Erschienen in Ausgabe: No 97 (03/2014) | Letzte Änderung: 04.03.14 |
von Heike Geilen
Es war das Sommermärchen der 90er-Jahre: 1995 bezauberte das
Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude mit dem verhüllen Reichstag ganz
Deutschland, fünf Millionen Besucher pilgerten in Berlins Mitte. Jahrelang
kämpfte das unzertrennliche Künstlerpaar darum, den Reichstag verhüllen zu
dürfen. "Zwanzig Jahre lang hat Christo daran gearbeitet. Hat diese
idiotischen westdeutschen Politiker überzeugt. Diese Spießer und Hosenscheißer.
Die eine Seite des Gebäudes stand im Osten, es musste also erst die Mauer fallen,
weil die Russen und die Zone natürlich auch nicht mitmachen wollten. Dann hat
er den Stoff herstellen lassen und die Seile und alles eingepackt. Hitler,
Goebbels, Wilhelm Zwo, den Osten und den Westen. Alles weg. Eingepackt.",
wie es eine Protagonistin in Gregor Sanders Roman ausruft.
Der verhüllte Reichstag, in dem "sich jeder Deutsche
widerspiegeln" wird, wie Willy Brandt es so treffend ausdrückte, kann auch
als Metapher für den neuen Roman von Gregor Sander stehen. Auch hier geht es um
Verhüllungen, Verschleierungen, um Sein oder Schein, um Dualitäten. Im großen
Maßstab gedacht fällt da zuerst West und Ost ein. Das geteilte Berlin steht
hierbei stellvertretend für das geteilte Deutschland und dieses wiederum für
ein zweigeteiltes Europa. Es geht jedoch auch um zwischenmenschliche
Beziehungen, sei es nun die Liebe von Mann und Frau oder um Freundschaft.
Gregor Sander lässt seine Geschichte in den Achtzigern des vergangenen
Jahrhunderts beginnen, in der Endphase des hochgelobten, aber kurz vor dem
endgültig Absturz stehenden Sozialismus. Noch hält das Absperrband. Die Haare
der zwei siebzehnjährigen Neubrandenburgerinnen Astrid und Jana gleichfalls,
als sie zu einem Sommerfest der Berliner Bohème an einen See geladen sind.
Künstler, die Ausstellungsverbot haben, so wie Katharina, eine anarchistische
Malerin und ihr Sohn Julius, dessen Vater und Halbbruder in Hamburg lebt und
der in einer Punkband die Klampfe zupft. Jener Julius, der von Jana gern
abgelegt werden will und der sowieso viel besser zu Astrid passen würde. Man
ist jung, frei und stark. Frei? Die Ketten, sie sind allerorts spürbarer im
Vorwendesommer und erste Glieder reißen bereits.
Ein Vierteljahrhundert später ist man zwar um ein paar graue
Haare weniger, doch vielleicht auch ein bisschen Verstand reicher geworden. Die
zuweilen schmerzliche Dualität im Zwischenmenschlichen ist jedoch geblieben.
Man liebt immer noch, auch wenn Personenkonstellationen und gesellschaftliche
Einstellungen mitunter gewechselt haben. Die schüchterne Astrid, mittlerweile
geschiedene Mutter von zwei Kindern, arbeitet als Kardiologin in einem
Krankenhaus im Westen von Berlin. Ihr Julius heißt jetzt Paul, moderiert im
Radio und seine Wiege stand ursprünglich hinter dem eisernen Vorhang. AstridsFreundin Jana hingegen, die damals unbedingt
raus wollte aus dem Arbeiter- und Bauernstaat, und es auch schaffte, umgibt ein
dunkles Geheimnis, das letztendlich gelüftet wird. Eine Reise von Astrid und
Paul nach Budapest, zu den Wurzeln des Auseinanderbrechens hochfliegender Jugendträume,
lässt auf einmal alles in neuem Glanz erscheinen. Genau wie die schillernden
Farbnuancen von Christos Stoffbahnen um den Berliner Reichstag. Nuancen, die je
nach Windspiel und Sonneneinstrahlung von tiefgrau bis hin zu schillernden
Orangetönen changieren können...
Gregor Sander hat in seinem Roman die "Generation
Wende" wieder aufleben lassen. Verpackt in einer Liebesgeschichte und aus
dem Blickwinkel der "kleinen Leute" beleuchtet er in wechselnden
Zeit- und Erzählebenen (einmal wird in der 3. Person berichtet, dann wieder in
der Ich-Form aus der Sicht von Astrid) die damalige Umbruchszeit Ende der
Achtziger. Allerdings reißt er viele Themen nur an, ohne sie konsequent
weiterzuverfolgen. Vor allem der Hintergrund der diffizilen Frauenfreundschaft
scheint mir ein wenig zu leichtfertig abgehandelt und gar zu schnell
fallengelassen. Alle agierenden Personen bleiben irgendwie nur flüchtig
präsent. Nichtsdestotrotz eine gut lesbare, spannende Lektüre, die ihre
politischen Unruhen bis ins Ungarn der Jetztzeit mitnimmt. Und vielleicht ist
Gregor Sanders gewisse Inkonsequenz auch gezieltes Stilmittel. Weil
möglicherweise nur im Augenblick die Ewigkeit und nur in der Vergänglichkeit
die Erinnerung aufgehoben ist. Genauso wie es Christo mit seinem Kunstwerk bezweckte.
Denn wer weiß was gewesen wäre, wenn....
Gregor Sander
Was gewesen wäre
Wallstein Verlag (Februar 2014)
235 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3835313592
ISBN-13: 978-3835313590
Preis: 19,90 EUR
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