Erschienen in Ausgabe: No 100 (06/2014) | Letzte Änderung: 01.06.14 |
Nach den Missbrauchsskandalen der vergangenen Jahre hat die katholische Kirche einiges dazugelernt. Aber nicht überall. Und der Vatikan ist mit der Bearbeitung der Vergehen von Klerikern an Kindern und Jugendlichen völlig überlastet.
von Guido Horst
In seiner Ansprache vor der Vollversammlung der
Glaubenskongregation am 31. Januar hat Papst Franziskus von einer
besonderen Kinderschutzkommission des Vatikans gesprochen, die er sich
unter dem Dach dieser Kongregation vorstellen kann. Und eine Woche
später musste das Presseamt des Vatikans einen Bericht des
Kinderschutzkomitees der Vereinten Nationen teilweise zurückweisen, der
einige richtige Aussagen zum Kinderschutz durch die katholische Kirche
und die römische Kurie mit unhaltbaren Anklagen und Aufforderungen
verbunden hatte. Es gibt in Rom einen deutschen Experten für
Kinderschutz, den Jesuiten Hans Zollner, der das Institut für
Psychologie der Päpstlichen Hochschule Gregoriana leitet und in München
bereits ein Kinderschutzzentrum gegründet hat. Wir fragten ihn, wie es
in Rom und in der Weltkirche beim Thema Kinderschutz weitergegangen ist,
nachdem die Missbrauchsskandale die Öffentlichkeit nicht nur in
Deutschland oder Irland beziehungsweise in den Vereinigten Staaten
erschüttert haben.
Sie haben 2012 zusammen mit der Erzdiözese München-Freising
und der Universität Ulm das „Centre for Child Protection“ der Gregoriana
begründet. Ende dieses Jahres soll es nach Rom umziehen. Wie arbeitete
das Zentrum bisher, wie wird es in Zukunft arbeiten?
Unser
Zentrum ist ein Zentrum für Präventionsarbeit. Wir können keine
Aufarbeitung von Fällen der Vergangenheit leisten und keine Therapie
anbieten, weder für Opfer noch für Täter. Unsere Tätigkeit ist dahin
ausgerichtet, dass wir möglichst alles tun, damit es so wenig wie
möglich zu Missbrauchsfällen kommt. Wir bieten ein Internet-gestütztes
Lernprogramm an, das wir in Zusammenarbeit mit der Kinder- und
Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm entwickeln. Bisher gibt es das
Lernprogramm auf Deutsch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Wir sind
insgesamt in zehn Ländern in Pfarreien oder akademischen Institutionen
vertreten. Dort nehmen jeweils hundert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
an dem Programm teil. Die Probephase beträgt drei Jahre und endet in
diesem Jahr. Im Anschluss daran folgt eine Auswertung: Was funktioniert
und was müssen wir verbessern? Das Lernprogramm geht auf Fragen ein, die
in dem Bereich der Prävention wichtig sind: Wie kann ich Missbrauch
erkennen? Was muss ich dem möglichen Opfer oder Täter gegenüber tun? Wie
ist die Rechtslage in meinem Land? Was sind die Rechtsvorschriften der
Kirche? Welche theologischen, geistlichen, pastoralen Hilfen kann ich
anbieten, damit die Präventionsarbeit wirklich auch weiter geht und
vertieft wird?
Wie sieht Kinderschutz in kirchlichen Einrichtungen aus? Wie
kann man auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs Präventionsarbeit
leisten?
In jeder Einrichtung basiert
Kinderschutz auf einigen Grundregeln. Kinder müssen sich äußern können
und wissen, was ihre Rechte sind. Man muss ihnen erklären, dass es
bestimmte Dinge gibt, über die sie mit einer Person ihres Vertrauens,
mit einer Lehrerin oder einer Person, die benannt ist, reden können und
sollen. Wenn sich ihnen beispielsweise eine Person zu sehr nährt oder
ihnen an dem Verhalten eines Erwachsenen irgendetwas komisch vorkommt.
