Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Eckart Löhr
When I heard the learn'd astronomer,
When the proofs, the figures, were ranged in columns before me,
When I was shown the charts, the diagrams, to add, divide, and measure them,
When I sitting heard the learned astronomer where he lectured
With much applause in the lecture room,
How soon unaccountable I became tired and sick,
Till rising and gliding out I wander'd off by myself,
In the mystical moist night-air, and from time to time,
Look'd up in perfect silence at the stars.
(Walt Whitman)
Einige Physiker gehen mittlerweile davon aus, dass der Urknall möglicherweise
nicht den absoluten Anfang markiert. Man glaubt zwar nach wie vor, dass vor dem
sogenannten Big Bang das Nichts gewesen ist, wobei sich dann das Problem stellt
zu erklären, wie aus dem Nichts etwas hervorgegangen sein soll. Der
amerikanische Physiker Michio Kaku zieht sich da elegant aus der Affäre, indem
er schlicht behauptet es käme darauf an, wie man dieses Nichts definiert. Er
übersieht dabei aber, dass sich das Nichts eben gerade dadurch auszeichnet,
über keine Eigenschaften zu verfügen die man definieren könnte. Tut man es
doch, hat man es eben nicht mehr mit dem Nichts zu tun. So glaubt er, dass vor
dem Big Bang eine Art energiereiches Vakuum existiert hat aus dem sich dann
alles weitere entwickelte. Damit setzt er allerdings wieder etwas voraus,
nämlich Energie, dessen Entstehung nicht weiter erklärt werden kann, frei nach
dem Motto „Give us one free miracleand we'll explain the rest” (Terence
McKenna). Es lohnt sich demnach darüber nachzudenken, was dieses Nichts denn
nun wirklich „ist“.
Kleine Philosophie des Nichts
Wenn wir über das Nichts sprechen, so denken wir in der Regel unbewusst immer
noch etwas mit, da wir als seiende Wesen naturgemäß nicht in der Lage sind uns
das absolut Nichtseiende vorzustellen. Da wir darüber hinaus über das Nichts
keine positiven Aussagen treffen können, bleibt nur, uns diesem Begriff ex
negativo zu nähern und sagen was es nicht ist. Unser „neti, neti“ („nicht so
und nicht so“) des Nichts sieht demnach folgendermaßen aus: Es ist nicht heiß,
das heißt, es hat keine Energie, aber es ist auch nicht kalt. Es ist nicht groß
und nicht klein, das heißt, es hat keinen Raum. Es ist weder hell noch dunkel
noch besteht es aus irgendetwas, weder aus Geist noch Materie, das heißt, es
hat keine Substanz. Es ist aber auch nicht Gott oder irgendeine metaphysische,
transzendente Ebene, das heißt, es hat keine letzte Ursache, kein Ziel und
keinen Sinn. Es ist absolut statisch, denn in ihm laufen keinerlei Prozesse ab,
denn dafür bedürfte es der Zeit, aber das Nichts kennt auch keine Zeit. Es ist
also auch Unfug zu sagen, dass dieses Nichts vielleicht nach Ewigkeiten des
Verharrens im Nichtsein plötzlich etwas hervorbringen könnte, denn ist ein so
gedachtes Nichts erst einmal da, so ist es ewig und selbst dieses Wort trifft
den Sachverhalt nicht, da es wiederum von einem wenn auch unendlich langem
Zeitraum ausgeht.
Wir sehen an dieser Stelle aber auch, dass unsere Sprache die Grenze unseres
Denkens markiert. Es war der griechische Philosoph Parmenides, der als erster
erkannte, dass Sein und Denken identisch sind („Dasselbe aber ist Denken und
des Gedankens Gegenstand“). Wenn wir also gerade behauptet haben, dass das
Nichts ewig ist, so ist das natürlich deshalb grundfalsch, da sich das Nichts
gerade dadurch auszeichnet, dass es eben nicht ist. Das Nichts zu denken endet
somit immer in dem Widerspruch, dass ich es für kurze Zeit als etwas Seiendes
denken muss, um es sofort wieder zu negieren. An dieser Stelle ist es dann auch
geraten diesen Gedanken abzubrechen, denn es dürfte hinreichend klar geworden
sein, was das Nichts „ist“, bzw. was es nicht ist.
