Erschienen in Ausgabe: No 103 (09/2014) | Letzte Änderung: 03.09.14 |
von Bernd Ehlert
Der Erste
Weltkrieg wird als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wie konnte es
dazu kommen, wie kann so etwas verhindert werden? In unserem gängigen Selbst-
und Weltverständnis wird diese Frage immer noch auf die moralische, pauschal
eindimensionale und darin oberflächliche Art und Weise der Religion
beantwortet, auch wenn die Menschen dabei gar nicht mehr so richtig an einen
Gott glauben: „Das ist ein böses Verhalten, das darf der Mensch nicht, das darf
nie wieder geschehen“. Dass die Gewaltexzesse auch heute noch geschehen, selbst
im sogenannten »Heiligen Land« der drei großen Weltreligionen, liegt jedoch
genau daran, dass der Mensch an übernatürliche Kräfte und Wesen glaubt und so
die wahren Ursachen seines Fehlverhaltens nicht erkennt. Das ist so, als würde
er bei der Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten immer noch auf die religiösen
Rituale setzen unddadurch die Erkenntnis
von Viren und Bakterien für Teufelszeug halten. Im Glauben an Übernatürliches
verleugnet der Mensch seine wahre natürliche Herkunft aus dem Evolutionsprozess
und dadurch sein animalisches Erbe, das so in den gewalttätigen
Auseinandersetzungen immer wieder fröhliche Urstände feiern kann.
Gemäß der Evolutionstheorie ist der Mensch aus dem Tier
entstanden, wobei sich bei dieser natürlichen Menschwerdung sein animalisches
Sein und Verhalten nicht in Luft aufgelöst hat. Es ist vielmehr weiterhin in
seinen Genen verankert und wirkt darin natürlich auch. Das, was nicht nur in
der Kriminalität, sondern auch in den gesellschaftlichen Gewaltexzessen und
Kriegen zum Ausdruck kommt, ist von der Evolution her gesehen nichts anderes
als unser animalisches Erbe.
Die verbreitete Ansicht, dass mit dieser evolutionären Erklärung
das gewalttätige Verhalten entschuldigt würde, ist zu kurz gedacht und dadurch
bleiben die eigentlichen Ursachen und damit auch die wirklichen Lösungen
weiterhin verborgen. Vor allem verrät diese Ansicht, dass der Mensch so gut wie
nichts über seine eigene, vollkommen natürliche Entstehung weiß. Der
entscheidende Vorgang in der Evolution, der zur Entstehung des Menschen erst
geführt hat und der sein besonderes, einzigartiges natürliches Wesen bedingt
und bis heute bestimmt, ist dem Menschen so gar nicht bewusst. Eine
grundlegende Erkenntnis von Konrad Lorenz auch dazu, wodurch Evolution
eigentlich getragen wird, legt diesen, das einzigartige Wesen des Menschen
bedingenden Vorgang in der Evolution offen:
„Während
all der gewaltigen Epochen der Erdgeschichte, während deren aus einem tief
unter den Bakterien stehenden Vor-Lebewesen unsere vormenschlichen Ahnen entstanden,
waren es die Kettenmoleküle der Genome, denen die Leistung anvertraut war,
Wissen zu bewahren und es, mit diesem Pfunde wuchernd, zu vermehren. Und nun
tritt gegen Ende des Tertiärs urplötzlich ein völlig anders geartetes
organisches System auf den Plan, das sich unterfängt, dasselbe zu leisten, nur
schneller und besser. [...] Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass das
geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben sei“ (Konrad
Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1987, S. 217)
Was heißt das
genau? Es bedeutet zunächst einmal nicht, dass damit das genetisch verankerte
Sein und Verhalten (als Instinkte) des Menschen verschwunden ist, denn das
vermag das neue organische System, das auf der neuronalen Ebene wirkt, nicht.
Das animalische Erbe des Menschen wird durch sein geistig-kulturelles Sein, das
ihn erst zum Menschen macht, nur überlagert. Sein animalisches Erbe kann dabei
unter bestimmten Umständen und Auslösereizen jederzeit wieder durchbrechen und
das Verhalten bestimmen, etwa als Kriminalität oder eben in den
gesellschaftlichen Gewaltexzessen.
Ein weiterer
entscheidender Punkt des Mensch-Seins in dieser evolutionären Perspektive liegt
darin, dass diese natürliche Menschwerdung nicht wie bei einer göttlichen
Schöpfung ein einmaliger Akt war, in dem das menschliche Sein vor langer Zeit
vollendet entstanden ist und seitdem einfach nur so in der Zeit existiert. Der
natürliche Schöpfungsprozess dauert, auch als Weitergang der Evolution auf eine
neue Weise, vielmehr bis heute an und die Gewaltexzesse und Kriege des Menschen
offenbaren nichts anderes, als dass dieser natürliche Menschwerdungsprozess bis
heute noch nicht abgeschlossen ist. Wenn die Wirkungsweise der genetischen
Evolution wirklich erkannt ist, wird darin auch erkannt, dass der Mensch immer
noch zu großen Teilen nach dieser alten Weise handelt und Probleme zu lösen
sucht.