Das zweite ist, dass man Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Schulungen
anbietet, um klar zu machen, was in Ordnung ist und was nicht. Dass ich
Kinder nicht alleine in meine Privaträume oder in abgeschlossene Räume
mitnehme. In einer Schule, einem Heim oder Internat muss es einen
Mechanismus geben, wie vorgegangen wird, wenn Missbrauchsfälle gemeldet
werden. Es braucht vor allem eine Schärfung der Aufmerksamkeit, ohne
aber jedwede Art von Kontakt zu dämonisieren. Denn wir wissen auch, dass
es für Kinder schwierig ist, einen Erwachsenen kalt und abweisend zu
erleben.
Früher war es doch normal, dass der Kaplan mit den Messdienern auch mal weggefahren ist. Das würde es so heute nicht mehr geben?
Das
wird es so heute nicht mehr geben, jedenfalls wenn der Kaplan allein,
ohne weitere erwachsene Begleitung wegfährt. Denn genau in diesen
Situationen kam es häufig zu Übergriffen und Missbrauch. Deshalb ist es
nur im Interesse von Kaplänen oder Pastoralreferenten oder
-referentinnen, immer mindestens zu zweit aufzutreten und bei solchen
Fahrten oder Aktivitäten möglichst auch Verantwortliche beiderlei
Geschlechts dabei zu haben. In den USA ist es inzwischen undenkbar, dass
ein Priester ein Kind auch nur berührt oder er mit einem Kind allein in
einem Raum ist, in den man nicht hineinschauen kann. Dergleichen wäre
aber in Lateinamerika, Afrika oder Indien völlig unvorstellbar, schon
aus kulturellen Gründen – Berührung gehört zur Begegnung dazu – und weil
man eine solche Art der „Hypersensibilität“ als „krank“ empfinden
würde.
Der Fall Edathy zeigt, wie sehr die Öffentlichkeit
sensibilisiert ist, wenn es um Pädophilie geht. Ist das auch in der
Kirche, vor allem im Klerus, seit der Missbrauchskrise des Jahres 2010
der Fall?
Natürlich ist das in den Ländern so, in denen es
eine solch breite öffentliche Diskussion gibt, wie wir sie jetzt in
Deutschland seit etwa vier Jahren haben. Das ist in Irland sicherlich
der Fall, ebenso in den Vereinigten Staaten wie in manchen Teilen
Lateinamerikas. In Asien oder in den allermeisten Ländern Afrikas, mit
einigen wenigen Ausnahmen, ist es aber überhaupt nicht der Fall.
Zur Klärung der Begriffe: Was ist wirklich Pädophilie und wie
häufig ist sie das eigentliche Problem bei den Missbrauchsfällen? Ist
es nicht häufiger, dass sich Priester oder Ordensleute an jungen
Heranwachsenden vergangen haben?
Pädophilie im
psychiatrischen Sinn ist der sexuelle Missbrauch von vorpubertären
Kindern oder die sexuelle Erregung durch sie. Wenn Jugendliche
missbraucht werden, spricht man von Ephebophilie (wobei damit meist
allgemein der Missbrauch von männlichen und weiblichen Jugendlichen
gemeint ist). Insgesamt handelt es sich – soweit wir das wissen können –
beim sexuellen Missbrauch von Minderjährigen um zehn Prozent Pädophilie
und neunzig Prozent Ephebophilie. Die „Promotori di Giustizia“
(„Generalstaatsanwälte“ der Kirche), die in der Glaubenskongregation die
Untersuchungen von Missbrauchsfällen in den letzten 13 Jahren geleitet
haben, Monsignor Charles Scicluna bis 2012 und Pater Robert Oliver als
sein Nachfolger, haben Zahlen genannt, die für den Klerus exakt das
widerspiegeln, was man auch für die Gesamtgesellschaft vermutet. Doch es
gibt einen entscheidenden Unterschied, was das Geschlecht der
Missbrauchsopfer angeht, die von Priestern missbraucht werden. Das John
Jay College in New York hat in den Jahren 2002 und 2010/2011 Studien im
Auftrag der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten veröffentlicht.
Untersucht wurden Missbrauchsfälle, die in den Vereinigten Staaten von
1950 bis 2010 durch Priester verübt wurden, es wurde auch ein Vergleich
zu anderen Religionsgemeinschaften gezogen. Das sind die bedeutendsten
Studien, die es auf diesem Feld weltweit überhaupt gibt, nicht nur in
der Kirche, sondern insgesamt. Da wird festgestellt, dass achtzig
Prozent des Missbrauchs durch Priester an männlichen Jugendlichen
geschah. Dies ist genau entgegengesetzt zu dem, was das
gesamtgesellschaftliche Bild angeht, wo etwa 75 Prozent der
missbrauchten Jugendlichen Mädchen sind.
