Erschienen in Ausgabe: No 102 (08/2014) | Letzte Änderung: 06.08.14 |
von Karim Akerma
In „Religion und Demografie“ präsentiert und integriert der
Religionswissenschaftler Michael Blume Befunde einer zehnjährigen
Forschungstätigkeit. Der religionsdemografische Kernsatz seines neuen Buches
lautet: „Religionen – und nur Religionen! – vermögen Menschen in ausreichender
Zahl zu dem Verzicht zu bewegen, den Familien mit mehr als zwei Kindern
bedeuten.“ Da mindestens zwei Kinder pro Frau erforderlich sind, soll eine
Gemeinschaft, Gesellschaft und letztlich: die Menschheit insgesamt nicht
aussterben, sind die Ergebnisse von Blumes Abhandlung staatstragend und menschheitsrelevant.
Auf stets kurzweilige Art macht Blume seine Leser mit
zahlreichen demographischen Fakten, Tendenzen und Interpretationen bekannt und
räumt mit verbreiteten Irrtümern auf. So zeigt er etwa, dass nicht „die Moslems“
als solche geburtenstark sind und dass gebildete religiöse Menschen westlicher
Nationen durchaus mehr Kinder haben als ihr nichtreligiöses Umfeld – dass also
Kinderzahlen nicht unbedingt ein Ausdruck von Bildungsferne sind. Ein hübsches
Beispiel an das Blume erinnert, ist das evangelische Pfarrhaus.
Jenseits der Mitte seines Buches stellt Blume eine
entscheidende Frage: „Gibt es eine Möglichkeit, diese komplexe Befundlage
irgendwie zusammenzudenken?“ (136) Welche Befunde hat der Autor bis hierhin
vorgestellt, dass er die Frage nach der Möglichkeit einer Synthese aufwirft?
Da ist zum einen der Antipode des oben zitierten religionsdemografischen
Kernsatzes. Religionen seien nämlich nicht nur einzigartig darin, Menschen zum
Verzicht zu bewegen, den mehr als zwei Kinder bedeuten, sondern auch darin,
Menschen dazu zu bewegen, sich nicht fortzupflanzen. Als Beispiele für
religiösen Antinatalismus verweist Blume auf die Skopzen und die Shaker, sowie
auf die Frühphasen von Jainismus und Buddhismus. Während die ehelos dem
Gottesreich lebenden Shaker heute praktisch ausgestorben sind – da ihnen keine
Erwachsenen mehr beitraten und keine Waisenkinder mehr aufgenommen wurden –,
wurde der ursprüngliche Antinatalismus wesenhaft weltverneinender Religionen sekundär
stets dahingehend pronatalistisch aufgeweicht, dass nur noch die Priesterschaft
zölibatär fortlebte, wohingegen der Laienschaft eine pronatale Lebensführung
zugestanden wurde.
Auf Seite 43 seiner Arbeit präsentiert Blume unter der
Überschrift „Religionsverbundenheit und durchschnittliche Kinderzahl von
westdeutschen Frauen bis zum 31. Lebensjahr“ ein vom Demografen Birg et al.
