Erschienen in Ausgabe: No 100 (06/2014) | Letzte Änderung: 01.06.14 |
von Haşim Koç
Das hier zu besprechende, hoch interessante Buch des Autors wurde im Jahre
2003 als Habilitationsschrift an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der TU
Berlin angenommen. Der Verfasser versucht darin die unterschiedlichen
Platonbilder wichtiger Philosophen des 19. Jahrhunderts darzustellen. Da dieses
Thema ebenfalls sehr eng mit dem deutschen Idealismus verbunden ist spannt das
Buch einen sehr weiten Rahmen. Einerseits beschäftigt sich der Autor mit den
Vertretern des deutschen Idealismus wie unter anderem Fichte, Schelling, Hegel,
Schleiermacher und Schopenhauer, andererseits versucht er deren Platonbilder
anhand der Leitbegriffe “Interpretation” und “Transformation” systematisch zu
reflektieren. Diese beiden Begriffe scheinen sehr geeignet zu sein, um die
unterschiedlichen Platonrezeptionen dieser Philosophen von dem Charakter einer “bloßen” Philosophiegeschichte zu befreien.
Christoph Asmuth erörtert das Legitimationsproblem der
Philosophiegeschichte auf einer sehr überzeugenden Art und Weise, indem er das
zu bearbeitende Material systematisch reflektiert und die Ergebnisse effektiv
dafür nutzt die eigene Position zu untermauern. (und die Ergebnisse effektiv in
einer kohärenten Theorie zusammenfasst.)
Nach unserem Autor seien die beiden Wissenschaftsdisziplinen systematische
Philosophie und Geschichte der Philosophie untrennbar miteinander verbunden, so
dass sie zu einem Gefüge zusammengefasst werden müssen. Diese These versucht
Asmuth anhand der Platonrezeptionen der oben genannten fünf Philosophen des 19.
Jahrhunderts unter Beweis zu stellen.
Die Annahme, dass zwischen der systematischen Philosophie und der
Geschichte der Philosophie eine Spannung herrsche, scheint ein in der
wissenschaftlichen Welt weit verbreitetes Phänomen zu sein, das in der
vorliegenden Habilitationsarbeit sehr umfassend und überzeugend dargestellt
wird.[1]
Das Ziel dieser Arbeit lag darin, die vermeintliche Spannung zwischen den oben
genannten Wissenschaftszweigen durch eine Studie über das Platonbild im
deutschen Idealismus endgültig aufzuheben. Der Autor selbst sagt dazu
folgendes: „In gewisser Hinsicht ist dies das Thema des vorliegenden Buches: Es
vertritt die Auffassung, dass es unmöglich ist, den historischen Bestand der
Philosophie von der Systematik zu trennen. Es argumentiert für die Relevanz der
Philosophiegeschichte im Hinblick auf die Philosophie. Es will die Situation
analysieren und einen Vorschlag unterbreiten, wie das Verhältnis der
Philosophie zu ihrer Geschichte selbst philosophisch gedacht werden kann.“ (S.
11). Dazu gehören nicht nur die Darstellung eines philosophischen Themas im
historischen Kontext, sondern auch dessen interpretierende und transformierende
Aspekte, die „Teil einer genetischen Rekonstruktion tatsächlicher, d.h.
konkreter und systematische Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte“ (S.13)
gewesen sind.
Der Autor bezeichnet seine Studie nicht als eine Rezeptionsgeschichte,
sondern vielmehr als eine theoretische Aufarbeitung der „Aneignung“[2]
des fremden intellektuellen Gedankenguts:„Es wird darum gehen, zu beschreiben, wie ein anderes theoretisches und
historisches Umfeld zu einer Neubewertung der Platonischen Texte führt. Es wird
darum zu tun sein, die Bedingungen aufzuweisen, unter denen das ursprünglich
fremde Material in eine neue Gedankenkonstellation eindringt und letztlich eine
Transformation erfährt. Dadurch wird die Vorstellung unterwandert, es handle
sich bei historischen Verstehensprozessen – im allgemeinen Sinne – um Vorgänge,
die mit einem realistischen Schema von Ursache und Wirkung und nach dem Modus
historischer Ereignisse zu erklären seien, etwa derart, dass die Lektüre
Platons einen bestimmten Niederschlag in den Werken eines Autors, eine gewisse
Veränderung seines Denkens hervorgerufen habe.“ (S. 16) Genau an dieser Stelle
sehen wir den Versuch des Autors die historische Darstellung in das
Systematische umzuwandeln, das er anhand der Analyse der einzelnen Autoren
analytisch aufzeigt.
