Erschienen in Ausgabe: No 97 (03/2014) | Letzte Änderung: 04.03.14 |
von Karim Akerma
Laut offizieller Berichterstattung starb Thomas Bernhard (9.2.1931-12.2.1989)
vor 25 Jahren in seiner Wohnung an Herzversagen. Hält man sich an den eigenen
Tod vorwegnehmende Ausführungen des Autors, so starb er aus ganz anderem Grunde.
Infolge eines Verbrechens: Als Konsequenz des von ihm so genannten
„Erzeugungsverbrechens“, welches seine Eltern begingen, als sie sein Dasein
bewirkten. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ableben des Schriftstellers ist es
an der Zeit, diese von ihm erkannte und in mehreren Romanen verarbeitete Einsicht
gebührend zu würdigen. In Bernhards Roman Alte
Meister lesen wir:
„Wir schonen die Eltern, anstatt sie anzuklagen
lebenslänglich des Verbrechens der Menschenzeugung, sagte er gestern. (...) sie
haben mich, ohne mich zu fragen, erzeugt und sie haben mich, wie sie mich
erzeugt und in die Welt gestürzt hatten, unterdrückt, sie haben das
Erzeugungsverbrechen an mir begangen und das Unterdrückungsverbrechen.“ (Thomas
Bernhard, Alte Meister, Die Romane, Suhrkamp Ff/M 2008, S. 1276)
Mit den verschiedenen Romanfiguren in den Mund gelegten
Formulierungen zum Erzeugungsverbrechen begeht Bernhard einen Tabubruch, der so
ungeheuerlich ist, dass man vergessen hat, ihn anzuprangern. Bernhard zieht
einen radikalen Schlussstrich unter die Tradition des Elterndanks – den Eltern
dafür dankbar zu sein, dass sie uns das Leben schenkten – und geht stattdessen
dazu über, sie anzuklagen, weil sie uns in die Welt warfen. Das Tabu, das
Bernhard seine Romanfiguren brechen lässt, können wir das Elterntabu taufen. Es
lautet dahingehend, den eigenen Eltern niemals und unter keinen Umständen den
Vorwurf zu machen, von ihnen verursacht worden zu sein. Weil er mit Österreich
scharf ins Gericht ging, schalt man ihn dort einen Nestbeschmutzer. Wollte man
ihn gemäß den Standards überlieferter Moralvorstellungen wegen seiner Bemerkungen
zum Erzeugungsverbrechen angreifen wollen, so fehlten dafür schlechterdings die
Worte.
Und doch ist seine Transformation von Elterndank in
Elternschuld geistesgeschichtlich nicht völlig unvermittelt. Indem Bernhard das
Erzeugungsverbrechen aufdeckt, als dessen Konsequenz er sterben musste, beweist
er eine gewisse Geistesverwandtschaft mit Immanuel Kant. Hält man sich an die
Romane Der Untergeher und Alte Meister, so tut Bernhard mit Kant
vor allem eines, er macht sich über ihn lustig: „Lesen Sie Kant eindringlich
und immer noch eindringlicher und Sie werden plötzlich einen Lachkrampf
bekommen, sagte er.“ (Alte Meister, S. 1279) In Der Untergeher lässt Bernhard die Figur Wertheimer aussprechen: „Wir
studieren ein ungeheuerliches Werk, beispielsweise das Werk Kants und es
schrumpft mit der Zeit auf den kleinen Ostpreußenkopf Kants und auf eine ganz
und gar vage Welt aus Nacht und Nebel zusammen, die in der gleichen
Hilflosigkeit endet wie alle andern, sagte er, dachte ich.“ (Der Untergeher,
a.a.O., S. 1001) Bis hierhin scheint es,
als wolle Bernhard den Königsberger Philosophen nur der Lächerlichkeit
preisgeben, wie er es wohl auch mit seiner Komödie namens Immanuel Kant zu tun versuchte. Was Bernhard mit Kant teilt, ist
bei alledem die Beobachtung, dass Menschen – wie Kant in seiner Metaphysik der Sitten schreibt – „ohne
ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt“ werden. Für Kant gründet hierin die
elterliche Pflicht, ihre Kinder mit dem Weltdasein zufrieden zu machen
(verdächtigerweise nur bis zur Volljährigkeit). Für Bernhard handelt es sich um
ein aufklärungsbedürftiges Verbrechen mit Todesfolge. Wer Kant „eindringlich“
liest, kommt über den Lachkrampf also schnell hinweg, und mag sich fragen, ob
Bernhard mit Kants an alle Eltern gerichtetem und ermahnendem Hinweis vertraut
gewesen sein könnte. Wie dem auch sei, Bernhard lässt den in seiner Zeit revolutionären
Kant (1724–1804) hinter sich und denkt und schreibt ihn polemisch zu Ende. Das
Erzeugungsverbrechen besteht nicht nur darin, dass jeder Mensch seine Existenz