1991 publiziertes Diagramm. Aus diesem Schaubild geht zum einen hervor, dass
1950 geborene Frauen bis zum 31. Lebensjahr umso mehr Kinder hatten, je stärker
sie sich einer Religion verbunden fühlten. Zum anderen zeigt das Schaubild,
dass 31-jährige Frauen des Jahrgangs 1955 auch dann durchschnittlich 0,2
weniger Kinder hatten als die 1950 geborenen, wenn sie sich als ebenso
religionsverbunden ansahen. Im Verbund mit weiteren Erwägungen führt Blume
dieser Befund zu der Frage: „Ist ‚Religion‘ ein eigenständiger demografischer
Faktor oder ergibt er sich nur aus anderen Variablen wie Bildung, Einkommen,
Alter oder Nationalität?“ (59)
Zunächst sieht es so aus, als sei Religiosität kein
wirkmächtiger Faktor, der sich gegen andere Impulse durchsetzen könnte. Denn
eine zwischen 1981 und 2004 in mehreren Wellen in 82 Ländern durchgeführte Weltweite-Werte-Umfrage
(World Value Survey) mit knapp 270000 Befragten hatte in den Worten Blumes
ergeben: „Steigender Wohlstand und existentielle Sicherheit durch
funktionierende Institutionen wie Ärzte führen weltweit zu sinkender
Gebetshäufigkeit und sinkenden Geburtenraten.“ (106) Bis hierhin sieht es so
aus, als sei die Religiosität einer Gesellschaft eine Funktion oder Spielball
ihres wirtschaftlichen Wohlergehens. Wenn sich die Intensität gelebter Religion
direkt in Kinderzahlen umsetzt, dann wäre global mit dem wirtschaftlichen
Erfolg ein Niedergang der Geburtenzahlen zu erwarten. In diesem Zusammenhang
stellt und beantwortet Blume eine für seine Arbeit entscheidende Frage: „Kommt
es bei der Demografie also doch nur auf den Wohlstand an, der sich dann eben
auch in sinkendem religiösem Engagement ausdrückt? Nein – denn diese Daten sind
Daten auf der Makroebene, also auf der Ebene ganzer Gesellschaften. Die höhere
Kinderzahl der Religiösen findet sich dagegen stets auf der Mikroebene
‚innerhalb‘ der Gesellschaften.“ (110)
Man kann nun versuchen, die Befunde so zusammendenken: Vermehrter Wohlstand
führt auf der Ebene von Staaten durchaus zu verminderter Nachkommenschaft. Ist
allerdings das Umfeld nur noch schwach religiös (wie innerhalb zahlreicher
westlicher Industriestaaten), dann korrespondieren der durch die Bethäufigkeit
indizierten Religiosität innerhalb des religiös indifferenten Umfelds mehr
Kinder pro Frau.
Verweilen wir kurz bei der Bethäufigkeit, die für Blume als
pronatales Indiz stichhaltiger ist als ein eher vages Bekenntnis zu ausgeübter
Religion. Zur Bethäufigkeit sagt er insbesondere zweierlei:
1. „Steigender Wohlstand und existentielle Sicherheit…führen weltweit zu
sinkender Gebetshäufigkeit und sinkenden Geburtenraten.“ (106)
2. „…umso regelmäßiger die Menschen beteten, umso mehr Kinder wiesen sie auf.“ (179)
Blumes Bethäufigkeitssätze betreffen offenbar zwei ganz unterschiedliche
demographische Einheiten:
Bethäufigkeitssatz 1. bezieht sich auf religiöse Gesellschaften, deren
traditionell gegebene relativ hohe Bethäufigkeit und Kinderzahl mit später
hinzukommendem steigendem Wohlstand sinkt. Dies bedeutet: Die Bethäufigkeit
weicht dem wirkmächtigeren Wohlstand.
Bethäufigkeitssatz 2: Haben wir es mit einer Wohlstandsgesellschaft zu tun und
ist die Gesellschaft im Ganzen weniger stark religiös, so geht eine in
gesellschaftlichen Segmenten anzutreffende höhere Bethäufigkeit mit höheren
Geburtenraten einher.
Nun scheint es, dass Blumes Bethäufigkeitssatz 1
herausgefordert wird, wenn folgende Konstellation zutrifft: Gesellschaften,
deren Mitgliedern es wirtschaftlich nach und nach besser geht, die aber ihre
Gebetshäufigkeit beibehalten und für die man dennoch empirisch rückläufige
Geburtenzahlen feststellt. Solche Gesellschaften scheinen etwa Algerien,
Marokko und die Türkei zu sein (vgl. die Studie „Glaube, Macht und Kinder“ von
Kröhnert/Klingholz, 2010). Sind wir auch und gerade in Anbetracht dieses
Phänomens gehalten, die Aussagekraft der Bethäufigkeit mit Blume auf
gesellschaftliche Mikroebenen zu beschränken?
In religiös indifferenten bis areligiösen Gemeinschaften
oder Gesellschaften jedenfalls, so ein wesentlicher Befund Blumes, ist die durch
hohe Bethäufigkeit angezeigte intensive Religiosität das einzige Moment, das
eine den Fortbestand der Gemeinschaften oder Gesellschaften garantierende
Geburtenzahl zu sichern vermag. So macht Blume geltend, dass
Betreuungseinrichtungen in weitgehend säkularen Industrieländern nicht per se
zu mehr Kindern führen, sondern stets nur dann, wenn diese
Betreuungseinrichtungen Teil religiöser Gemeinschaften sind.