Nach der Darstellung der verschiedenen Platonbilder gibt Asmuth am Ende
seiner Studie zwei Diskussionswege an: Einerseits setzt er sich mit der
Problematik der Philosophie undihrer
Geschichte auseinander, anderseits debattiert er die Möglichkeit einer
Interpretation und Transformation der historisch-philosophischen Kenntnisse in
ein systematisches Philosophieren. Sein Ziel ist nicht die Darstellung „einer
Rezeptionsgeschichte des antiken Denkens“, sondern vielmehr die Entwicklung
eines grundlegenden Verhältnisses von Philosophie und Philosophiegeschichte“,
welches er nach dem Umtausch von „Deutung und Verwandlung des Platonischen
Denkens“ (S. 272), das er als ein Beispiel zu diesem Verhältnis herausliest.
Im vorletzten Abschnitt wird die Philosophiegeschichte problematisiert: „Es
besteht der Verdacht, die Philosophiegeschichte sei – ganz oder teilweise – irrelevant.“
(S. 274) Dieser Verdacht wird mit der Zeit in einen Konsensus umgewandelt,
„dass die Philosophiegeschichte ein substantieller Bestandteil der Philosophie
ist und dies auch bleiben sollte.“ (S. 279) Nachdem er die grundlegenden
Positionen in Bezug auf die Relevanz oder Irrelevanz der Philosophiegeschichte
in der Philosophie vorgestellt hat, beschäftigt er sich mit den Grundlagen
dieser Standpunkte. Nach seiner Besprechung wird der Gültigkeitsbereich von dem
„Neuen“ noch überzeugender als dem „Alten“ aus. Diese Illusion lehnt Asmuth ab,
da er die Philosophiegeschichte als „ein lebendiger Speicher des vergangenen
Denkens“ annimmt. (S. 313).
Nach diesem Urteil wird im letzten Abschnitt des Buches über die
verschiedenen Modi der Interpretation und Transformation diskutiert.[3]
Demnach suggeriert der Autor für beide Phänomene vier verschiedene Modi,
wodurch Interpretation und Transformation des philosophischen Gegenstandes
ermöglicht wird. Zur Interpretation gehören die Funktionen der Darstellung,
Prüfung, Einordnung und Bewertung, wohingegen die Projizierung,
Dekontextuierung, Implementierung und Identifizierung zur Transformation
gehören. Asmuth versucht in diesem Abschnitt die Relevanz seiner Studie für die
einzelnen Verstehensebenen reflektierend zu erklären.
Für ihn endet dieser Prozess mit der Identifizierung, die die
Transformationsprozedur mit der vollen Ausprägung zum Ende bringt. Daher
verschwindet der fremde Charakter des philosophischen Gegenstandes der
transformierten Kenntnisse. Daraus bildet sich eigenes philosophisches Denken. Das
eigene Denken bringt den Verstehensprozess, der aus der Identitäts- und
Differenzbildung stammt, hervor: „Im Nachdenken der Gedanken setze ich mein
Denken an die Stelle der ursprünglichen, über das ich nachdenke. Das gelingt
allerdings nur, wenn sich das ursprüngliche Denken durch die vitalisierende
Kraft des eigenen Denkens fassen lässt. Es ist die quecksilbrige Essenz des
Denkens, die in die Poren des Textes, sei es auch eines gänzlich fremden,
eindringt, ihn aufschließt und die toten Gedanken in lebendiges Philosophieren
verwandelt. Da diesem Denken das Prüfen und Selbstprüfen eingeschrieben ist,
wird es sich bewusst sein, dass es das Fremde in seiner Fremdheit auffasst, es
selbst dadurch verwandelt und sich aneignet. Es wird sich bewusst sein, wenn es
die Grenze überschreitet und das Fremde als Eigenes fasst. Das ist der Schritt,
der die Interpretation zur Transformation werden lässt. Während das
Fremde, Andere, Unverstandene, Unzugängliche für die Interpretation eine Grenze
bleibt, die sich im Auslegungsgeschehen als dynamisch erweisen kann, so besteht
die Transformation darin, dass das Fremde im Eigenen aufgeht. Dies geschieht
nie restlos, dass es – für einen Dritten – wie ein Einschluß erkennbar bleibt.
