Erschienen in Ausgabe: No 105 (11/2014) | Letzte Änderung: 04.12.14 |
von Axel Reitel
2019 wird die bulgarische Stadt Plovdiv die
europäische Kulturhauptstadt. Und in Plovdiv spielt auch ein Gutteil der
spannenden Handlung des Romans der 1964 in Köthen, Sachsen-Anhalt, mitten im
Kalten Krieg als Tochter eines bulgarischen Vaters, des Arztes, und einer
deutschen Mutter, geborenen Nicki Pawlow. In Plovdiv lebt die Familie des
Vaters, dessen wuchtiger Schädel bald einem befreundeten Ostberliner Bildhauer
als Vorlage für eine Karl-Marx-Büste dient. Diese wird von der Tochter im “Haus
des Lehrers” am Stralauer Platz erinnert, wo sie sie einmal bewundert und von
wo sie nach dem Ende der DDR über Nacht verschwindet.
Das wäre sozusagen der Türöffner des Romans,
bei dem es sich einerseits um die Spurensuche nach der Biografie des
gutherzigen, doch von Wutanfällen heimgesuchten Vaters mit der “slawischen
Seele” und der zwischen Narzißmus und Eiseskälte taumelnden deutschen
Nachkriegsfamilie der Mutter dreht.Andererseits spielt Nicki Pawlow wie bereits in ihremRoman, “Die Frau in der
Streichholzschachtel”, äußerst geschickt mit politischer Zeitgeschichte und
ihren Folgen für die betroffenen Menschen. Und diese treten am deutlichsten am
zweiten Schauplatz des Romans hervor, in der zwischen Ost und West gespaltenen
DDR. Dass dabei vor allem der Neid auf Freheit und Besitz der anderen eine
Rolle spielte und ganz speziell der Neid auf den Westen, der ganze
Familiestrukturen und Liebesverhältnisse zerreißt, arbeitet die Autorin in
Schlüsselszene herauswie in jener zwischen der Mutter Rose und derenGeliebten Jakobi (sic), einem Befürworter des
rigiden Staatssystems, heraus: “Sie erzählte, wie Jacobi an einer roten Ampel
gehalten hatte und wie ihr Blick auf einen weißen Transporter auf der anderen
Straßen seite gefallen war...Vor dem Transporter parkte ein Tschaika [russische
Luxus-Limosine]. Die Möbelträger verstauten gerade Tische, Stühle, Kommoden und
Schränke.” Eine Wohnung eines in den Westen Geflohenenen wird von den Dienern
der Staatsmacht ausgeräumt, das Interieurs beschlagnahmt, was Rose entrüstet
und Jacobi gefällt: “Verräter brauchen kein Privateigentum!” (S.306)
Diese herablassende Haltung des Mitläufers
Jacobi, in seiner Neugier auf Schlechtes, empört Roses Prinzip der Bereitschaft
zur Freude. Vor allem aufgrund der Tatsache, dassdie Unvereinbarkeit, die am Ende der Szene
beide voneiander trennt, auch an anderen, heute noch existierenden Orten – und
nicht allein in der DDR -, spielen könnte, verweist auch auf die universellen
Grundproplematiken innerhalb der Handlung.
Ja, die Autorin Nicki Pawlow führt uns in der
Tat so einiges vor Augen und beweist, dass die DDR weder “auserzählt” ist noch
auserzählt sein kann. Wie auch kann von einem Staat mit seinen nahezu zahllosen
internationalen Verflechtungen wie zum Beispiel in die Volksrepubliken Afrika,
Asien und die Karibik jemals alles erzählt sein?Überall da waren Menschen wie die Familie
Nikolow unter der Maßgabe einzuhaltender Gesetze und gegebener Gesetzmäigkeiten
unterwegs. Natürlich waren jene Gesetze auf die Unterwerfung der Menschen
ausgerichtet und erzeugten Konflikte. Genau das ist der Stoff, aus dem Nicki
Pawlows höchst bemerkenswerter Roman ist. So wird das eigentliche dramaturgische
Ziel der Protagonisten, nämlich die Flucht in den Westen, vom äußersten Rand
her und durch Nebenfiguren – durch Mitglieder des deutschen Teils der
deutsch-bulgarischen Familie-,
eingeführt: [...] “Aber es geht
doch um die Freiheit!”rief Rose. Und
Lotti sagte: “Genau!” “Von einem Schlamassel sind wa in den nächsten
jerutscht”, kam es von Max, der nervös an seiner kalten Zigarre zog. “Unser
Bruder hat’s richtig gemacht, der ist im Westen!”, sagte Lotti.[...] (S. 68)
Die gesamte Szene entwickelt die Autorin über drei Seiten und sie gehört
mit zu den besten des Romans.Vor allem
spricht Lottiaus, was Wantschos Familie
letzten Endes nur übrigbleibt. Dabei wird vorher zunächst aus der DDR nach
Bulgarien zu Wantschos Eltern umgezogen, was sich einerseits aus scheinbar
kulturellen Unvereinbarkeiten -die von
der deutschen Schwiegermutter Wantscho ständig in wahrlich eiskalten Briefen
unter die Nase gerieben werden. Andererseits verdientWantscho, obwohl er schnell eine gute Stelle
als Arzt findet, so gering, dass es zum Ernähren einer Familie – Rose wird in
Bulgarien schwanger -, kaum reicht.
So bleibt am Ende nichts anderes als die Rück-Siedlung in der DDR. Dort
lässt es sich zunächst gut an, doch überschlagen sich gerade jetzt jene
politischen Ereignisse, die heute als Anfang vom Ende des Kommunismus gelten.
Die Panzerkolonnen der Warschauer Paktstaaten 1968 überraschen die Familie
während des Badeurlaubes in Heiligendamm. 1976 folgt die Ausbürgerung Wolf
Biermanns, die sich gerade für die DDR als Sargnagel erwies.
Beeindruckend schildert die Autorin eines der letzten Konzerte Manfred
Krugs in jenem kleinen Kaff in Thüringen, in dem Familie Nikolow in der DDR bis
zur ihrer ausgeklügelten Flucht in den Westen lebt. Der herzhafte Auftritt des
beliebtesten Schauspielers und Jazzsängers der DDR, der sich mit seinem Freund
und Kollegen Biermann solidarisierte, gerät zum Alptraum für die zum Konzert
geschickten FDJ- und MfS-Schlägerbanden, als Krug von der Bühne herab mit ihnen
Klartext redet und anschließend die Bühne verlässt.
Es wimmelt von VoPos und schließlich soll Wantscho wegen des
Konzertbesuches der Doktortitel aberkannt werden (S.304). Nichtsdestotrotz
erhält er am Tag des Gesundheitswesens eine hohe Auszeichnung, doch als er das
Podest für die Dankesrede besteigt, denkt er nur an die eigene Flucht. Auch mit
der Beschreibung der beinahe in letzter Sekunde gescheiterten Flucht der
Familie Nikolow über Österreich gelingt der Autorin ein Stück ganz
hervorragender Prosa.
Überhaupt hält dieser großartig geschriebene
Roman das Krachen der Gegensätze von einst in ungeheuer lebendigen Bildern
fest. Und last but not least lebt
dieser Roman auch von der Tatsache, dass die Autorin, mit Georg Steiner
gesprochen, ihr Thema nicht einfach mal so auswählte, sondern hier suchte sich
zweifelsfrei ein Thema seine Autorin. Das lässt sich gerade einmal von den
Glaubwürdigsten sagen.
Nicki Pawlow, Der bulgarische Arzt, Roman, Langen Müller
Verlag, 496 Seiten, € 23,70.
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