Und wieder zur Klärung der Begriffe: Was ist Aufgabe und
Verantwortung des Vatikans, was liegt in der Kompetenz der
Bischofskonferenzen, was in der des einzelnen Ortsbischofs oder der
Ordensleitungen?
Bei dem Bericht des Kinderschutzkomitees
der Vereinten Nationen zeigt sich ein völliges Nicht-Verständnis dafür,
was der Heilige Stuhl, was der Vatikan-Staat und was die katholische
Kirche sind und welche Kompetenzen Rom im Vergleich zu den
Bischofskonferenzen hat. Der Heilige Stuhl hat für das Staatsgebiet des
Vatikans die Kinderrechtskonvention unterschrieben und hat die Aufgabe,
für die wenigen Kinder, die es da gibt, Rechtssicherheit zu schaffen.
Und das hat man getan. Der Heilige Stuhl mit seinen Dikasterien hat
zudem dafür zu sorgen, dass die Bischofskonferenzen ihre Hausarbeiten
machen und für ihr jeweiliges Staatsgebiet entsprechende Leitlinien
entwickeln und umsetzten. Dass der Heilige Stuhl keine Weltregierung der
Kirche ist, sieht man schon daran, dass es keine Sanktionsmöglichkeiten
gibt, wenn eine Bischofskonferenz keine Leitlinien umsetzt oder sie
nicht einmal entwickelt, wie das die Glaubenskongregation für Juni 2012
eingefordert hatte. Es gibt immer noch zehn bis fünfzehn Prozent von
Bischofskonferenzen, die auf diesem Gebiet nichts gemacht haben. Das
sind fast alles frankophone afrikanische Länder, in denen die
Bischofskonferenzen vielleicht auch andere Probleme haben, wie in der
Zentralafrikanischen Republik. Man sieht, dass der Heilige Stuhl keine
Regierung ist, die sagen könnte: „Entweder ihr macht das oder ihr
fliegt.“ Wie soll denn der Heilige Stuhl das durchsetzten? Die
nationalen Bischofskonferenzen müssen in Eigenverantwortung ihre
Hausaufgaben machen: in Deutschland, Österreich und Schweiz ist das
mittlerweile vorbildlich geschehen. Sie müssen festlegen, wie mit
Opfern, wie mit Tätern umzugehen ist. Was sie im Hinblick auf die
Priesterausbildung zu tun gedenken und welche Präventionsmaßnahmen
durchgeführt werden. All das muss dann vom jeweiligen Ortsbischof
umgesetzt werden. Eine Frage beschäftigt vor allem die Medien und Bürger
in den USA: Welche Mitverantwortung hat der jeweilige Ordinarius, also
der Bischof oder der Provinzial, wenn ein Priester entweder nicht
angezeigt oder wenn er versetzt wird, ohne dass entsprechende Kenntnis
an die Pfarreien, andere Bischöfe und Einrichtungen geschickt wurde und
dadurch das Böse, der Missbrauch, sogar weiter verbreitet wird. Hier ist
tatsächlich im Kirchenrecht nicht geklärt, welche Mitverantwortung
oder, wie die Amerikaner sagen, welche „bishops‘ accountability“ es
gibt. Im Kirchenrecht gibt es hierfür bisher keine klar definierte
Rechtsgrundlage. Es gibt allerdings Bischöfe, die wegen eklatantem
Fehlverhalten aus diesen Gründen abgesetzt wurden. Andererseits gibt es
in den USA bekannte Fälle von Bischöfen, die das jeweilige Landesrecht
nicht beachtet haben. Da gibt es tatsächlich großen Nachholbedarf.
Aber die Glaubenskongregation hat schon 2001 die Kompetenz für Missbrauchsfälle von Klerikern an sich gezogen.
Wenn
es einen begründeten Anfangsverdacht gibt, wird der Fall nach Rom
überstellt. Diese Zentralisierung ist geschehen, weil sich die
Heimatbistümer und Bischofkonferenzen oft damit nicht befasst haben und
die Kleruskongregation damals nicht unmissverständlich das durchgesetzt
hat, was schon längst kirchenrechtliche Norm war. Sie haben das nicht
umgesetzt und Fälle verschleppt oder nicht weiter verfolgt.
