Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
Im Bereich der Außenpolitik wurden vor 60 Jahren die entscheidenden Weichenstellungen für die Ratifizierung der Pariser Verträge gelegt, die die Nachkriegsepoche maßgeblich mitprägten. Die Pariser Verträge beendeten das Besatzungsstatut in Westdeutschland beendete verliehen der jungen Bundesrepublik ein Plus an Souveränität.
von Michael Lausberg
Die Frage der Zugehörigkeit des
Saargebietes stellte ein strittiges Problem der deutsch-französischen
Beziehungen dar.[1] Die
französisch-saarländischen Konventionen von 1953, die nach dem Text der
Präambel die Ausarbeitung eines europäischen Status für die Saar erleichtern
sollten, verstärkten die Autonomie der Saarregierung, ohne die Wirtschaftsunion
anzutasten. Während die französische Regierung die Anerkennung dieser Regelung
als Voraussetzung für die Ratifizierung des EVG-Vertrages erklärte, wies die
Bundesregierung darauf hin, dass die freie Meinungsbildung und insbesondere
freie Wahlen im Saargebiet nicht gewährleistet seien und dass die Saarfrage
eine Frage der deutschen Grenzen sei und deshalb einer friedensvertraglichen
Regelung vorbehalten bleiben müsse. Die Saarfrage wuchs sich in der Folgezeit
zum europäischen Problem aus.
Ein bedeutsamer
Lösungsvorschlag kam von dem niederländischen Delegierten van Naters. Er legte
im September 1953 einen Plan zur Europäisierung des Saargebietes vor, nach dem
die auswärtigen Angelegenheiten und die Verteidigung in die Hände eines dem
Europarat verantwortlichen europäischen Kommissars gelegt, die
französisch-saarländischen Wirtschaftskonventionen durch ein Abkommen über die
wirtschaftliche Zusammenarbeit ersetzt und die neue Verfassung einer
Volksabstimmung unterworfen werden sollten. Sowohl französischer- als auch
deutscherseits gab es noch viele Einwände, so dass langwierige Verhandlungen
folgten. Trotzdem enthielt der van-Naters-Plan die Voraussetzungen für eine
spätere Lösung, da er die freie Willensäußerung der Bevölkerung des Saarlandes
über ihre eigene Zukunft vorsah.
Ende August 1954 wurde in der
französischen Nationalversammlung der EVG-Vertrag mit 319 gegen 264 Stimmen bei
12 Enthaltungen abgelehnt. Als Gründe wurden genannt: Die von Frankreich
geforderten zusätzlichen Bedingungen – Regelung der Saarfrage und Bindung
Großbritanniens an die EVG – seien bislang nicht erfüllt. Der Vertrag würde
außerdem die Souveränität und Unabhängigkeit Frankreichs vermindern, während
Deutschlands Souveränität gestärkt würde. Das souveräne Deutschland bekäme die
Möglichkeit, mit der Sowjetunion zu verhandeln, während es gerade Frankreichs
Aufgabe wäre, mit der Sowjetunion eine Zusammenarbeit abzuschließen. Die Furcht
einer erneuten Remilitarisierung des postfaschistischen Deutschlands so kurz
nach dem Ende des 2. Weltkrieges prägte auch das Misstrauen der Parlamentarier_innen.
Am 31.8.1954, ein Tag nach der
Abstimmung in Paris, wurde im britischen Kabinett eine Konferenz der sechs
EVG-Staaten mit Großbritannien und den USA erwogen, um über einen deutschen
Wehrbeitrag in anderer Form zu beraten. Nachdem der britische Außenminister
Eden Mitte September in den Hauptstädten der EVG-Staaten Vorbesprechungen
abgehalten hatte, konnte vom 28.9-3.10 eine Neunmächtekonferenz in London
stattfinden, auf der eine Reihe bedeutsamer Beschlüsse gefasst wurden.[2]
1.Das Besatzungsregime in der BRD sollte
aufgehoben und die Alliierte Hohe Kommission abgeschafft werden, ohne dass
diese Maßnahmen unbedingt an den Zeitraum des Inkrafttretens von Abmachungen
über einen deutschen Wehrbeitrag gebunden wären.