Der metaphysische Urgrund des Seins
Dass es aber etwas gibt ist unbestreitbar und wohl das größte Geheimnis von
allen. „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ bleibt eine der
Grundfragen der Philosophie. Aus diesem Nichts aber, so wie wir es gerade
beschrieben haben, kann niemals etwas entstehen und so heißt es auch bei
Lukrez, dass „aus Nichts nichts wird, selbst nicht durch Willen der Götter.“
Und an dieser Stelle hören wir noch einmal Parmenides und sein berühmtes
Fragment: „So bleibt nur noch der Beweis des einen Weges übrig: dass es das
Seiende gibt. […] weil ungeworden, ist es auch unvergänglich, ganz, einzig,
unerschütterlich und ohne Ende. Und nie war es oder wird es sein, da es jetzt
zugleich ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes ist. […] Weder aus dem
Seienden kann es hervorgegangen sein; sonst gäbe es ja ein anderes Sein vorher.
Noch kann ich zulassen, dass du denkst oder sagst, es sei aus dem Nichtseienden
geworden. […] Was für ein Zwang hätte es denn auch dazu treiben können, früher
oder später mit dem Nichts zu beginnen und dann zu wachsen? So muß es denn
notwendig schlechthin vorhanden sein oder überhaupt nicht! Und nie wird die
Kraft der Überzeugung zulassen, dass aus dem Nichtseienden etwas neben ihm
entstände“. Es muss also anders sein. Die Antwort auf die Frage, was vor dem
Beginn des Universums, also vor dem sogenannten Urknall, war kann demnach nur
lauten, dass wir zwar nicht wissen was vorher war, aber sicher sein können, dass
etwas vorher war. Alle Kulturen zu allen Zeiten haben um dieses „Etwas“
gewusst.
Im Hinduismus ist es Brahman, der letzte Urgrund alles Seienden, reines
Erkennen, kausalitäts- und leidlos und zugleich identisch mit dem innersten
individuellen Wesen Atman. In den chinesischen Philosophien wird es das Tao
genannt, was ursprünglich Weg bedeutet. Zum einen steht Tao für den Weg der
Gestirne am Himmel, zum anderen aber auch für den sinnvollen Weg, der zum Ziel
führt. Es steht für die implizite Ordnung und das Gesetz und lässt sich auch
ganz schlicht mit Sinn übersetzen. Auch der Buddhismus, der zwar nicht an das
Dasein einer ewigen Ursubstanz glaubt, kennt den Begriff des Dharma, des ewigen
Weltgesetzes. Dieses Dharma offenbart sich in der Vollkommenheit des Kosmos,
wie in der moralischen Ordnung der Welt. In den drei monotheistischen
Religionen Christentum, Judentum und Islam ist es der ewige – im Unterschied zu
den anderen Religionen allerdings personal gedachte – Gott, bzw. JHWH (Jahwe)
und Allah. Der Aspekt der Zeitlosigkeit auch dieses Gottes zeigt sich
exemplarisch in der christlichen Überlieferung unter anderem bei Johannes, der
Jesus sagen lässt: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, bin ich,
und Augustinus schreibt: „Die Unsterblichkeit ist Gottes Substanz, weil Gott
nichts Veränderliches in sich trägt. Dort ist keine Vergangenheit (in dem
Sinne), dass es gleichsam nicht mehr sei. Nichts ist Zukunft, als ob es noch
nicht sei. Dort besteht lediglich: Ist. Es gibt dort nicht Es-War und Es-Wird,
weil etwa das, was war, nicht mehr ist, und was wird, noch nicht ist. Alles,
was dort ist, das ist reines Ist.“ Auch in der berühmten 112. Sure (tauhid) des
Koran zeigt sich die Ewigkeit Gottes, hier in der Fassung von Friedrich
Rückert: „Sprich, Gott ist Einer/ein ewig reiner/hat nicht gezeugt und ihn
gezeugt hat keiner/und nicht ihm gleich ist einer“.
In der sogenannten vorsokratischen Philosophie, die circa sechshundert Jahre
vor Christus in Griechenland mit Thales von Milet ihren Anfang nahm, wird der
Urgrund allen Seins von Anaximander, der ein Schüler und Nachfolger des Thales
war, das Unbestimmbare (apeiron) genannt. Über dieses Unbestimmbare sagt er:
„Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang
statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße für
ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit.“ Heraklit von Ephesos, der
große Philosoph des Werdens und der Veränderung und geistiger Gegenspieler des
Parmenides, bestimmte den Urgrund als das Absolute, den Logos, das völlig
übersinnliche, übermenschliche, überpersönliche Weltprinzip, das die
metaphysische Vernunft alles Geschehens ist. Auch Platons Schöpfergott (Demiurg)
schuf das All, indem er „nach dem Ewigen blickte“ und dieses „Ewige“ sind die
ewigen, ungewordenen und unzerstörbaren Ideen, von denen alles Bestehende nur
ein Abbild darstellt.