ungefragt hinnehmen muss, sondern korrespondiert auch dem Umstand, dass die von
allen Eltern übernommene Verantwortung zu groß ist, als dass sie ihr jemals nachkommen
könnten. In seinem Roman Frost von
1963 führt Bernhard diesbezüglich aus: „Er sagte: ‚Die Menschen, die einen
neuen Menschen machen, nehmen doch eine ungeheure Verantwortung auf sich. Alles
unerfüllbar. Hoffnungslos. Das ist ein großes Verbrechen, einen Menschen zu
machen, von dem man weiß, dass er unglücklich sein wird, wenigstens irgendwann
einmal unglücklich sein wird. Das Unglück, das einen Augenblick lang existiert,
ist das ganze Unglück. Ein Alleinsein erzeugen, weil man nicht mehr allein sein
will, das ist verbrecherisch.’ Er sagte: ‚Der Antrieb der Natur ist
verbrecherisch, und sich darauf berufen ist eine Ausrede, wie alles nur eine
Ausrede ist, was Menschen anrühren.’“ (A.a.O., S. 28) In einem Atemzug demontiert Bernhard
die am häufigsten für die Fortpflanzung vorgebrachten Gründe: Neben dem Nicht-Alleinseinwollen
(vor allem mit Blick aufs Alter) sind es der Glaube an eine Kompensierbarkeit
schweren Leids durch Glück und die Berufung auf eine vermeintliche
Natürlichkeit, die in der Tat ein schlechtes Argument ist, da alles, was
Menschen tun, kulturell überformt ist und zuallererst gefragt werden sollte, ob
eine andere Menschen betreffende Handlungsweise richtig oder falsch ist.
Bernhard bricht mit dem uralten Recht aller Eltern auf
daseinsdankbare Kinder und stiftet stattdessen zum Daseinsprotest an.
Ausführungen Octave Mirbeaus (1848–1917, Der
Garten der Qualen: 1899) und Franz Kafkas (1883–1924, In der Strafkolonie: 1917) zuspitzend, gelten nicht mehr nur
bestimmte exotische Daseinswinkel als Strafe, sondern das gesamte Leben:
„Das Leben ist nichts als ein Strafvollzug, du musst diesen
Strafvollzug aushalten. Lebenslänglich. Die Welt ist eine Strafanstalt mit sehr
wenig Bewegungsfreiheit. Die Hoffnungen erwiesen sich als Trugschluss. Wirst du
entlassen, betrittst du in demselben Augenblick wieder die gleiche
Strafanstalt. Du bist ein Strafgefangener, sonst nichts. Wenn dir eingeredet
wird, das sei nicht wahr, höre zu und schweige. Bedenke, dass du bei deiner
Geburt zu lebenslänglicher Strafanstalt verurteilt worden bist und dass deine
Eltern schuld daran sind. Aber mache ihnen keine billigen Vorwürfe. Ob du
willst oder nicht, du hast die Vorschriften, die in dieser Strafanstalt
herrschen, haargenau zu befolgen. Befolgst du sie nicht, wird deine Strafhaft
verschärft. Teile deine Strafhaft mit deinen Mithäftlingen, aber verbünde dich
nie mit den Aufsehern. Diese Sätze entwickelten sich in mir damals ganz von
selbst, einem Gebet nicht unähnlich. Sie sind mir bis heute geläufig, manchmal
sage ich sie mir vor, sie haben ihren Wert nicht verloren. Sie enthalten die
Wahrheit aller Wahrheiten, so unbeholfen sie auch abgefasst sein mögen. Sie
treffen auf jeden zu. Aber nicht immer sind wir bereit, sie anzunehmen.“ (Thomas
Bernhard, Die Kälte. Eine Isolation, DTV, München 2011, S. 41f)
Allein schon in Anbetracht des Pensums aus fremdbestimmter
jahrzehntelanger Lern- und Berufsarbeit, das fast jede Person abzuleisten hat,
bevor sie pensioniert wird oder in eine zu kleine Rente tritt oder getreten
wird, sind obige Zeilen nicht ganz so übertrieben, wie sie bei erster Lektüre
scheinen mögen. Und folgende Passage hat ein tadelloses Fundament in der
Philosophie Schopenhauers (und Epikurs), wonach Glück wesentlich in der Abwesenheit
von Schmerz und Langeweile besteht:
„Der
Mensch ist das Unglück, sagte er immer wieder, dachte ich, nur der Dummkopf
behauptet das Gegenteil. Geborenwerden ist ein Unglück, sagte er, und solange
wir leben, setzen wir dieses Unglück fort, nur der Tod bricht es ab. Das heißt
aber nicht, dass wir nur unglücklich sind, unser Unglück ist Voraussetzung
dafür, dass wir auch glücklich sein können, nur über den Umweg des Unglücks
können wir glücklich sein, sagte er, dachte ich.“ (Der Untergeher, a.a.O., S.