Es ist noch zu identifizieren, man kann es namhaft machen, aber es ist Teil
eines neuen, eines anderen Denkens.“ (S. 346)
Das Denken, das durch Interpretation und Transformation die fremden
Erkenntnisse zum Eigentum umwandeln lässt, fängt in dem Moment wieder einen
neuen zyklischen Prozess an, um das Nachgedachte zu einem verstandenen
Gegenstand umformen zu können: Interpretation – Transformation.
[1]Eine umfangreiche Diskussion über dieses Thema ist im
folgendem Buch zu sehen: Philosophy in
History: Essays on the historiography of philosophy, ed. by Richard
Rorty, J. B. Schneewind and Quentin Skinner. Cambridge: Cambridge Univ.
Press, 1993. Einige Aufsätze sind direkt relevant zu dem Thema: Charles Taylor,
„Philosophy and its history“, S. 17-30; Alasdair Macintyre, “The relationship
of philosophy to its past”, S. 31-48; Richard Rorty, “The historiography of
philosophy: four genres”, S. 49-78; Lorenz Krüger, “Why do we study of history
of philosophy?”, S. 77-102; Wolf Lepenies, “ ‘Interesting questions’ in the
history of philosophy and elsewhere”, S. 141-172. Einige andere Werke sind
erwähnenswert: Lutz Geldsetzer, Die
Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert: Zur
Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und –betrachtung,
Meisenheim am Glan: Anton Hain Verlag, 1968; Wolfgang Wieland, „Über den Grund
des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte“, S. 9-30; Wolfgang Röd,
„Fortschritt und Rückschritt in der Philosphiehistorie“, S. 31-43; Hans Michael
Baumgartner, „Anspruch und Einlösbarkeit: Geschichtstheoretische Bemerkungen
zur Idee einer adäquaten Philosophiegeschichte“, S. 44-61, diese drei Aufsätze
sind im folgenden Buch erschienen: Veritas
filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte:
Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag, hrsg. von Rolf W. Puster,
Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1995. Für die neuere Literatur zu diesem
Thema, siehe: Pirmin Stekeler-Weithofer, Philosophiegeschichte,
Berlin: Walter de Gruyter, 2006.
[2]In englischer Sprache wird dieser Begriff mit dem Konzept „appropriation“
übersetzt. Eine Forschungsgruppe unter dem Namen STEP (Science and Technology
in the European Periphery) ist gegründet. Siehe: www.uoa.gr/step. Diese Gruppe beabsichtigt
das Eindringen der neuen intellektuellen und wissenschaftlichen Ideen nach der
wissenschaftlichen Revolution in Europäische Peripherie zu forschen. Ihres
Erachtens nach waren die Kulturen, die diese neuen Ideen rezipieren, keine
passiven Elemente in dieser Beziehung, sondern sie eignen sich diese neuen
Ideen nach ihren lokalen, traditionellen und existierenden Kulturen an. Kostas
Gavroglu hat viele Beiträge über die Aneignung der wissenschaftlichen Ideen in
griechisch gesprochenen Territorien geschrieben. Siehe für die List seiner
Werke: http://www.iono.noa.gr/hellinomnimon/gavroglu_pub.htm.
Einige seiner Aufsätze über dieses Thema sind zu
erwähnen: mit D. Dialetis, „Appropriating the new scientific ideas in the Greek speaking regions
during the 17th and 18th Centuries”, Die Griechen und Europa
- Auβen und Innensichten im Wandel der Zeit, H. Heppner - O.
Katsiardi-Hering (Editors), Wien: Böhlau, 1998, S. 69-102; mit D. Dialetis und
M. Patiniotis, „The Sciences in the Greek Speaking Regions During the 17th and 18th
Centuries: The process of appropriation and the dynamics of reception and
resistance”, ARCHIMEDES,
Bd. 2, 1997; „The transmission
to and the assimilation of scientific ideas in the Greek speaking world
1700-1900: The case of chemistry”The Making of the Chemist, The Social History of Chemistry in Europe
1789-1914, edited by D.Knight, H.Kragh, Cambridge: Cambridge
University Press, 1998, S. 289-304.
[3]Ein anderes Werk in der Ästhetik in diesem Thema ist 2007 erschienen:
Michael Krausz, Interpretation and
transformation: explorations in art and the self, Amsterdam [u.a.], Rodopi,
2007.
Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. ISBN: 3-525-30152-9
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