Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 30.01.14 |
von Angelika Weber
Wenn die heutige Kommunikation einen öffentlichen Charakter hat, ob per Handy
in den öffentlichen Verkehrsmitteln, über Facebook oder überhaupt in der Ära
der zeitgleichen digitalen Verständigung, umso unverständlicher und fremd
erscheint einem zunächst die Zeitreise von Mario Adorf in seine Vergangenheit
als Marcus Schwartz. Wie Identität sich in einem Beziehungsgeflecht entwickelt
und wie diese durch den Wahnsinn von Auschwitz vollkommen zunichte gemacht
wurde, beweist dieser mitreißende Film. Was auch immer man vorab über das
NS-Regime gelesen, gehört und gesehen oder in einem Lager Jahrzehnte später als
Besucher empfunden haben mag, hier ist es von der Wirkung zweifellos anders:
Der Zuschauer wird intimer Zeuge einer Vereinsamung auf Raten,
unwiederbringlich. Er kann den Schattenseiten nicht mehr entfliehen; denn
selbst die humorvollen Szenen fächern nur etwas Luft in die absterbenden
Flammen. Gräulich-schwarze Asche prägt das dramaturgisch-ästhetische Design,
was sich in den meisten Sequenzen, Innen wie Außen, spiegelt.
Wenn die junge Deutsch-Türkin Gül (Katharina Derr) als Szenegirl die Reise nach
Ungarn mit dem geklauten Wagen ihres Bruders antritt, dann ist der Gegensatz
zwischen dem alten Juden auf der Suche nach Erinnerungen an seine einstige
Heimat und allen widerspenstigen Äußerungen und emotional hoch geladenen
Ereignissen beinahe unerträglich. Wo langsam jede Hoffnung stirbt, gibt es eine
unerwartete, höchst spannende Kehrtwende. Wie die junge Frau als nervige
Begleiterin eine mitfühlende und aktive Rolle - Schritt für Schritt- einnimmt,
verkörpert eine menschliche Entwicklung von höchster Brisanz: Zeigt sie doch
exemplarisch eine Lebensgeschichte, in der wir das Leiden unseres Protagonisten
miterleben und die Motivation geweckt wird, ihm beizustehen, mehr von ihm zu
erfahren, unbedingt Hilfe leisten zu wollen. Wenn Hannelore Elsner als blinde alte
Frau voller liebevoller Hingabe und Eleganz sich Marcus-Mario ganz und gar
widmet und ihn vollkommen überraschend auch noch heiraten möchte, dann haben
diese Szenen eine symbolische Kraft, die als Aufforderung aktuelle Züge in sich
trägt. Erst wenn Dokumente und Dokumentationen zum Leben erweckt werden, wie in
diesem Film, gewinnen sie einen nachhaltigen Wert.
Und so leistet „Der letzte Mentsch“ und alle, die mit und um ihn herum diesen
Film ermöglicht haben, einen ganz großen Beitrag zur Verständigung zwischen
Juden und Nicht-Juden. Wie der Rosenkranz im Wagen von Güls Bruder bei der
Autofahrt nach Ungarn ständig hin und her schaukelt und den Blick des
Zuschauers auf sich lenkt, so schafft der Film eine immanente Bewegung, die
keinen Stillstand mehr erlaubt. Verdrängen und Vergessen, was Adorf als
Hauptfigur in „Der letzte Mentsch“ schlussendlich prägt, genau das hat der
großartige Schauspieler persönlich in der nachfolgenden Gesprächsrunde mit
Hannelore Elsner als Weg abgelehnt.
Armand Presser hat in einer meisterhaften Moderation diese Lebendigkeit aus den
Charakteren auf der Bühne herausgearbeitet, so dass der Eindruck entstanden
ist, als wären Mario Adorf und Hannelore Elsner nach ihrem filmischen Tod
wieder zu uns zurückgekehrt. Solch ein Werk - jenseits der Quotenmanie - hat
ganz großen Erfolg verdient!
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