Erschienen in Ausgabe: No 101 (07/2014) | Letzte Änderung: 09.07.14 |
von Steffen Dietzsch
Der Dnepr ist von alters her eine
Trennlinie, die die lateinisch-orthodoxe Lebensform (in Religion und
alltagspolitischenUmgangsformen) von
der slawisch-orthodoxen unterscheidbar macht. - Die extremistischen
Verkehrsformen unter- und miteinander und natürlich mit denen, die sie jeweils
als ihre Feinde betrachten, macht uns, auch fernab davon Angst, wenn wie hier
seit Monaten der Landfrieden gebrochen wird. Das liegt auch daran, dass uns
deren Leidens- und Überlebensgeschichten (zumal der letzten neunzig Jahre)
immer noch sehr fremd sind. – Man sollte auch nicht gleich das große Tribunal
der ‚Geopolitik‘ anklägerisch bemühen, - vor dem dann zudem auch nur der große
Verlierer beschämt und sanktioniert wird. Man brauchte wahrscheinlich nur mal
einen Moment die politische Alltags- und Scharmützelebene zunächst beiseite zu
lassen, um einen Sinnfür das (für uns!)
vielfach paradoxe Geschehen dort zu entwickeln. Ohne einen Gedanken an
,völkerpsychologische‘ Dämonologien zu verschwenden, sollte doch der Sinn für
so etwas wie einen ‚Volksgeist‘ (Hegel) bemüht werden können, um jedenfalls die
Differenzen zu den gerade kurrenten (massenmedialen) Ängsten, Vorlieben und
Vormundschaftlichkeiten ‚im Westen‘ namhaft und evaluierbar machen zu können. -
Dass die dort z.B. immer schnell bereit sind ‚aus-dem-Volk-heraus‘ sog. ‚Räte‘,
‚Sotnien‘ [=Hundertschaften] oder ‚Sektoren‘ zu bilden, die den europäisch
gewohnt parteiförmigen Repräsentationsformen vorgeschaltet werden (in Kiew:
ohne Zustimmung des Majdan keine parlamentarische Abordnung; in Donezk:
‚Volksrepubliken‘ substituieren den herkömmlichen Staat), erscheint uns hier
sehr vormodern, ist aber als historisch lange Gewohnheit zu vermuten (und nicht
hämisch als fremdes Oktroy abzutun).
Das ‚gegen-die-in-Kiew‘ hat hier
– bei den ‚Linksufrigen‘ - nämlich eine spezielle Tradition, als Erinnerung z.
B. an Väterchen Nestor Machno, der
hier schon einmal, mitten im russischen Bürgerkrieg, etwas ähnlich politisch
‚Schräges‘, ‚Drittes‘ (gegen ‚Weiß‘ und ‚Rot‘) in seinen polit-zirzensischen
(und blutigen!) Auftritten damals vorgeführt hatte, bei dem alles was ’Staat’,
‚Ordnung‘ oder ‚Recht‘ hieß, beiseite gelassen und verlacht geworden ist. –
Diese renitenten Gemeinschaften hier sind allerdings nicht einfach mittotalitären Bewegungen wie ‚Faschismus‘, ‚Nationalsozialismus‘
oder ‚Kommunismus‘ zu identifizieren, denn in diesen – europäischen –
institutionellen Gewaltkulturen ist die Dominanz des Staates schlechthin
entscheidend.
Und nicht zu vergessen: Als
‚Urbild‘ – ja als Pathosformel – für
das, was rund um den Don als Selbstbewußtsein
gilt, ist immer exemplarisch auf ein Gemälde (von Repin 1891) zu verweisen, das
die Saporosher Kosaken beim
Briefschreiben (an den türkischen Sultan) zeigt …
Hier ging und geht es nämlich
mentalitätspolitisch immer um, mit einem ‚westlichen‘ Wort gesagt,
eventproduzierte Stimmungslagen der Gemeinschaft, die uns, wenn wir sie
beobachten, fast popkulturell, krawall- ja
sogar pogromförmig erscheinen, – es
geht eben nicht um ‚westliche‘ Wahlkultur, also nicht um ein von Advokaten
überprüfbares, nach der größten Zahl orientiertes, gerichtsfestesRegelwerk, um dann (immer wieder dieselben)
Politikergruppen zu mandatieren. – Aber: Diese Andersartigkeit irritiert uns
keineswegs immer: Was einmal in einer Moskauer Kirche drei Mädels (zum
Entzücken ‚des Westens‘!) – Pussy Riot –
vorgeführt hatten, das wird dort am Don heute gewissermaßen als neue
Volksunterhaltung in der breiten Masse zelebriert: der Grotesktanz auf den
Heiligtümern der westlichen Staats- und Zivilreligion.
Aber etwas tragen beide Seiten
dort doch (wider Willen?) zur Bereicherung der europäischen Kultur bei: in der
Dynamik ihrer jeweiligen ‚völkischen‘ Selbstbestimmung befeuern beide Lager in
der Ukraine das kostbare Gut der (Selbst)Ironie, – so wenn beide Seiten in ihren
gegenseitigen Vorwürfen den performativen Selbstwiderspruch zum Königsweg der
Kampf-Rhetorik erheben, und es nicht merken …
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