Erschienen in Ausgabe: No 97 (03/2014) | Letzte Änderung: 04.03.14 |
von Eckart Löhr
In den letzten einhundert Jahren gibt es wohl kaum etwas,
über das wir mehr erfahren haben, als über dieses merkwürdige Phänomen, das wir
Materie nennen. Doch trotz aller Erkenntnis auf diesem Gebiet ist die Materie, gerade
in vielen naturwissenschaftlichen Publikationen, ein oftmals unhinterfragtes
Problem. So heißt es in einem Standardwerk zur Evolutionsbiologie: „Der Materialismus ist das solide
philosophische Fundament, auf dem auch die Evolutionstheorie ruht.“ (Kutschera:
Evolutionsbiologie, 2008, S. 12). Das
klingt ganz so, als wüsste der Autor, was sich hinter dem Begriff Materie
verbirgt. Doch das ist natürlich ganz und gar nicht der Fall. Von
welcher Art Materialismus spricht er? Ist es das, was Ernst Bloch einmal spöttisch
Klotzmaterialismus genannt hat? Das heißt, Materie gedacht als ein Sammelsurium bauklotzartiger
Gebilde, die sich irgendwie zu Irgendetwas formieren? Ist es der Materiebegriff
der Quantenmechanik, die darunter nur noch ein Geflecht von Beziehungen versteht
und sich vom „klassischen“ Materiebegriff so weit wie irgend möglich entfernt
hat? Ist Materie eine Ansammlung protokomplexer, protovitaler oder gar
protomentaler „Teilchen“? Sind die Teilchen vielleicht gar keine Teilchen
sondern vielmehr Ganze/Teilchen, das was Arthur Koestler und, etwas später, Ken
Wilber als Holons bezeichnet haben? Diese
Aufzählung ließe sich problemlos weiter fortführen. Wie auch immer, eines steht
auf jeden Fall fest: Ganz so einfach, wie es sich Kutschera und mit ihm viele
andere Naturwissenschaftler machen, liegt der Sachverhalt offensichtlich nicht.
Darüber hinaus geht es hier nicht um philosophische Erbsenzählerei, wie
vielleicht manch einer an dieser Stelle denken mag. Klotzmaterialismus
oder nicht, ist das so entscheidend? Ja, ist es! Denn
mit dem Materiebegriff steht und fällt so manches naturwissenschaftliche und
philosophische Lehrgebäude. Wer hier nicht von Beginn an sauber gedacht hat,
wird sich später zwangsläufig in eine Vielzahl von Widersprüche verwickeln,
oder, was vielleicht noch schlimmer ist, er wird die unausgesprochenen Voraussetzungen seines Denkens oder
Experimentierens fälschlicherweise später für die Ergebnisse halten. Gerade
dieser Tatsache begegnet man in der Evolutionstheorie, die hier lediglich
exemplarisch für andere Disziplinen steht, nicht selten.