Es gibt kein Nichts
Wie auch immer die Erklärungsversuche im Einzelnen aussehen
mögen, in einem sind sich alle hier vorgestellten Denker einig: Es gibt kein
Nichts, sondern etwas war immer schon da und dieses Etwas liegt außerhalb der
Zeit und mit Sicherheit außerhalb physikalischer Erklärungsversuche. Eine
Physik, die hinter den Urknall zurück geht, ist ohnehin keine empirische
Wissenschaft mehr, sondern bereits Metaphysik im ursprünglichen Sinne des
Wortes (tà metà tà physiká, das was hinter der Physik liegt). Wenn aber dieses
Etwas außerhalb der Zeit existiert und somit keinen Anfang kennt und kein Ende,
so weiß vielleicht es selbst nicht um seine eigene Existenz, und so steht im
ältesten Teil der vier Veden, der großen Bücher des Hinduismus, im Rigveda:
„Von wannen diese Schöpfung ist gekommen, ob sie geschaffen, ob sie
ungeschaffen – das weiß nur er, der Allbeschauer droben am höchsten Himmel –
oder weiß auch er es nicht?“
Dieser interessante und durchaus legitime Gedanke von der
Unwissenheit Gottes steht dabei in klarem Gegensatz zur christlichen Religion,
wo es etwa im Brief des Paulus an die Korinther heißt: „So hat auch niemand
erkannt, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes“, und bei Thomas von Aquin
lesen wir „Gott erfasst sich vollkommen selbst, da er sich erkennt, soweit er
erkennbar ist.“
Vom Chaos zum Kosmos - zur Freiheit
Wir wissen jetzt also, dass etwas ist, außerhalb der Zeit. Können wir auch
etwas über die Eigenschaften dieses Etwas sagen? Nicht viel, aber doch eines
ganz gewiss: Dieser Urgrund alles Seienden muss zumindest das Potenzial
enthalten haben zu allem was ist und was noch sein wird. Bei diesem Potenzial
kann es sich allerdings nicht schon um Information im Sinne eines kosmogonischen
Logos gehandelt haben, denn, so heißt es bei Hans Jonas, „Information braucht
für sich selbst schon, als ihr physisches Substrat, ein artikuliertes und
stabiles System, wie es das molekular buchstabierte Genom von Lebewesen ist
(oder die magnetische Programmierung von Computern). Information ist also nicht
nur Ursache, sondern selber schon Ergebnis von Organisation, Niederschlag und
Ausdruck des vorher Erreichten, das dadurch perpetuiert, aber nicht überhöht
wird.“ Information ist demnach Gespeichertes und um irgendetwas zu speichern
fehlte im Urknall sowohl die Zeit als auch ein stabiles Speichermedium. Der
Informationsbegriff führt uns an dieser Stelle also auch nicht weiter.
Dass es aber eine wie auch immer geartete Kraft geben muss, die das Chaos in
den Kosmos überführt liegt auf der Hand. Das Universum und letztlich wir selbst
sind der schlagende Beweis für diese schlichte und doch völlig unerklärliche
Tatsache, die in der Wissenschaft auch als Anthropisches Prinzip bezeichnet
wird. Wie immer man die Dinge auch dreht und wendet, letztlich endet unser
Denken doch wieder bei der Erkenntnis des Parmenides, dass das Seiende
schlechthin da ist, ewig und ungeschaffen, mit Eigenschaften, die die
Entstehung der Welt erst möglich machen. Das Wesen des Seienden selbst liegt in
metaphysischer Dunkelheit. Doch diese metaphysische Dunkelheit ist zugleich die
transzendentale Offenheit, vor dessen Hintergrund das Dasein sich entfaltet.
Sie ist somit ein konstitutives Element unseres Menschseins. Die Fähigkeit,
über uns hinaus zu gehen und anderes und uns selbst zu hinterfragen, ist nur
möglich, weil wir auf diese radikale Offenheit hin angelegt und nicht in uns
geschlossene, durch und durch endliche Wesen sind. Wäre es so, das wusste schon
Arthur Schopenhauer, „könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße
Dasein, an sich selbst, müsste uns erfüllen und befriedigen.“ Die immer schon
bestehende Verwiesenheit des Menschen auf diese letzte Grenze ist somit ein
Existenzial, also eine fundamentale Gegebenheit unserer Spezies, der ewige
Antrieb des Fragens und die fortwährende Herausforderung unserer individuellen
Existenz. Auch wenn wir keine letzten Antworten finden können, ist dieser
Sachverhalt doch der letzte Grund unserer Würde, unserer Verantwortung wie
unserer Freiheit.
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