Erschienen in Ausgabe: No 103 (09/2014) | Letzte Änderung: 03.09.14 |
von Hans Gärtner
Alt-Weltstar José Carreras setzte sich in Erl für die zeitgenössische Oper „El Juez“ ein. (Gärtner)
Hat es die Welturaufführung einer Oper bei den Tiroler
Festspielen in Erl je gegeben? Für Zeitgenössisches zeigte sich Gustav Kuhn,
Gründer und Motor des immer stärker ins globale Festival-Geschehen rückenden
Erl mit dem spektakulärsten modernen Festspielhaus nördlich der Alpen seit
jeher aufgeschlossen. Nun holte er, der sich dabei ganz im Hintergrund bewegte,
ein Ereignis, das aufhorchen ließ, ins Dorf an der südbayrischen Grenze. Im
April in Bilbao vorgeprobt und dann einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert,
gab es im August die Möglichkeit, dem jüngsten Werk des als musikalischer
Tausendsassa bekannten Burgenländers Christian Kolonovits zu begegnen: der Oper
„El Juez“ nach dem Libretto von Angelika Messner.
Messners Text, der allein schon die Emotionen hochkochen
lässt, übertrug Adan Kovacsics ins Spanische. Die Story ist spanisch motiviert.
Sie spielt im totalitären Franco-Regime und hat ein böses Kapitel der Kirchen-
wie der politischen Geschichte des Landes, ach was, Europas, aufzuarbeiten: die
brutale Verschleppung unschuldiger Kinder. An ihr haben sich viele
Gewaltinhaber schuldig gemacht, neben dem Geheimdienstchef eines „verfluchten
Systems“ – kolossal präsent gemacht durch die bärenstarke Power des Bassisten
Carlo Colombara – die egoistische Äbtissin (Anna Ibarra) eines nicht näher
verorteten spanischen Klosters. Ihre vereitelte leibliche Mutterrolle
substituierte sie durch die fatale Liebe zu einem kleinen Buben, den sie seiner
Mutter entriss, um selbst Mutter für ein Kind zu sein.
Um diesen Jungen, der im Stück schon erwachsen, in der Regie
Emilio Sagis aber allzu alt (und unbegreiflicher Weise Vater einer 4-jährigen
Tochter) ist, geht es hier. Um den Richter Federico Garcia. Ihn verkörpert kein
Geringerer als Alt-Weltstar José Carreras. In Kolonovits` Oper, die zwischen
den Schmonzetten-haften Rührseligkeiten eines Musicals und einem schillernden
Puccini/Kongold-Verschnitt chargiert, hat Carreras kein leichtes Spiel. Er muss
den ganzen Abend im schwarzen Kurz-Mantel ein tristes Gesicht machen, muss
seiner Identität, solange die Handlung am Kochen ist, nachspüren, bis er die
volle Wahrheit seines eigenen und des Schicksals seines Bruders, des die
Kindesverschleppung medial publizierenden Liedermachers Alberto (José Luis
Sola) erfahren kann. Spätestens im 2. Teil der vier mit Wiederholungen viel zu
langen Akte wird klar: Carreras gibt der Realisierung eines schwer goutierbaren
zeitgenössischen Musiktheater-Werkes seine ganze, ihm noch immer zur Verfügung
stehende Grandezza. Und das ist das Ereignis des Erler Sommers `14.
Man wird freilich als Zuschauer zweieinhalb Stunden lang
nicht froh. Im bedrückend-finsteren Ambiente (Daniel Bianco, Bühne, Pepa
Ojanguren, Kostüme) peitscht Maestro David Gimènez am Pult des fabelhaften
Erler Festspiel-Orchesters die Emotionen ständig hoch. Im Feuermeer der
Schmerzen soll jeder baden; denn keiner ist an den Miseren der zur lauten
Sprache gebrachten filmmusikalisch effektvoll arrangierten Klangwogen Christian
Kolonovits` schuldlos. Die hochgepeitschten Emotionen können nur in der
Katastrophe enden: Alberto liegt erschossen am Boden. Untröstlich wirft sich
seine Geliebte (brillant: Sabina Puèrtolas) über ihn. Starr vor Schrecken, dem
Leidensdruck kaum gewachsen, steht das aufgewiegelte Volk (Coro Rossini). Ob sich
die Erde je ohne Mord und Tod, Verlust und Verschulden drehen wird? Die vor
allem die als gewissenlos angeklagte katholische Kirche arg beutelnde Oper will
die Hoffnung auf eine Menschheit nicht aufgeben, der es um Wahrheit statt Lüge,
um Aufdeckung statt Vertuschung von Verbrechen am Menschen geht.
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