Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Heike Geilen
Im Jahr 2004 hielt die Welt den Atem an, als ganz Kiew im
November bei klirrenden Temperaturen Orange trug, um für eine demokratischere,
freiere und gerechtere Gesellschaft zu demonstrieren. Doch die euphorischen
Zeiten sind schon lange vorbei. Fast auf den Tag genau, nur neun Jahre später,
ein ähnliches Bild, nur ohne leuchtende Farben. Seit Ende des letzten Jahres
macht ein Land, seine Hauptstadt und das Zentrum von Kiew Schlagzeilen, füllt
die Seiten der Print- und Onlinemedien genauso wie die Berichterstattungen im
TV. Wieder stehen Hunderttausende auf dem Unabhängigkeitsplatz. "In der
Ukraine gibt es einen Euromajdan. Wie? Warum? Woher das denn?", fragt sich
nicht nur der Schriftsteller und Übersetzer Olexandr Irwanez. Nur dieses Mal
wird geschossen, gefoltert und erniedrigt. Dieses Mal gibt es Tote.
"'Ukraine' der Name ist beredt: Er bedeutet wörtlich
'an der Grenze'. Tatsächlich ist die Ukraine nach wie vor ein Puffer, ein Raum,
der von beiden Seiten als potentielles Einflussgebiet verstanden wird.",
so der Journalist und Publizist Kai Ehlers. Zugegeben, um mein Geschichtsverständnis
und eventuell tiefergehendes Hintergrundwissen in Bezug auf diesen größten Flächenstaat
Europas war es bis dato nicht übermäßig gut bestellt. Informationen drängten
eher zu massiv, zu grell und zu laut zu mir vor. Das Resultat: Sie rauschen
dann mit einem vielleicht leichten emotionalen Flattern allzu schnell und ohne
Tiefenwirkung vorbei. Das vorliegende Buch hat dem allerdings gehörig
abgeholfen und den ständig murmelnden Wortfluss gebündelt. Den beiden
Herausgebern, Übersetzerin Claudia Dathe und Andreas Rostek, Geschäftsführer
der editon.fotoTAPETA, ist es mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln
gelungen, ein konzentriertes, aber dennoch weit gefächertes Spektrum
unterschiedlichster Meinungen, Sichten und Insiderinformationen zu vereinen.
31 kurze Beiträge, in denen vor allem Schriftsteller,
Lyriker, Historiker, Augenzeugen, und Intellektuelle aus der Ukraine, aber auch
aus Großbritannien, Deutschland, Österreich oder Polen zu Wort kommen und die
zumeist im Januar und Februar 2014 entstanden, also im Brennpunkt des
Geschehens, beschreiben Momentaufnahmen des Aufstandes:
"Geschichtsschreibung des Augenblick", wie es die beiden Herausgeber
so treffend bezeichnen. Die Texte sind zuweilen sehr persönlich und erzählen
von ganz eigenen Erlebnissen im Herzstück der Auseinandersetzungen: auf dem
Majdan, in Charkiw, in Lwiw. Sie zeigen das Leben in der heutigen Ukraine, die
Unterschiede zwischen Ost und West im Land und decken die erschreckenden
Strukturen von Korruption und Gewalt auf. Sie weisen aber auch auf viele
historische Zusammenhänge hin und haben einen steten Bezug zu Europa.
Letztendlich stellt sich fast jeder Autor den Fragen nach den Perspektiven für
Veränderungen. Allen Beiträgen wohnt zudem ein gut verständlicher Lesestil
inne. Sie sind anschaulich und eingängig verfasst, frei von Populismus und
Opportunismus, weder angepasst noch engstirnig. Klare Gedanken, intelligent und
durchdacht formuliert, reflektieren das Geschehen. Sogar Gedichte sind darin
enthalten.
"Einen allgemeingültigen Plan gibt es nicht. Der
Widerstand gegen das System hat hunderte verschiedener Facetten.",
schreibt der Schriftsteller und Journalist Taras Prochasko. Aber gerade diese
Vielfältigkeit, die auch in diesem Buch zu finden ist, erlaubt dem Leser einen
differenzierten Blick und eine eigene Meinung, losgelöst von manch medialem Getöse.
Ein Buch, das zum Verständnis beiträgt, hochaktuell und hochbrisant ist. Denn
in "den 20 Jahren der Unabhängigkeit stand die Ukraine noch nie vor einer
so gefährlichen Situation wie heute. Aber noch nie waren auch die Chancen für
tiefgreifende positive Veränderungen so gut.", stellt Yaroslav Hrytsak, Historiker,
Publizist, Professor für Geschichte an der Katholischen Universität Lwiw,
folgerichtig fest. "Am Euromajdan wird nicht allein das Schicksal der
Ukraine entschieden. Dort geht es um Europa. Um die Seele Europas, das nicht an
der Schengengrenze endet." (Martin Pollack, Schriftsteller und Übersetzer
aus Wien).
Claudia Dathe, Andreas Rostek (Hrsg.)
Majdan! Ukraine, Europa
edition.fotoTAPETA (März 2014)
160 Seiten, Broschiert
ISBN-10: 394052428X
ISBN-13: 978-3940524287
Preis: 9,90 EUR
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