2.Die BRD und Italien sollten dem Brüsseler Pakt
vom 17.3.1948 beitreten, in dem sich die Beneluxstaaten, Großbritannien und
Frankreich zu gegenseitigem Beistand im Falle eines Angriffs verpflichtet
hatten. Zeitgleich sollte der Pakt als Westeuropäische Union eine neue Struktur
erhalten.
3.Die USA und Großbritannien sicherten eine
weitere Stationierung von Streitkräften auf dem europäischen Kontinent zur
gemeinsamen Verteidigung zu.
4.Die BRD sollte in die NATO aufgenommen werden.
5.Die BRD erklärte, dass sie sich an den
defensiven Charakter der NATO und des Brüsseler Paktes gebunden betrachte und
eine Wiedervereinigung oder eine Änderung ihrer Grenzen nicht mit gewaltsamen
Mitteln trachte.
6.Die USA, Großbritannien und Frankreich
erklärten, dass sie die Bundesregierung allein als rechtmäßige deutsche
Regierung betrachteten und dass eine friedensvertragliche Regelung für
Gesamtdeutschland, die Wiedervereinigung und der Schutz Berlins grundsätzlich
Ziele ihrer Politik seien
Nach einer Debatte über diese
Beschlüsse sprach die französische Nationalversammlung dem Ministerpräsidenten
Mendes-France mit 350 gegen 113 Stimmen bei 152 Enthaltungen das Vertrauen aus.
Damit war deutlich, dass die Hemmnisse, an denen der EVG-Vertrag gescheitert
war, den neuen Regelungen nicht im Weg stehen würden. Allerdings wurde von den
französischen Parlamentarier_innen die Forderung erhoben, dass eine Lösung der
Saarfrage in die Reihe der neuen Abmachungen einbezogen werden müsse.
Die Beteiligung der BRD und
Italiens an der durch Änderung und Ergänzung des Brüsseler Paktes neu
gestalteten Westeuropäischen Union (WEU)[3]
war ein wesentlicher Bestandteil des gesamten Vertragswerkes. Hierin lag das
entscheidende Moment für die Überwindung der französischen Vorbehalte gegen
eine deutsche Remilitarisierung im Rahmen der NATO. Charakteristisch war, dass
sich der eigentliche Zweck der WEU klar von dem des Brüsseler Paktes
unterschied. 1948 hatten sich Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten
zu gegenseitiger wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Zusammenarbeit verpflichtet
und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines deutschen Angriffs
versprochen. Jetzt wurde dasjenige Land, vor dem man sich sechs Jahre vorher
noch hatte schützen wollen, selbst Vertragspartner. Während der Brüsseler Pakt
noch vom Geist des 2. Weltkrieges her bestimmt war, resultierte die WEU aus der
ganz anders gearteten Situation des sich immer weiter zuspitzenden Kalten
Krieges.
Die WEU trat an die Stelle der
EVG, indem sie „die Einheit Europas fördern und seine fortschreitende
Integrierung unterstützen“ sollte.[4]
Die Mitgliedsstaaten der neuen Gemeinschaft deckten sich mit denen der EVG, nur
dass auch Großbritannien jetzt beteiligt war. In militärischer Hinsicht sah der
WEU-Vertrag eine enge Zusammenarbeit mit den Organen der NATO vor. Den französischen
Befürchtungen, dass Westdeutschland durch die Remilitarisierung zu viel Macht
gewinnen könnte, wurde dadurch begegnet, dass sich die BRD als einziger
Vertragspartner verpflichtete, auf ihrem Gebiet keine atomaren, biologischen
und chemischen Waffen (Abc-Waffen) herzustellen. Ein Rüstungskontrollamt bekam
das Recht, Produktionsanlagen, Depots und Streitkräfte zu inspizieren. Die
bereits in einem Sonderabkommen zum EVG-Vertrag festgesetzten Höchstgrenzen für
Gesamtstärke und Anzahl der Verbände in Friedenszeiten wurden beibehalten. Die
BRD durfte insgesamt Streitkräfte bis zu 500.000 Personen aufstellen.[5]
Der vorgesehene Beitritt der
BRD zur NATO steckte den neuen Rahmen für den deutschen Verteidigungsbeitrag
ab. Im Regelfall waren die NATO-Streitkräfte auf den Stufen der Armee und der
Armeegruppe integriert. Deutsche Kontingente sollten also dem
NATO-Oberbefehlshaber unterstellt werden.