Gehen wir einmal von einem naiven Materiebegriff aus, so
wie ihn Ernst Bloch seinerzeit verspottet hat. Der englische Philosoph und
Mathematiker Alfred North Whitehead schreibt dazu: „Der ursprüngliche Stoff
oder das Material, von dem eine materialistische Philosophie ausgeht, ist der
Evolution unfähig. Dieses Material ist an sich die elementare
Substanz. Evolution wird nach der materialistischen Theorie auf ein anderes
Wort für die Beschreibung von Veränderungen in den äußeren Relationen zwischen
Materieteilen reduziert. Hier gibt es nichts, was der Evolution fähig wäre,
weil eine Menge von äußeren
Relationen so gut wie jede andere ist. Möglich ist allein eine nicht zweckgerichtete
und nicht fortschreitende Veränderung. Aber die
ganze moderne Lehre läuft darauf hinaus, daß eine Evolution der komplexen
Organismen aus früheren Zuständen weniger komplexen Organismen stattfindet. Die
Lehre schreit daher geradezu nach einer Konzeption des Organismus, wie er für
die Natur grundlegend ist.“ (Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, 1988, S. 130). Materie, naiv
gedacht, ist demnach keiner Evolution fähig. Möglicherweise würde eine Vielzahl
von Wissenschaftlern dieser Behauptung zustimmen. Falls sie es nicht tun, haben
sie unreflektiert der Materie bereits Eigenschaften zugesprochen, die ein
Materialist im ursprünglichen Sinne des Wortes eigentlich ablehnen müsste. Was
sind das für Eigenschaften? Materie hat die Tendenz, sich zu immer komlexeren
Gebilden zusammenzufügen. Von Teilhard de Chardin, dem französischen Philosophen
und Paläontologen, stammt der Satz, ceér,
c`est unir (schöpferisch sein, heißt vereinigen). Eine komplexe Struktur
ist nun aber bereits durch eine Zunahme an Information gekennzeichnet,
andernfalls wäre es ein bloßer Haufen. Unter Information verstehen wir hier die
„Gesamtheit der Wirkungspotenz,
die ein Muster in Wechselbeziehung zu allen anderen denkbaren Mustern besitzt“
(Carsten Bresch: Die Menschheit an der
zweiten Schwelle der Evolution, 1979, S. 52):Materie als Ansammlung von leblosen
Bauklötzen gedacht, würde wohl eher dazu neigen, sich zu sinn- und wertlosen
Haufen zu formieren, da „eine Menge
von äußeren Relationen so gut wie jede andere ist.“ Materie, so wie wir sie
wahrnehmen, tendiert aber zur Ausbildung komplexer Strukturen unter Zunahme von Information. Das ist etwas
grundlegend anderes. Diese Materie nenne ich protokomplex. Protokomplexität
ist demnach bereits eine
unausgesprochene Eigenschaft der Materie.
Die nächste Stufe der Entwicklung ist der Schritt von
zwar komplexen, aber unbelebten, zu lebendigen Strukturen. Für diesen in
völliger Dunkelheit liegenden Vorgang muss in der Evolutionsbiologie der
Begriff Emergenz oder wahlweise Fulguration (von lat. fulgur, der Blitz)
herhalten. Der Begriff stammt ursprünglich vom österreichischen Ethologen und
Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Emergenz heißt also in diesem Fall, dass ab
einem gewissen Grad von Komplexität eine neue Systemeigenschaft auftritt:
Leben! Wie sich aber dieser geheimnisvolle Vorgang im Einzelnen vollziehen
soll, darüber schweigt sich die Wissenschaftsgemeinde aus. Natürlich, denn Emergenz
ist das genaue Gegenteil einer sich im kausal-reduktionistischen Rahmen abspielenden
naturwissenschaftlichen Erklärung. Vielmehr handelt es sich um einen
quasi-numinosen Vorgang, man könnte auch ganz profan sagen, um Zauberei. Da
Naturwissenschaftler in der Regel nicht an Magie glauben, muss man an dieser
Stelle vermuten, dass der ein oder andere von ihnen eine weitere
unausgesprochene Voraussetzung gemacht hat. Er hat der Materie bereits, wenn
auch sozusagen in unendlich verdünnter Form, lebendige Eigenschaften
zugeschrieben. Das wäre der protovitale
Materiebegriff. Wie könnte es auch anders sein? Wie etwa soll man sich tote Materie vorstellen? Materie besitzt
Energie, ist unablässig in Bewegung und verfügt darüber hinaus, wie wir bereits
festgestellt haben, über Information, was man auch teleologisch nennen könnte,
und ist damit natürlich noch nicht lebendig, aber mit Sicherheit auch nicht gänzlich
tot.