Denn die
genetische Informationsspeicherung ist direkt an das körperliche Sein der
Lebewesen gekoppelt, d.h. die Evolution als Selektion der passenden
Körperformen und Verhaltensweisen kann auf der genetischen Ebene nur dadurch
stattfinden, indem die nichtpassenden Gen-Varianten und damit eben die
Lebewesen als solche ausselektiert werden, und das geht vor allem über die
körperlichen, gewalttätigen Auseinandersetzungen. Das ist die kennzeichnende
Wirkungsweise der genetischen Evolution, mit der sich das Leben bis zum
Menschen erst entwickelt hat.
Mit dem Menschen
ist dann jedoch, wie Lorenz es treffend ausdrückt, „eine neue Art von Leben“
entstanden. Die nötigen Informationen zur Erlangung eines neuen, angepassteren
und effektiveren Verhaltens werden dabei nicht mehr auf genetische Weise
erlangt, gespeichert und angewendet, sondern jetzt auf neuronale Weise, indem
der Mensch alle Sinneswahrnehmungen noch einmal neuronal abstrahiert und nur in
diesen Begriffen (als Denken) verschiedene Varianten durchspielen und die beste
Lösung dann finden oder eben selektieren kann.
Dieser neuronale
Prozess ist daher vom grundsätzlichen Ablauf her durchaus mit dem der Mutation
und Selektion auf der genetischen Ebene vergleichbar, nur ist er um mehrere
Größenordnungen schneller und effektiver. Denn eine nötige Verhaltensanpassung,
zu der die genetische Evolution über Mutation und Selektion Jahrhunderte oder
länger braucht und was darin stets mit großem Leid und Tod der dabei
ausselektierten Wesen verbunden ist, ist mit der neuen neuronalen Evolution beim
Menschen im Idealfall innerhalb von Sekunden zu verwirklichen, ohne dabei auch
nur das Leid und den Tod eines einzigen Lebewesens zu erfordern. Dieser
evolutionäre Fortschritt ist im wahrsten Sinne des Wortes »human«.
Die Demokratie etwa ist ein Meilenstein dieser fortdauernden
Entwicklung, denn ihr eigentliches Wesen besteht darin, dass sie genau diese
neue geistige Problemlösung und Weiterentwicklung einer pluralen Gesellschaft
umfassend verwirklicht und sichert. Mitbestimmen kann dagegen auch in einer
Diktatur schon jeder Einzelne und jede Gruppe von Menschen zu jeder Zeit, nur
eben genau auf die Weise, mit der sich eine bestimmte Gruppe oder Idee der
Weiterentwicklung in der Diktatur an der Macht hält und ihre Vorstellungen und
Ideen der Weiterentwicklung letztlich durchsetzt: Mit Gewalt (genau so wie bei
einem animalischen Rudel). Wenn der Mensch Gewalt anwendet oder sich darauf
stützt, ist er von den grundlegenden Evolutionsmechanismen her gesehen immer
noch Tier, auch wenn er dabei seinen Geist mit benutzt. Denn die Gewalt ist das
kennzeichnende Element des alten Evolutionsmechanismus, über den die Selektion
der Gen-Varianten geschieht.
Welche Rolle spielt nun die Religion in diesem bis heute
fortdauernden natürlichen Menschwerdungsprozess? Mit Hilfe seiner neuen geistigen Fähigkeit
konnte der Mensch sich zunächst einmal übernatürliche und allmächtige Wesen als
»Rudelführer« überhaupt vorstellen, die ihm dann in seinem neuen, neuronal
bedingten Selbstbewusstsein als vergängliches Wesen in einer gefährlichen Welt
zunächst einmal Sicherheit und Geborgenheit gaben. Der Mensch bekannte sich
aber vor allem emotional zu diesen allmächtigen, scheinbar übernatürlichen,
letztlich aber von ihm selbst geschaffenen Kräften und Wesen und befolgte deren
Verhaltensvorschriften aus Verehrung und Furcht, so wie er es eben als Tier
gewohnt war, einem Rudelführer zu folgen. Dadurch konnte er auch sein Verhalten
auf diese indirekte Weise über Gefühle und Emotionen ändern und anpassen. Zu
finden ist eine solche Verhaltensanpassung mit epochaler Bedeutung etwa in dem
Übergang von alttestamentlichen zum neutestamentlichen Gott. Während im fünften
Buch Mose/Deuteronomium, Kapitel 20, Vers 13-17 (Einheitsübersetzung) der Gott
des Alten Testamentes geradezu den Völkermord gebietet und fordert („ ...darfst
du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter [..]
der Vernichtung weihen“), wird dieses Verhalten beim neutestamentlichen Gott
zur größten Sünde überhaupt.
Der
religiöse Glaube war ein notwendiger und wichtiger Schritt auf dem langen Weg
der natürlichen Menschwerdung. Das Verhalten wurde dadurch mit Hilfe des
Glaubens an allmächtige übernatürliche Wesen indirekt geändert und angepasst.