Das Vertragswerk wurde
schließlich ergänzt durch den Abschluss eines deutsch-französischen
Sonderabkommens, das die lange Kontroverse über das Saargebiet beenden sollte.
Für das Saargebiet wurde „im Rahmen der WEU ein europäisches Statut“ ins Auge
gefasst, das durch eine Volksabstimmung gebilligt werden musste.[6]
Landesverteidigung und auswärtige Angelegenheiten sollten in den Händen eines
dem Rat der WEU verantwortlichen europäischen Kommissars liegen, auf allen
anderen Gebieten war eine Selbstverwaltung vorgesehen. Für die Volksabstimmung
erhielten alle politischen Parteien, Vereine, Zeitungen und öffentlichen
Versammlungen Genehmigungsfreiheit. Diese Regelung entsprach etwa dem
van-Naters-Plan von 1953.
Nach der Unterzeichnung aller
Verträge begann abermals das Ringen um die Ratifizierung. Obwohl dabei erneut
erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden waren, konnte dieser Vorgang innerhalb
eines halben Jahres abgeschlossen werden. Die französische Nationalversammlung
stimmte der Ratifizierung am 30.12.1954, der Rat der Republik am 27.3.1955 zu.
Vom Bundestag wurde das Vertragswerk am 27.2.1955 gebilligt. Dabei stimmten die
CDU/CSU- und die DP-Fraktion nahezu geschlossen mit Ja, während die FDP-, und
die BHE-Fraktion das Saarabkommen in der Mehrheit ablehnten und die
SPD-Fraktion geschlossen gegen alle Verträge stimmte. Die SPD begründete ihre
grundsätzlich ablehnende Haltung damit, dass durch die Pariser Verträge die
Wiedervereinigung, das oberste Ziel der deutschen Politik, unmöglich gemacht
werden könnte. Sie forderte deshalb eine Aussetzung des Beitritts zur NATO und
zur WEU, bis erneute Wiedervereinigungsverhandlungen ergebnislos bleiben
würden.
Während der
Ratifizierungsperiode unternahmen die osteuropäischen sozialistischen Staaten
nochmal alle Anstrengungen, um die Remilitarisierung Deutschlands zu
verhindern. Auf einer Konferenz in Moskau Ende 1954 forderten sie die Westmächte
zum Verzicht auf die Londoner und Pariser Beschlüsse auf, die sie als
„Haupthindernis für eine Wiedervereinigung Deutschlands auf friedlicher und
demokratischer Grundlage“ bezeichneten, und verlangten erneut ein System
kollektiver Sicherheit für Europa.[7]
In der Bundesrepublik wurden
auch Stimmen laut, die sich für weitere Verhandlungen mit der Sowjetunion
aussprachen.[8] Am
29.1.1955 fanden sich in der Frankfurter Paulskirche rund tausend Menschen
verschiedener Parteirichtungen und Weltanschauungen zusammen, um gegen die
Zustimmung zu den Pariser Verträgen zu protestieren. Prominente Vertreter_innen
der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens wie der Soziologe Alfred Weber,
der DGB-Vorsitzende Georg Reuter, der Theologe Helmut Gollwitzer, der ehemalige
Innenminister Gustav Heinemann und der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer
forderten eine Revision der westdeutschen Politik, damit aus ihrer Sicht die
westdeutsche Teilung nicht auf absehbare Zeit stabilisiert würde. Die sich
ausbreitende pazifistische Bewegung befürchtete, dass Deutschland bei einer
Eskalation des Kalten Krieges zwischen den Machtblöcken gleichsam zerrieben
werde, sondern wollte auch vermeiden, dass der gerade besiegte deutsche
Militarismus wieder auflebte.In
einem „Deutschen Manifest“ verlangte die Versammlung Viermächtevereinbarungen
zur Wiedervereinigung vor dem weiteren Ausbau der militärischen Blockbildung.
Diese Forderungen blieben jedoch ergebnislos.
