Menschenzahl
entspricht der Nirwana-Ziffer, mit der man offenbar erstmals in Indien
rechnete und die über die arabische Kaufmanns- und Geisteswelt ihren Weg
nach Europa fand. Es ist die Zahl Null. Gandhis Bevölkerungsideal waren
nicht wenige Menschen, sondern: gar keine Menschen, eine
Null-Kind-Politik. In Indien und überall sonst auf der Welt.
Dass
Gandhi, der Friedensikone, das Ideal einer menschenlosen Welt
vorgeschwebt haben soll, liest sich wie eine Kriegserklärung gegen den
gesunden Menschenverstand, wenn nicht gegen die Menschheit überhaupt.
Tatsächlich aber äußerte sich Gandhi in seinen Schriften über Jahrzehnte
hinweg immer wieder zum Ideal einer Welt ohne Menschen und begründete
es derart plausibel mit urindischer Leidensverneinung, dass die
Beibringung von Belegen ganz unproblematisch ist und die Frage
aufgeworfen werden muss, weshalb Gandhi nicht als Null-Kind-Politiker
und -Ethiker wahrgenommen wird.
Ironischerweise ist Gandhi nicht nur
der Demiurg einer unabhängigen Nation, sondern auch Vater von vier
Kindern. An seinen zweitältesten Sohn, Manilal (1892–1956), richtet er
am 17. März 1922 Worte, wonach er, Manilal, besser nicht gezeugt worden
wäre und dass es keinen Verlust bedeutet hätte (für wen auch!), wenn
Sohn oder Vater oder die unzähligen mit ihnen verketteten Menschen
niemals existiert hätten. Da es ein Vater ist, der hier an den Sohn
schreibt, macht Gandhi macht mit folgenden Zeilen die Zeugung seines
Sohnes symbolisch rückgängig: „Ich meine ganz und gar nicht, dass die
Fortpflanzung eine Pflicht ist oder dass die Welt ohne sie einen Verlust
erleiden würde. Stell dir vor, jegliche Fortpflanzung würde
eingestellt, diese würde nur bedeuten, dass es keinerlei Zerstörung mehr
gibt.“ (Bd. 26: 24 JANUARY, 1922–12 NOVEMBER, 1923, S. 369) Im Übrigen
ist Gandhi zufolge nicht ein Kind unter einer Million ein Wunschkind,
sondern, wie er – notwendigerweise auch selbstkritisch – bemängelt, eher
das beiläufige Produkt einer naturgegebenen Verhaltensweise, durch die
sich der Mensch nicht sonderlich vor den Tieren auszeichne: „Es mag
sein, dass vielleicht einer in einer Million den Geschlechtsverkehr zum
Zwecke der Fortpflanzung ausübt. Mir ist eine solche Person noch nicht
über den Weg gelaufen.“ (Bd.85: 2 OCTOBER, 1944–3 MARCH, 1945, S. 418)
Gandhis
Version des „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“ lautet
somit: Stell dir vor, es sind Krieg und Zerstörung auf der Welt, aber es
werden keine Menschen mehr hineingeboren! Auf die Zeit der britischen
Kolonialherrschaft gemünzt bedeutet dies, was Gandhi am 25. April 1921in
einem Brief an den christlichen Missionar, Sozialreformer und Freund
Charles Freer Andrews (1871–1940) schreibt: „Gelänge es mir, die
Fortpflanzung auf zivilisierte Weise und freiwilliger Basis zu stoppen,
während sich Indien noch im derzeitigen miserablen Zustand befindet, so
würde ich es heute noch tun. Aber ich weiß, dass dies unmöglich ist.“
(Bd. 23: 6 APRIL, 1921–21 JULY, 1921, S. 89) Möglich wäre es nur, wenn
die Gesellschaft aus vollkommenen Brahmachari bestünde, aus Menschen,
die Brahmas Weg der Entsagung gehen. Einem vollkommenen Brahmachari ist
nichts unmöglich, erläutert Gandhi, nachdem er viele Zuschriften
bekommen hat, die ihn zu seiner Haltung zum Zölibat befragen. Doch sei
ein vollkommener Brahmachari ein fast unerreichbares Ideal und beinahe
so schwer zu verwirklichen, wie eine ins Unendliche zielende Euklidische
Gerade zu zeichnen. (Vgl.: Bd. 21: 1 JULY, 1920–21 NOVEMBER, 1920, S.
356) Als er in Briefen mit Nachfragen zur Bedeutung von Brahmachari
überschwemmt wird, äußert sich Gandhi am 29. April 1926 in der
Wochenzeitung Young India erneut zur Wortbedeutung und führt aus: Der
wahre Brahmachari kenne keinen Wunsch nach Fortpflanzung. „Die ganze
Welt ist ihm eine große Familie. Sein ganzes Anliegen zielt darauf ab,
das Leid der Menschen zu lindern, und der Wunsch nach Fortpflanzung ist
ihm Galle und Wermut.“ (Bd. 35: 2 APRIL 1926–7 JULY, 1926, S. 17f [Young
India, 29.4.1926])
Mit Blick auf die Kolonialherrschaft der Briten
bedeutet dies für ihn, dass es geradezu unmoralisch ist, einen Menschen
zu zeugen, weswegen Gandhi 1920 formuliert: „Wenn wir uns vermehren,
erhöhen wir nur die Anzahl der Sklaven und Schwächlinge und bleiben bei
alledem hilflos, von Krankheiten heimgesucht und vom Hunger geplagt.