Mit der Vernunft allein war das in den früheren Zeiten nicht zu verwirklichen
(dazu reicht die Vernunft allein oftmals bis heute nicht aus). Doch in der
globalisierten und überbevölkerten Welt, in der die Menschen immer enger
zusammenleben und ihr Verhalten immer mehr und schneller an die vom Menschen
selbst veränderten Bedingungen anpassen müssen, wird nun auch der religiöse
Glaube mit seinem indirekten, langsamen und mangelhaften Weg der
Verhaltensanpassung über übernatürliche Kräfte und Wesen und den damit
verbundenen Widersprüchen mehr und mehr selbst zu einem unangepassten
Verhalten.
Im
Zeitalter der Massenvernichtungswaffen kann sich der Mensch eine Katastrophe
wie die der beiden Weltkriege, ermöglicht durch die mangelhafte Weise der
religiösen Verhaltensanpassung, nicht mehr erlauben. Der Mensch muss heute mit
Hilfe seiner ureigensten Fähigkeit, nämlich der des Geistes, direkt und
objektiv die Ursache seines Fehlverhaltens erkennen und darüber effektiv und
schnell berichtigen und anpassen. Zu diesem neuen geistigen Entwicklungsschritt
seiner fortdauernden natürlichen Menschwerdung gehört es daher vor allem, dass
er das wahre Wesen und die Rolle der Religion in seiner natürlichen
Menschwerdung erkennt, nämlich dass die Vorstellungen der Götter u.a. dazu da
sind, um notwendige Verhaltensänderungen des Menschen zu verwirklichen. Darin
lösen sich nicht nur die Widersprüche zwischen dem alt- und dem
neutestamentlichen Gott auf, sondern restlos alle der vielfältigen Widersprüche
und Spaltungen der Religionen lösen sich dann zu einem einheitlichen Weltbild
hin auf.
Eine objektive Wahrheit ist
dadurch gegeben, dass sie ihren Inhalt von verschiedenen Standpunkten aus
gesehen nicht verändert und so im Gegensatz zu den Religionen ohne Widersprüche
und Spaltungen ist, wobei zu diesen verschiedenen Perspektiven auch die
physische Ebene der Praxis gehört. Insofern wird die hier von der Evolution her
gewonnene Erkenntnis oder Wahrheit der Religion von der davon verschiedenen und
unabhängigen Perspektive Kants bestätigt, der schon vor über 200 Jahren, also
noch vor der Entdeckung der Evolutionstheorie, das wahre Wesen und auch die
eigentliche natürliche Aufgabe der Religion erkannte und so feststellte,
dass die moralischen Gesetze es sind, „deren i n n e r e praktische
Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbständigen Ursache, oder eines
weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben. [...] Wir
werden, soweit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen
nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum
als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind (Kant
B846-847).
Hätte
der Mensch vor hundert Jahren dieses wahre Wesen der Religion gemäß Kant und in
Übereinstimmung mit der neu entdeckten Evolutionstheorie allgemein durchschaut
und so seine nicht mehr passenden Verhaltensweisen wie die des Rassismus und
Nationalismus als solche erkannt und darin moralisch geächtet statt weiterhin
idealisiert und verklärt, hätte er sein Verhalten auf humane Weise ohne
Weltkriege ändern und die Demokratie einführen können. Da er aber zu dieser
Zeit geistig dazu nicht fähig war, konnte er sein Verhalten nur auf die
animalische Weise der zwei Weltkriege anpassen, indem er so existentiell mit
den ca. 60 Millionen Toten auf der praktischen Ebene erfahren musste, dass
diese Verhaltensweisen nicht mehr passen. Die tieferen Zusammenhänge dabei,
besonders als fortdauernder natürlicher Menschwerdungsprozess, kennt er aber
immer noch nicht.
Wie
sieht das humane und geistige Anpassungsvermögen des Menschen heute gegenüber
einer Verhaltensweise aus, die wie die der Gewalt schon die Religion lange als
nicht mehr passend erkannt hat und die gerade heute in dem überbevölkerten,
begrenzten und von Ressourcenknappheit sowie Massenvernichtungswaffen bedrohten
Lebensraum mehr und mehr zu einem großen Problem wird, obwohl sie, wie vor
hundert Jahren Rassismus und Nationalismus, weiterhin idealisiert und verklärt
wird: die Gier nach materiellem Reichtum?
Die
Evolutionstheorie gibt hier vom fortdauernden natürlichen Menschwerdungsprozess
her eine eindeutige Antwort: Die Zukunft der weiteren menschlichen Entwicklung
kann nicht im exzessiven Ansammeln materieller Werte liegen, so sehr die
heutigen technischen Möglichkeiten auch dazu verführen, denn das ist darin
ebenfalls noch ein animalisch geprägtes Verhalten im Zusammenhang mit Macht und
Rang. Die Zukunft und das Wachstumsideal des Menschen kann nur in dem liegen,
was den Menschen existentiell seit seiner Entstehung her ausmacht und seine
natürliche Entwicklung seitdem stetig bedingt und bestimmt: Sein
geistig-kulturelles Sein. Das ist eine mit Konrad Lorenz tief gegründete
Erkenntnis.
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