Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Nathan Warszawski
In den Wissenschaften gibt es wahre, falsche und sinnlose
Aussagen. Wahre Aussagen lassen sich beweisen, falsche Aussagen lassen sich
widerlegen, sinnlose Aussagen sind weder falsch, noch wahr.
Wissenschaften basieren auf Axiome. Axiome sind notwendige
Behauptungen, um die Wissenschaft erst zu ermöglichen. Ein mathematisches
Axiom, ohne dem es keine Mathematik gäbe, lautet, dass jeder natürlichen Zahl
eine weitere Zahl folgt, die um 1 größer ist.
Axiome lassen sich weder beweisen, noch widerlegen. Nach der
obigen Definition sind Axiome sinnlos. Je weniger „sinnlose“ Axiome für eine
Wissenschaft notwendig sind, desto genauer ist sie. Mathematik und Physik sind
Wissenschaften mit den wenigsten Axiomen. Physikalische Aussagen lassen sich durch
Wiederholung eines Versuches beweisen oder widerlegen. Exakte Voraussagen sind
möglich: Wird ein Ball in einer gewissen Höhe über den Boden losgelassen, so
lässt sich der Zeitpunkt bis zum Auftreffen genau berechnen und durch Versuch
bestätigen.
Biologie und Medizin sind weniger wissenschaftlich Ob eine medizinische
Therapie anschlägt, lässt sich nur hoffen. In den Geisteswissenschaften gehören
eintreffende Voraussagen zu den seltenen Ereignissen. Hierzu gehört die
Politik.
Es wird verständlich, weshalb es viele Parteien gibt. Keine
Partei kennt die Zukunft, keine Partei kennt die Konsequenzen ihres Tuns, auch
nicht die Konsequenzen des Tuns Anderer. Politische Aussagen sind nach wissenschaftlichen
Kriterien sinnlos. Diplomatie hingegen ist ein Teilgebiet der Psychologie. Hier
erlernt man lügen, drohen und täuschen, ohne rot zu werden. Diplomatie gehört
zu den exakteren Wissenschaften.
Trotz großer Erfahrung, tiefer Sensibilität und
ausgezeichnetem Bauchgefühl, ist es so gut wie unmöglich, die Zukunft der
Ukraine vorherzusagen. Was wir politisch analysieren können, sind die Aussagen
der Politiker, die sich für Diplomaten halten.
Nehmen wir die allseits gern gesprochene und gehörte Phrase,
dass die Grenzen eines Landes nicht willkürlich geändert werden dürfen. Wenn
wir die letzten 100 Jahre in Europa Revue passieren lassen, so erscheint uns
die Beantwortung der Frage leicht, welches europäische Land in den letzten 100
Jahren keine Änderung seiner Grenzen erfahren hat: keines. Nicht einmal
Luxemburg, welches von Hitler-Deutschland annektiert worden ist.
Es wird spannender. Wie oft und in welche Richtung hat sich
die Grenze zwischen Deutschland (Kaiserreich, 3. Reich, BRD) und Polen in den
letzten 100 Jahre völkerrechtlich bewegt?
Polen als Staat existiert erst nach dem Ende des Ersten
Weltkrieges. Im Zweiten Weltkrieg wurde Polen aufgelöst. Zwischen 1949-1990
hatte die BRD keine gemeinsame Grenze mit Polen. Die Grenze Polens ist
westwärts gewandert. Die Grenzen Polens vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sind
völkerrechtlich anerkannt gewesen. Weder die aus Ostdeutschland vertriebenen
Deutschen, noch die aus Ostpolen (heute Weißrussland und Ukraine) nach Westen
vertriebenen Polen sind über die Umsiedlungen befragt worden. Leidglich nach
Ende des Ersten Weltkrieges hat es einige Plebiszite gegeben, deren Ergebnisse größtenteils
nicht umgesetzt worden sind. Glücklicherweise haben erst DDR, dann BRD die
Grenze zu Polen völkerrechtlich anerkannt, so dass es seitdem zu keinem Krieg zwischen
Deutschland und Polen gekommen ist. Lässt sich daraus schließen, dass die
heutige Grenze zwischen Deutschland und Polen niemals mehr verrückt werden
wird?
Die Grenzen zwischen Polen und Deutschland sind Folge der
von Deutschlands verlorenen Kriegen. Die Grenzen bilden das Recht des Stärkeren
ab. Das Recht des Stärkeren ist im Falle Polens-Deutschland das Völkerrecht.
Nehmen wir uns beliebige Grenzveränderungen heraus, die alle
auf das Recht des Stärkeren beruhen. 1950 nimmt die VR China Tibet ein, 1967
erobert Israel das Westjordanland und den Golan, 1974 marschiert die Türkei in
den Norden Zyperns ein, in den 1970-er Jahren verleibt sich Marokko
etappenweise die Westsahara ein, 2014 erobert Russland die Krim, die Jahrzehnte
ukrainisch gewesen ist, zuvor Jahrhunderte russisch.
Tibet ist völkerrechtlich Teil der VR China. Israels
Eroberungen werden von der Welt nicht anerkannt, genauso wenig wie die Republik
Nordzypern und die Westsahara als Teil Marokkos. Es wird wenige Jahre dauern,
bis die Krim als Teil Russland anerkannt werden wird.
Die völkerrechtliche Anerkennungen von Grenzveränderungen,
die alle ohne echte Volksbefragungen abliefen, erscheint nicht nur willkürlich,
sie sind es. Staaten erkennen sich mit ihren Grenzen gegenseitig an, wenn es
ihren Interessen dient. Wie die Grenzen entstanden oder verändert worden sind,
ist nebensächlich.
Waren aus Tibet werden unter „Made in PRC“ (People`s Republic of China)
verkauft. Waren und Dienstleistungen aus dem Westjordanland und dem Golan
werden boykottiert. Waren aus Nordzypern gelangen als zypriotisch, aus der
Westsahara als marokkanischin den
Welthandel. Waren aus der Krim werden kaum in die EU exportiert. Auch beim
Export ist Willkür am Werk.
Wie wird die Krim-Krise ausgehen? Eine wissenschaftliche
Antwort ist nicht möglich, denn alle Möglichkeiten stehen offen. Putin wird die
moralischen Toleranzgrenzen der EU ausloten wollen, was ihm nicht gelingen
wird, da die EU über keine moralischen Toleranzgrenzen verfügt. Es entspräche
der Logik, wenn die EU dann einschreitet, wenn ein Wegesehen ihr teurer
erscheint als ein Eingreifen. Da, wie beschrieben, nicht Logik sondern Willkür
das jegliches politisches Handeln bestimmt, ist es nicht möglich, die
politische Zukunft der Ukraine vorher zu bestimmen. Selbst Krieg ist möglich.
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