Bei der Annahme des
Vertragswerkes im Bundestag stimmten alle Fraktionen zugleich einer
Entschließung über die deutsche Einheit zu. Darin wurde die Wiedervereinigung
als vordringliche Aufgabe der deutschen Politik bezeichnet. Weiterhin wurde die
Verpflichtung der Westmächte, das gleiche Ziel zu verfolgen, betont und
Verhandlungen der Großmächte über freie Wahlen, Wiedervereinigung und
Friedensvertrag gefordert und die Einrichtung einer ständigen Kommission der
Westmächte und der Bundesrepublik zur Erörterung aller sich bietenden
Gelegenheiten für die Wiedervereinigung und zur Vorbereitung von Verhandlungen
empfohlen.
Mit der Hinterlegung der
Ratifikationsurkunden am 5.5.1955 traten die Pariser Verträge in Kraft.[9]
Die Alliierte Hohe Kommission löste sich auf. Am gleichen Tag gab die Alliierte
Kommandantur in Berlin eine Erklärung ab, durch die die Rechte der Alliierten
in den drei Westsektoren der Stadt eingeschränkt wurden. Am 9.5 trat die BRD
der NATO bei. Die Ersetzung der EVG durch den Beitritt der Bundesrepublik zur
WEU und NATO erfüllte wohl ungeschmälert das Streben nach stärkerer
Verteidigungsmöglichkeit und größerer Sicherheit des Westens, die mit der EVG
verbundene Europakonzeption aber hatte durch die Ersatzlösung einen erheblichen
Rückschlag erlitten. Eine bedeutsame Station auf dem Wege zur transnationalen
Integration war nicht erreicht und damit die politische Gemeinschaft
Westeuropas in weite Ferne gerückt.
Nicht nur für die BRD, sondern
auch für ganz Europa und die Welt war das Jahr 1955 ein Wendepunkt. Aus den
Pariser Verträgen ergaben sich mancherlei Konsequenzen und Neuansätze. Nachdem
der Westen eine gemeinsame Konzeption gefunden hatte, machte er sich daran,
diese zu verwirklichen. Die folgenden Jahre waren dem Ausbau seiner Position
gewidmet. Die Politik der Stärke war vorrangiges Prinzip, sie wurde beharrlich
weiterverfolgt. Für die osteuropäischen sozialistischen Staaten war jetzt die
Zeit des Reagierens gekommen. Die Entscheidungen des Westens führten zu neuen
Überlegungen und Maßnahmen.[10]
Die erste Antwort der Sowjetunion auf die Pariser Verträge war die Annullierung
des britisch-sowjetischen Beistandsvertrages vom 26.5.1942 und des
französisch-sowjetischen Beistandsvertrages vom 10.12.1944. Die zweite
Gegenmaßnahme erfolgte eine Woche später. In Warschau unterzeichneten Vertreter
von acht Staaten (die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn,
Rumänien, Bulgarien, Albanien und die DDR) ihrerseits einen Regionalpakt, der
den gegenseitigen militärischen Beistand im Falle eines Angriffs und die
Bildung eines gemeinsamen Oberkommandos vorsah. Der Sitz dieses Oberkommandos
wurde Moskau. Durch den Warschauer Pakt erhielten die osteuropäischen
sozialistischen Staaten eine noch größere Geschlossenheit.
[1] Creuzberger, S.: Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außenpolitik der Bonner Republik,
Berlin 2009, S. 48
[2] Thränhardt, D.: Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland 1949–1990, Darmstadt 1997, S. 83f
[3] Siehe dazu neben den Selbstdarstellungen Varwick, J: Sicherheit und Integration in Europa. Zur
Renaissance der Westeuropäischen Union, Opladen 1998
[4] Doering-Manteuffel, A.: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära
Adenauer: Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963, Darmstadt 1988,
S. 104
[5] Ebd., S. 109
[6] Varwick, Sicherheit und Integration in Europa. Zur Renaissance der
Westeuropäischen Union, a.a.O., S. 64
[7] Hochscheid, E.: Die Sowjetunion nach dem
2. Weltkrieg, München 1998, S. 46
[8] Noack, P.: Deutschland von 1945-1960.
Ein Abriß der Innen- und Außenpolitik, 2. Auflage, München 1987, S. 145
[9] Ebd., S. 176
[10] Hochscheid, Die Sowjetunion nach dem 2.
Weltkrieg, a.a.O., S. 86f
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