Überaus interessant ist Blumes Buch nicht nur, weil es
zahlreiche weniger bekannte Religionsgemeinschaften und Facetten religiösen
Lebens im Hinblick auf die Frage nach dem Vorliegen eines statistischen Zusammenhangs
von Religion und Kinderzahl pro Frau auf lesenswerte Weise auswertet und zu positiven
Schlüssen kommt. – Zur Kenntnis nehmen sollte man Blumes Studie zumal auch
deshalb, weil sie Appellcharakter hat. Blume appelliert an Staat, Kirche und
Politik dahingehend, dass eine bevölkerungsmäßige Bestandserhaltung keine
Selbstverständlichkeit ist und das ausgeprägte Geburtentief Deutschlands nicht
einfach hingenommen werden sollte. Blume hofft, „dass sich die Kirchen und
Religionsgemeinschaften mit ihrem demografischen Absterben nicht länger
abfinden.“ (222) Er verweist auf „das schon biblisch gewachsene,
religionsdemografische Wissen des Judentums“ (222) und setzt auf einen
interreligiösen wie auch religiös-wissenschaftlichen Dialog. Hier gebe es
Potential zur Überwindung des Geburtentiefs, „ohne dabei die reproduktiven
Selbstbestimmungsrechte von Frauen und Männern in Frage zu stellen.“ (222)
Wo aber soll die vermehrte und rituell
gelebte Religiosität herkommen, die allein in der Lage sei, zumindest die
Bestandserhaltung einer Gesellschaft zu sichern? Blume notiert: „Dass aus
geistigen Vorstellungen – wie dem Glauben an den Fruchtbarkeit gebietenden Gott
Abrahams – auch naturwissenschaftlich beobachtbare Folgen wie erhöhte
Geburtenraten hervorgehen können, ist ja für alle beteiligten Disziplinen ein
faszinierender Knackpunkt, den wir interdisziplinär noch kaum erfasst und
erkundet haben“ (211) Nun kann sich aber ein bislang Ungläubiger nicht einfach
entscheiden, künftig glauben zu wollen. Heraus käme allenfalls jemand wie der
schwedische Nobelpreisträger Pär Lagerkvist, der sich einst einen „glaubenden
Atheisten“ nannte. Blume ist hier um keine Antwort verlegen, sondern kann auf
empirische Evolutionsforschungen zur Religiosität verweisen: Wegen des
Phänomens sozialer Vererbung wird Religiosität von Eltern auf Kinder
übertragen. In dem Maße nun, in dem häufig betende Personen mehr Kinder haben
als ihr religiös indifferentes Umfeld, gibt es über kurz über lang eine
signifikant wachsende Gemeinschaft von Familien, die bereit sind, das Opfer auf
sich zu nehmen, das ein Leben mit mehr als zwei Kindern beim gegenwärtigen
Status quo bedeutet. Eine zweite Quelle von Religiosität möchte man indes nicht
angezapft wissen: Daseinsangst. Länder mit großer Daseinssicherheit wie
Dänemark, Norwegen oder Schweden haben wenige religiöse Einwohner, während die
USA mit erheblicher Daseinsunsicherheit vergleichsweise stark religiös sind.
Was zu belegen scheint: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das
Gemüt einer herzlosen Welt…“
Die eben angesprochene Kategorie des
„Opfers“ führt uns zum philosophischen Teil von Blumes Erwägungen, den er unter
der Überschrift „Sollen Menschen Kinder haben? Die Anthropodizee-Frage“
präsentiert. Antwortet eine Theodizee auf die Frage nach einer Rechtfertigung
Gottes in Anbetracht der leidenden Menschen (und Tiere) in der von ihm
geschaffenen Welt, so antwortet eine Anthropodizee auf die Frage nach der
Rechtfertigung von Elternschaft in Anbetracht der Existenzbedingungen, denen
man die eigenen Kinder aussetzt. Blume resümiert, „dass es keine innerweltlich
überzeugenden Argumente für ein menschliches Fortpflanzungsgebot, vielleicht
nicht einmal ein Fortpflanzungsrecht gebe.“ (191) Ohne sich selbst unter
Rückgriff auf religiöse Kategorien an einer Anthropodizee zu versuchen,
konstatiert Blume, dass der normensetzende Götterglaube stets auch ein
demografisches und evolutionäres Potential entfalte. „Bislang ist es… keiner
nichtreligiösen Weltanschauung gelungen, ihren Mitgliedern auf Dauer
überzeugende innerweltliche Gründe für die wachsenden finanziellen und
zeitlichen Opfer von Kinderreichtum zu vermitteln.“ (202) Extrapolieren wir
diesen Befund, so müsste eine materiell gesättigte und religiös indifferent
gewordene Menschheit allmählich aussterben.