2001 hat
dann Kardinal Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation
diese Kompetenzen zentralisiert an die Glaubenskongregation gebunden.
Das hat vor allem zwei Nachteile. Die Bistümer, beziehungsweise die
Metropoliten oder Bischofkonferenzen, werden zu sehr aus ihrer
Verantwortung entlassen, und gleichzeitig läuft zuviel Arbeit in Rom
auf. Die zehn Leute, die in der zuständigen Sektion der
Glaubenskongregation arbeiten, sind mit dem schieren Arbeitsaufwand
überfordert. Man bräuchte dort deutlich mehr Leute, um alles schnell und
transparent bewältigen zu können. Oder man müsste mehr an die
Bischofskonferenzen oder an die Bistümer zurückgeben können. Das geht
aber nur, wenn in den Lokalkirchen auch genügend Kirchenrechtler zur
Verfügung stehen. Aber in sehr vielen Ländern dieser Welt ist genau dies
nicht der Fall. Weil die untere Ebene nicht genügend gut funktioniert,
muss bisher alles nach Rom geschickt werden.
Was den Missbrauch angeht, so hapert es in der katholischen Weltkirche also noch...
Natürlich
ist das der Fall. Schlimmer noch, ich würde sagen, dass es insgesamt in
den meisten Ländern und ihren Gesellschaften noch sehr hapert, was die
Aufmerksamkeit für Missbrauch und die Aufarbeitung angeht. Vor acht
Wochen war ich in Indien. Der indische Staat hat vor zwei Jahren ein
sehr strenges Anti-Missbrauchsgesetz eingeführt. Doch das Problem ist:
man hat klare Texte, aber die Umsetzung geschieht nicht. Es gibt eine
offizielle indische Staatsstatistik, die besagt, dass 52 Prozent aller
Minderjährigen in Indien sexuell missbraucht werden. Das sind
zweihundert (!) Millionen junge Menschen. Diese Dimensionen muss man
sich vor Augen führen.
Auch die katholische Kirche ist offensichtlich
in einigen Gegenden dieser Welt noch nicht genügend sensibilisiert. Das
betrifft Teile Osteuropas, große Teile Afrikas, manche Länder Asiens.
In Lateinamerika wird aufgrund von eklatanten Fällen wie in Mexiko oder
Chile viel mehr diskutiert. Das Thema ist heute zwar deutlich präsenter,
aber noch nicht flächendeckend. Gleiches galt, wenn wir ehrlich sind,
bis vor vier Jahren auch für Deutschland. Wie soll sich das jetzt von
einem Tag auf den anderen in allen Ländern gleichzeitig ändern?
Bei der Vorstellung des besagten UNO-Berichts war dann
plötzlich davon die Rede, Rom solle seine Haltung zur Homosexualität und
Abtreibung ändern. Hatte das Ganze nicht doch eine ideologische Spitze?
Dieser
Bericht ist aus verschiedenen Textbausteinen zusammengesetzt. Am Anfang
gibt es einige anerkennende Worte zu den kirchlichen Entwicklungen,
speziell, was die Gesetzgebung für das vatikanische Staatsgebiet angeht.
Je weiter man dann im Text kommt, umso mehr tauchen Dinge auf, bei
denen man sich fragt, wie die überhaupt da reinkommen und welcher Ton
angeschlagen wird. Es wird zum Beispiel sogar verlangt, die Bibel nach
einer bestimmten Methode zu interpretieren – völlig absurd. Themen wie
Umgang mit Sexualität insgesamt, mit Homosexualität aber auch mit
Abtreibung und Verhütung werden medienwirksam platziert, die aber mit
dem eigentlichen Thema nichts zu tun haben. Das Hauptanliegen des Textes
wird so leider konterkariert. Man hätte sich vorstellen können, dass
die Vereinten Nationen sagen, die Kirche habe sich in den letzten
vierzehn Jahren bemüht, es gebe noch Hausaufgaben zu machen, und dass
die Vereinten Nationen mit der katholischen Kirche im Sinn des
Kinderschutzes zusammenarbeiten könne und wolle. Aber man verweigert
sich der Tatsache, dass in vielen Ländern dieser Welt die katholische
Kirche diejenige Institution ist, die am meisten für den Kinderschutz
tut. In Indien zum Beispiel tun die katholischen Schulen effektiv mehr
für die Entwicklung von Mädchenrechten als der Staat.