Erst nachdem Indien ein freies Land geworden, vermeidbares Verhungern
abwenden kann… und der Malaria, Cholera, Grippe und anderen Epidemien
gewachsen ist, haben wir ein Recht auf Nachkommen. Ich will dem Leser
nicht verhehlen, dass ich Berichte über Geburten in diesem Land mit
großem Kummer zur Kenntnis nehme.“ (Bd. 21: 1 JULY, 1920–21 NOVEMBER,
1920, S. 357)
Wie jetzt näher auszuführen ist, schlägt Gandhi indes
nicht nur als Politiker vor, die britische Herrschaft damit zu
bekämpfen, dass man ihr mittels Zeugungsstreik die Beherrschten entzieht
– als Ethiker denkt er tiefer, aufs Seinsganze gerichtet: Die Engländer
kamen und sie werden gehen, Defizite, Krankheiten und Sterbenmüssen
aber bleiben als ebenso basale wie nichthintergehbare Daseinsdimension.
Krieg und Gewalt werden nur in dem Maße überwunden, indem wir keine
Menschen mehr in ein Dasein treten lassen, das bereits strukturell
gewaltgeprägt und ruinös ist, insofern nämlich jeder Gezeugte von seinen
Eltern verurteilt wurde, zugrunde zu gehen. Mit seinen von
antizipierendem Mitgefühl und wahrhafter Verantwortung geprägten
Reflexionen schwört Gandhi einem verbreiteten pronatalen Argument ab,
das da lautet: Wenn ICH ein Kind in die Welt setze, so besteht die
Chance, dass es diese Welt ein klein wenig besser machen wird. Gandhis
Prinzip Verantwortung lautet: Bevor daran gedacht werden dürfte, Kinder
in die Welt zu setzen, müssten die aktuell Lebenden die Welt für die
Ankunft der Kinder aufbereitet haben. Hiervon war aber nicht nur das
koloniale Indien der 1920er Jahre Jahrzehnte entfernt. Der von der
Vision eines ewigen Friedens bewegte Freiheitskämpfer Gandhi weiß, dass
nicht allein Indien an einem kolonialen Defekt leidet, sondern
menschliches Dasein schlechthin von dem angedeuteten strukturellen
Defizit durchzogen ist, welches nur Hand in Hand mit der Existenz von
Menschen auf der Erde aufgehoben werden kann. Dieses strukturelle
Defizit ist die Koextensivität von Zeugung, Dasein und Gewalt. Daher
lautet Gandhis Grundsatz:
„Wenn Zerstörung Gewalt ist, dann ist auch
die Schaffung von etwas Gewalt. Deshalb beinhaltet die Zeugung Gewalt.
Die Schaffung von etwas, was dazu verurteilt ist, zugrunde zu gehen,
beinhaltet in der Tat Gewalt.“ (Bd. 37: 11 NOVEMBER, 1926–1 JANUARY,
1927, S. 337f)
"Als konsequenter Verfechter des Prinzips der Gewaltlosigkeit (Ahimsa)
kann Gandhi die Hervorbringung zum Sterben verurteilter neuer Menschen –
sei es im Indien der Kolonialzeit oder irgendwo anders oder irgendwann
sonst in der Welt an Hunger, Krankheiten, Gewalt, Unfällen oder infolge
der Kolonisierung ihrer Lebenswelt – nicht gutheißen."
Vielleicht ist Gandhi die einzige
Friedensikone, die mit vollständigem Recht als eine solche angesehen
wird: Frieden herrscht nicht bereits dann, wenn es keine kriegerischen
Auseinandersetzungen mehr gibt, sondern erst dann, wenn Menschen
Menschen nicht länger in ein gewaltpräformiertes Dasein treten lassen:
Wer einen Menschen zu zeugen gedenkt, spielt mit dem Gedanken, einen
Menschen dazu zu verurteilen, zugrunde gehen zu müssen – ein Akt der
Gewalt, den wir mit Gandhi verurteilen sollten.
Nicht eigene
Nachkommen sind für Gandhi das Ziel eines menschlichen Lebens, sondern
das den Buddhismus ebenso wie den Hinduismus prägende Prinzip des
Moksha: die Beendigung kettenbildender Zeugungen, Geburten, Tode und
wieder Geburten. In einer Diskussion mit dem Sozialreformer G.
Ramachandran (1904–1995) antwortet Gandhi im Oktober 1924 auf die Frage,
ob denn die von ihm gepredigte Aufhebung der Menschheit mittels
Geburtenlosigkeit nicht auch Gewalt und sogar die Zerstörung der
Menschheit bedeute: „Du fürchtest also, es würde damit zum Ende der
Schöpfung kommen? Nein. Das extreme logische Ergebnis wäre nicht die
Auslöschung der menschlichen Spezies, sondern ihre Aufhebung auf eine
höhere Ebene.“ (Bd. 29: 16 AUGUST, 1924–26 DECEMBER, 1924, S. 267f) –
Die Erde jedenfalls wäre menschenleer.
Literatur:
The Collected Works of Mahatma Gandhi (Electronic Book), New Delhi, Publications Division Government of India, 1999, 98 Bände
Übersetzungen aus dem Englischen vom Autor.
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