Der nächste und im wörtlichen Sinne wunderbarste Sachverhalt
ist der Übergang von lebendigen zu geistigen, bzw. bewussten Wesen. Auch diese
neue Systemeigenschaft soll wieder
mittels Emergenz erklärt werden. Hat das schon beim Übergang von unlebendiger
Materie zu lebendigen Strukturen nicht funktioniert, scheitert dieses Konzept
zur Erklärung der Entstehung des Geistes nun völlig. Hatte sich der Übergang
vom Unlebendigen zum Lebenden noch im materiellen Raum vollzogen, so ist der
Geist, bzw. das Bewusstsein ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass es diese
räumlichen Strukturen verlässt und eine völlig neue Kategorie konstituiert. Das
ist bereits auf der Ebene des Geistes der Fall. Bei Betrachtung des subjektiven
Bewusstseins (Stichwort Qualia),
beginnt die ganze Sache noch wesentlich komplizierter zu werden. Hier stehen
wir spätestens vor dem größten Rätsel überhaupt, oder, mit den Worten des
australischen Philosophen David Chalmers, vor den „hard problems of consciousness“. Aber das soll hier
gar nicht Thema sein.
Ein
weiteres Kriterium des Geistes ist, im Gegensatz zum Leben, das nicht graduell
abgestuft ist, die Tatsache, dass er sich im Laufe der Evolution langsam entwickelt
hat und nicht etwa blitzartig (fulgurativ)
aufgetreten ist. Den Geist mit Hilfe von Emergenz zu erklären läuft also
offensichtlich ins Leere. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von
Weizsäcker sah da bereits tiefer, als er schrieb, „dass die
Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können, was den Gesetzen
der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung
fügt.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker: Die
Einheit der Natur, 1972, S. 289). Ein
Materialist, der aber trotz allem an diese Form der Emergenz glaubt - und um
nichts anderes als Glauben handelt es sich hier – kommt wohl nicht um die
Erkenntnis herum, dass er auch hier eine stillschweigende Voraussetzung macht,
indem er der Materie eine, wie auch immer geartete, geistige Ebene zusprechen
muss. Damit wären wir zuletzt beim protomentalen
Materiebegriff angekommen.
Zusammengefasst
heißt das: Ein Materialist im wirklichen, strengen und ursprünglichen Sinne des
Wortes muss von einem Materiebegriff ausgehen, der von allen eben beschriebenen
intrinsischen Eigenschaften der Materie absieht und sie als ungeistig und tot
betrachtet. Eine solche Materie wäre aber, um noch einmal Whitehead zu zitieren,
„der Evolution unfähig“, da sie sich nur zu immer neuen chaotischen Haufen zusammenschließen
würde, wenn sie sich überhaupt zusammenschlösse. Denn das Bestreben sich
zusammenzuschließen setzt ja bereits etwas voraus, über das streng materialistisch gedachte Materie nicht
verfügt. Dass aber aus Materie lebendige und geistige Wesen hervorgehen, die noch
dazu über ein subjektives Bewusstsein verfügen, setzt unausgesprochen einen
anderen Materiebegriff voraus. Wer jetzt aber sagt, dass Materie macht, was sie
eben macht, sei nichts anderes als eine Folge der Naturgesetze, vergisst, dass
auch - oder gerade - die sogenannten Naturgesetze, das heißt ihre Entstehung,
ihre speziellen Werte (die Evolution überhaupt erst möglich machen), und ihre
Wirkungen, also das, was man auch als Anthropisches
Prinzip bezeichnet, in metaphysischer Dunkelheit liegen. Wir können zwar
jeden Tag beobachten, was durch Gravitation geschieht, was aber Gravitation ist
und warum sie exakt diese Eigenschaften aufweist, bleibt völlig ungeklärt. Das
gleiche gilt für die Feinstrukturkonstanten und ihre besonderen Eigenschaften.
Wer demnach
heute noch behauptet, sein Weltbild stünde auf dem festen Boden des Materialismus,
der muss erst einmal darlegen, was genau er noch unter Materie versteht. Die naturwissenschaftlichen
Disziplinen, bzw. ihre Vertreter, sind somit aufgerufen, in Zukunft vermehrt
Rechenschaft darüber abzulegen, auf welchem Materiebegriff ihre weltanschauliche
Konzeption basiert.
Zum Autor: Eckart Löhr studierte Philosophie und
Germanistik und lebt als freier Fachjournalist in Essen. Veröffentlichungen in verschiedenen
Onlinemagazinen sowie in Spektrum der Wissenschaft.
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