Wenn die Glaubenskongregation einen Missbrauchsfall
untersucht, tut sie das nicht öffentlich. Auch viele Opfer von
Missbrauchsfällen wünschen sich Diskretion. Wie verträgt sich das mit
dem Ruf nach Transparenz und gegen jede Vertuschung, der im Zusammenhang
mit Missbrauch immer wieder zu hören ist?
Die Transparenz,
die gefordert wird, bezieht sich sehr oft auf Zahlen und Namen der
Missbrauchstäter. Ich glaube, dass niemand, der einigermaßen vernünftig
denkt, erwarten kann, dass der Heilige Stuhl Personal- oder Prozessakten
von Priestern öffentlich macht. Man sieht ja gerade an den jüngsten
Äußerungen zum Fall Edathy, dass dann Persönlichkeitsrechte sofort
eingeklagt werden und man in Teufels Küche käme, wenn man hier einer
dritten Organisation, wie den Vereinten Nationen, solche Akten
überstellen würde. Ein anderer Bereich, und da müssen wir wirklich was
verbessern, ist die Prozesstransparenz, das heißt, dass Opfer und auch
Täter wissen, an welchem Punkt ihr Prozess steht. Das ist nämlich leider
oft nicht gegeben. Opfer warten unter Umständen Jahre darauf, dass sie
eine Nachricht darüber bekommen, an welchem Punkt ihr Prozess steht. Das
ist nicht nur unbefriedigend, sondern auch höchst belastend und
ärgerlich.
Was sollte sich in Rom ändern?
Wenn der Prozess
in Rom liegt, müssten Opfern informiert werden oder nachfragen können.
Das passiert schon aus rein logistischen Gründen nicht, weil nicht
genügend Leute hier sind, die dies leisten können. In Rom hatten wir
nach Aussage der beiden genannten „Promotori di Giustizia“ in den
letzten vierzehn Jahren etwa 4500 Anzeigen gegen Priester als
Missbrauchstäter mit einer deutlich höheren Zahl an Opfern. Wie sollen
die zehn Leute, die daran arbeiten, mit jedem Opfer in Kontakt stehen?
Das ist schlicht nicht zu schaffen. Dies muss angegangen werden.
Stimmt es, dass es in den siebziger und achtziger Jahren eine
richtige Welle an Missbrauchsfällen im Klerus gab? Wenn ja, woran liegt
das?
Mit einiger Gewissheit können wir vermuten, dass die sexuelle Revolution Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre dazu
beigetragen hat, dass die Grenze zwischen dem normalen Körperkontakt mit
Kindern und dem sexuellen Übergriff fließend geworden war und dass auch
aus ideologischen Gründen sexueller Kontakt zwischen Erwachsenen und
Kindern aktiv propagiert und von politischen Lobby-Gruppen bis in
Gesetzesentwürfe hinein getragen wurde.
Statistisch gesehen gibt es
eine eklatant höhere Zahl von Missbrauchsfällen, die aus den sechziger,
siebziger und bis Anfang der achtziger Jahre berichtet wird. Seitdem
gehen die Zahlen kontinuierlich und drastisch zurück. Woran das liegt?
Es gibt Unwägbarkeiten in der Statistik. Sicherlich gab es auch vor 1960
viele Fälle, die aber oft nicht berichtet wurden. Wir hören ja nur von
einem Bruchteil der Fälle, die in der Kirche, vor allem aber in der
Gesamtgesellschaft geschehen. Die Dunkelziffer ist unglaublich hoch.
Opfer müssen den Mut aufbringen, über den Missbrauch zu sprechen – das
ist schwer und passiert offensichtlich oft erst dann, wenn ein
bestimmtes Maß an öffentlichem Interesse entstanden ist. Die
Missbrauchsfälle, die 2010 bis 2014 in Deutschland gemeldet wurden, sind
fast alle vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren geschehen.
(c) www.vatican-magazin.de
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