999)
Wie aber können wir die Aussage „Der Mensch ist das Unglück…“
interpretieren? Ganz offenbar dahingehend, dass es ohne Menschen kein
menschliches Unglück gäbe: Keine Krankheiten, Kriege, Katastrophen, unter denen
Menschen litten, soweit die Geschichtsschreibung zurückreicht und unter denen
sie leiden, egal in welche Himmelsrichtung wir blicken. Wir müssen also mit
Bernhard fragen: „Wer ist denn auf die Idee gekommen, Menschen auf der Welt
oder auf dem, was so heißt, herumgehen zu lassen, um sie dann in ein Grab, in
ihr Grab, eingraben zu lassen?“ (Frost, a.a.O., S. 85) In alten Zeiten konnte
man diese Frage mit: „Gott!“ beantworten und somit ihm die Urschuld in die Schuhe
oder in den Logos schieben. Alles Weitere folgte dann unabänderlich aus der
Natur des Menschen. Aus dieser Naivität aber haben wir uns nach und nach
herausreflektiert, sodass nur mehr die Bernhardschen „Erzeugungsverbrecher“
übrig bleiben, die sich, in dem sie sich fortzeugen, mit der Fortschreibung der
bisherigen Geschichte und Gegenwart in eine unabsehbare Zukunft einverstanden
erklären.
Nachdem Bernhard demonstriert hat, warum Kinder ihren Eltern
keinen Daseinsdank schulden, sondern sie sich allenfalls bei ihren Kindern für
die Untat der Zeugung zu entschuldigen hätten, attackiert er die Praxis der Geburtstagsfeier,
in der man eine zur Gewohnheit geronnene Form der Entschuldigung für die
Daseinszumutung erblicken mag: „…wie kann der Mensch einen und
seinen Geburtstag feiern, habe ich immer gedacht, wo es doch nichts als ein
Unglück ist, überhaupt auf der Welt zu sein, ja, habe ich immer gedacht, wenn
die Menschen eine Gedenkstunde einsetzen würden, an ihrem Geburtstag, sozusagen
als Gedenkstunde für die Untat, die ihnen
von ihren Erzeugern angetan worden ist,…“ (Alte Meister, S. 1278) „Es
gibt ja nichts Verlogeneres, als diese Geburtstagsfeiern, zu welchen sich die
Menschen hergeben, nichts Widerwärtiges als die Geburtstagsverlogenheit und die
Geburtstagsheuchelei, sagte er.“ (Ebd.)
Glücklicherweise erinnern wir hier nicht an einen Geburtstag
des radikalen Aufklärers Bernhard, sondern an seinen Tod infolge des von ihm
selbst aufgelösten Erzeugungsverbrechens. Einmal auf der Welt schrieb er: „…wir
wünschen einen raschen, schmerzlosen Tod und kommen doch unter Umständen in ein
langes, jahrelanges Siechtum hinein…“ (Alte Meister, S. 1279) Zumindest dies
blieb ihm, der geboren wurde, um vor 25 Jahren zu sterben, erspart.
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