Erschienen in Ausgabe: No 101 (07/2014) | Letzte Änderung: 18.07.14 |
von Ingo Friedrich
Der Ausgang der Europawahl 2014
wird von Beobachtern in allen europäischen Hauptstädten immer noch intensiv
analysiert und diskutiert, allerdings mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Nur zu einem Punkt gibt es eine einhellige Meinung über alle politischen Lager
hinweg: Die Europawahl 2014 hat national und europäisch dramatische und
langfristig wirkende Konsequenzen, vielleicht sogar bis zum erstmaligen
Austritt eines Mitgliedslandes wie England.
Hundert Jahre nach Ausbruch des "großen Krieges" 1914 stellen sich in
Europa ein weiteres Mal epochale Fragen:
- an welchem Gemeinwohl sollte sich seriöse Politik heute ausrichten: am
europäischen oder nationalen? Und zwar dann, wenn es zwischen beiden einen
Dissens gibt!
- gibt es neben dem völkerrechtlich definierten Staatsbürger heute schon den
civis europae, also den Bürger der Europäischen Union und wenn ja in welcher
der beiden Bürgerrollen hat er an der Europawahl teilgenommen?
Für die Europagegner liegen die Antworten auf der Hand: Natürlich ist das
nationale Gemeinwohl entscheidend und natürlich gibt es nur den Staatsbürger
eines Nationalstaates. Die Realität der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird
genau das Gegenteil beweisen, auch wenn damit - vielleicht zum ersten Mal in
der Geschichte - die Realität dem Denken breiter Bevölkerungsschichten um Jahre
vorauseilt. Die mittel- und langfristigen Konsequenzen der Europawahl und
insbesondere die nicht zu stoppende dynamische Entwicklung der globalen
Wirklichkeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Internet mit
intensiver Vernetzung privater und geschäftlicher Kontakte, sowie die
Globalität der Finanzwelt und die Probleme der gemeinsamen Sicherheit und der
gemeinsamen Energieversorgung für die westliche Welt erfordern zwingend eine
Vielzahl neuer gemeinsamer Regeln, eine neue - demokratische - Legitimation
gemeinsamer Gremien und Repräsentanten auf "internationalen" Ebenen.
Ganze nationale Rechtsgebiete werden dadurch praktisch ausgehebelt, weil die
nationale Ebene mit der Bewältigung dieser Themen völlig überfordert wäre.
Der hohe Anteil europakritischer Abgeordneter bzw. von Europagegnern im neuen
Europäischen Parlament wird die Vertreter der anderen Parteien zur
europapolitischen Zusammenarbeit geradezu zwingen und zwar in inhaltlichen und
personellen Fragen. Faktisch wird die Bedeutung der europäischen Ebene, der
europäischen Themen und das Interesse der Öffentlichkeit an Europa deutlich
zunehmen. Als Effekt der ach so europakritischen Wahl wird letztlich in der
Praxis ein "mehr Europa" auf allen Ebenen und Gebieten herauskommen.
In diesem Sinne war die Wahl ein Pyrrhussieg der Europagegner, denn sie wollten
ja genau das Gegenteil erreichen: Sie wollten mehr Nationalstaat und bekommen
stattdessen mehr Europa, wohlgemerkt: nicht aus böser Absichtoder antidemokratischer
Reaktion, sondern aus purer Wirkung der unvermeidbaren Realität.
Konkret wird die Zukunft wie folgt aussehen: Zum ersten Mal wird ein von
europäischen Bürgern gewählter Kommissionspräsident in Brüssel amtieren, das
neue EU-Parlament wird eine wesentlich höhere Autorität besitzen, die
nationalen Regierungen werden weiterhin Einfluss und Macht zugunsten von
"Brüssel" verlieren. Die Medien werden europäische Themen viel
intensiver diskutieren bis hin zu einer sich herausbildenden europäischen Öffentlichkeit.
Das zu erwartende neue Arbeitsprogramm von Kommission und Parlament wird sich
notwendigerweise an einem durch Diskussion definierten europäischen Gemeinwohl
und nicht an einem nationalen Gemeinwohl ausrichten. Diese Entwicklung kommt
nicht deshalb zustande weil in den EU-Verträgen von der immer engeren Union die
Rede ist, sie kommt auch nicht, weil dies den heißen Wünschen der Bürger
entspricht, sondern sie kommt, weil nur so elementare Herausforderungen und
Probleme für die Menschen in Europa bewältigt werden können. Eine Probe aufs
Exempel für diese These möge uns hoffentlich erspart bleiben. Umgekehrt wird
das EU-Parlament nicht mehr quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit
schwierige Entscheidungen kurz entschlossen und zügig über die Bühne wuppen
können. Das wird schon bei der Auseinandersetzung um das US-Freihandelsabkommen
TTIP deutlich zum Ausdruck kommen.
Klar zu unterscheiden von diesem allgemeinen Brüssel-Trend sind die notwendige
Kritik an der Detailversessenheit vieler europäischer Entscheidungen und der
einzufordernde Mut dann europäisch zu handeln, wenn die Nationalstaaten mangels
Masse ihre Bürger nicht mehr schützen können.
Und es bleibt ein großer Erklärungsbedarf: Auch ein hoch motiviertes und
verantwortungsvolles EU-Parlament und eine von den Bürgern gewählte
EU-Kommission werden immer und immer wieder erklären müssen, dass europäische
Entscheidungen stets Kompromisse sind, die sehr unterschiedliche Interessen
bündeln müssen, und deshalb oft von niemandem gemocht werden. Mit Kompromissen
sind häufig alle Beteiligten "mäßig unzufrieden".
Europa bleibt insofern schwierig aber unverzichtbar zur Sicherung unserer
Zukunft.
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