So gesehen kann Michael Blumes Buch als Stellungnahme zu
einem vergessenen Satz Werner Sombarts gelesen werden: „Die Neigung der
Menschen, viele Kinder in die Welt zu setzen, ist von Hause aus sehr gering.
Voraussichtlich würde das Menschengeschlecht bald aussterben, wenn es nach dem
Willen der Eltern ginge. Um das zu verhüten, müssen sehr starke Mächte in
Bewegung gesetzt werden, die die urwüchsige Abneigung der Menschen gegen
Kinderreichtum zu überwinden vermögen. Solche Mächte sind der Staat, vor allem
aber die Kirche (Religion).“ (Sombart, Vom Menschen)
Eines der Verdienste von Blumes Arbeit besteht diesbezüglich
darin, die Anthropodizeepflichtigkeit ernst zu nehmen. Einerseits stürbe die
Menschheit nicht lange nach dem Jahr 2400 aus, wäre die aktuelle deutsche
Geburtenrate von heute an überall auf dem Planeten anzutreffen. Andererseits
bedürfen fortpflanzungswillige Paare einer Rechtfertigung dafür, Nachkommen in
eine Welt zu setzen, in der sich – geschichtlich gesprochen – vor Kurzem der
Judäozid und gerade eben erst vor den Augen der Weltgemeinschaft der Genozid an
den Tutsis ereignen konnte. Blume erkennt, dass die Anthropodizeepflicht „für
die demografische und geistesgeschichtliche Zukunft der Menschheit von sogar
wachsender Bedeutung werden dürfte.“ (182)
Eine überzeugende Anthropodizee scheint nicht vorzuliegen. Dennoch
hält Blume gegen die von Antinatalisten geäußerten Bedenken, dass es
unverantwortlich ist, sich per Fortpflanzung für eine Fortsetzung der
bisherigen Geschichte auszusprechen und eigene Kinder einem ungewissen
Schicksal mit gewissem Sterbenmüssen auszusetzen: „Wir dürfen in Gotteshäusern,
die nicht selten von Jahrtausenden erfolgreich gewachsener Traditionen zeugen,
Kraft für das uns Mögliche und Vertrauen für das Ganze schöpfen.“ (225) In eben
solche Gotteshäuser und mit eben diesem Vertrauen flüchteten sich 1994
verfolgte Tutsis mit ihren Kindern in Ruanda. Die sie verfolgenden Hutus
verschlossen die Türen und zündeten die Kirchen an. Ein solcher Hinweis mag
ungerecht scheinen, mahnt aber an, was eine Anthropodizee zu leisten hätte. Der
Hinweis demonstriert die Bürde der Anthropodizeepflichtigkeit, die diejenigen
auf sich nehmen, die eine Fortsetzung der bisherigen Gattungsgeschichte
gutheißen.
Blume bietet keine Anthropodizee, aber sein Plädoyer für
eine Fortsetzung der Gattungsgeschichte ist von einem unverwüstlichen
Optimismus getragen, dessen Quellen naheliegen und die man gern besser
verstehen würde: „Wir können uns aber auch in den sich längst wieder
ausbreitenden Wäldern Europas davon überzeugen, dass die schrillen
Untergangspropheten der Neuzeit die Mächte des Lebens regelmäßig unterschätzt
haben. Wir alle sind Ergebnisse und Mitgestaltende des großartigen
Evolutionsprozesses. Und dieser ist noch lange nicht beendet.“ (226)
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