Erschienen in Ausgabe: No 107 (01/2015) | Letzte Änderung: 21.01.15 |
Die Toleranz nimmt ab, religiöser Hass nimmt zu, über fünfzig Millionen Menschen sind auf der Flucht. Theokratische und monoreligiöse Staaten im Orient vertreiben die Minderheiten. Aber was die Achtung religiös Andersdenkender angeht, so wird auch der Westen immer intoleranter. Besonders gegenüber gläubigen Christen. Ein beunruhigender Bericht von „Kirche in Not“
von Peter Sefton-Williams
Auch weiterhin beherrschen Gewalttaten, die im Namen der Religion
begangen werden, die internationalen Nachrichtenmedien. Es drängt sich
der Eindruck auf, dass religiös motivierter Terror nicht nur
weitverbreitet ist, sondern auch zunimmt. Der vom katholischen Hilfswerk
„Kirche in Not“ jetzt veröffentlichte Bericht „Religious Freedom Report
2014“ bestätigt leider, dass diese Einschätzung richtig ist.
Obwohl
sich die internationalen Nachrichtenmedien in ihren Schlagzeilen auf
Gewalt und Grausamkeit im Zusammenhang mit religiösem Extremismus
konzentrieren, findet anschließend selten eine Analyse der möglichen
Auswirkungen und Folgen dieser Gewaltakte statt. Die Medien berichten in
der Regel auch nicht über die religiösen Wurzeln dieser Konflikte, was
zumindest eine Basis für ein besseres Verständnis liefern könnte. So
müssen die Leser, Zuschauer und Zuhörer den Eindruck gewinnen, dass die
berichteten Ereignisse zufällige Akte der Grausamkeit sind, die von
geistesgestörten Bewaffneten begangen werden. Im Westen setzt sich immer
mehr die Sicht durch, dass Religion nicht etwa das Beste im Menschen
hervorbringt, sondern seine schlimmsten Seiten.
In direktem
Zusammenhang mit religiös motivierter Gewalt steht ein Rückgang der
religiösen Toleranz, des religiösen Pluralismus und des Rechts auf
religiöse Selbstbestimmung. Zwar ist das Recht auf Religionsfreiheit in
Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert, doch
ist es nahezu überall bedroht. Auch wenn er schwer zu quantifizieren
ist, so ist der Trend weg vom religiösen Pluralismus, vor allem in den
Entwicklungsländern, in diesem Bericht eindeutig dokumentiert.
Im
Nahen und Mittleren Osten zeigt sich zunehmend das Phänomen des
monoreligiösen Staates. Wo einst verschiedene christliche und
muslimische Gruppen jahrhundertelang zusammenlebten, nimmt heute die
Tendenz zu, dass die dominante religiöse Gruppe auf eine allgemeine
Konformität der religiösen Praxis dringt, häufig durch die Durchsetzung
des Scharia-Rechts oder durch Ins-trumente wie ein „Blasphemiegesetz“.
Die
Entstehung des Islamischen Staates ist dafür das deutlichste Beispiel.
Im Juli 2014 vertrieben die Dschihadisten alle Glaubensgemeinschaften
einschließlich der nicht sunnitischen Muslime aus Mossul, der Stadt im
nördlichen Irak, die sie einen Monat zuvor eingenommen hatten. Den
Christen blieb nur die Wahl zwischen dem Übertritt zum Islam und der
Flucht. Ihnen wurde ein Ultimatum gestellt und der Islamische Staat
erklärte, falls sie sich nicht daran halten würden, „wird es für sie
nichts als das Schwert geben“. In kürzester Zeit verschwanden die
Christen in einer Stadt, in der bis vor kurzem dreißigtausend von ihnen
gelebt hatten, und zum ersten Mal nach sechzehnhundert Jahren gab es
dort auch keine Sonntagsgottesdienste mehr.
Es zeigt sich, dass
Extremismus und Verfolgungen dieser Art maßgebliche Faktoren für das
wachsende Phänomen der Massenmigration sind. Seit vielen Jahren
schwinden im Nahen und Mittleren Osten die religiösen Minderheiten, doch
im Berichtszeitraum hat sich eine bereits bestehende humanitäre Krise
plötzlich und dramatisch verschlimmert. Zum Beispiel ging die Zahl der
Christen in Syrien von 1,75 Millionen Anfang 2011 auf vermutlich knapp
1,2 Millionen im Sommer 2014 zurück – ein Rückgang von über dreißig
Prozent in drei Jahren.
Im Irak geht die Zahl sogar noch drastischer
zurück. Religion war zunächst offensichtlich nicht der einzige Grund
für die Vertreibung von Menschen aus ihrem Heimatland – ausschlaggebend
dafür waren in erster Linie wirtschaftliche Faktoren und die allgemeine
Sicherheitslage –, aber dennoch entwickelte sich religiöser Hass
eindeutig immer mehr zur treibenden Kraft bei den wachsenden
Flüchtlingszahlen. Infolgedessen besteht ein Zusammenhang zwischen dem
Anstieg der Migration aufgrund religiöser Verfolgung und der Meldung des
Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) vom Juni, dass die Zahl
der Vertriebenen und Flüchtlinge weltweit erstmals seit dem Zweiten
Weltkrieg über fünfzig Millionen liegt. Die Schaffung theokratischer
oder monoreligiöser Staaten hat nicht nur tiefgreifende Auswirkungen auf
diejenigen Länder, in denen dies umgesetzt wird, sondern auch auf die
westlichen Demokratien.
Viele vertriebene Mitglieder religiöser
Gemeinschaften suchen Zuflucht im Westen, was eine ganze Reihe von
sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit sich bringt. Es
liegt eine gewisse Ironie darin, dass der religiöse Pluralismus in
Gebieten im Nahen Osten abnimmt, westliche Demokratien dagegen, die
historisch überwiegend christlich und selbst weitgehend monoreligiös
sind, nun lernen müssen, mit religiösem Pluralismus zu leben – oft zum
ersten Mal.
Das Aufkommen der sozialen Medien hat dazu geführt, dass
Fundamentalismus und religiöser Hass weit über geografische Grenzen
hinaus spürbar sind. Der durch Facebook, Twitter, Chatrooms und andere
soziale Medien verbreitete Extremismus führt dazu, dass religiöser Hass,
der in einem weit entfernten Land gepredigt wird, schnell auch lokale
Bedeutung gewinnt. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass im Westen
Kämpfer für die Konflikte im Nahen Osten rekrutiert werden. In den
westlichen Medien steht zunehmend die Sorge über die wachsende Bedrohung
des Westens durch die zurückkehrende „Generation Dschihad“ im
Vordergrund. Sporadische Anschläge, die von radikalisierten Personen auf
bestimmte religiöse Gemeinschaften im Westen verübt werden – wobei die
sozialen Medien oft eine wichtige Rolle spielen –, bestätigen, dass
diese Bedrohung tatsächlich bereits existiert.
Im Allgemeinen ist
das Maß der religiösen Unterdrückung in westlichen Demokratien weiterhin
gering. Dennoch gibt es, wie dieser Bericht dokumentiert, wirklich
beunruhigende Tendenzen. Eine dieser Entwicklungen ist besonders
hervorzuheben: Während die öffentliche Meinung im Westen zunehmend und
zu Recht Diskriminierung aufgrund der Rasse, des Geschlechts und der
sexuellen Orientierung als unannehmbar betrachtet, nimmt gleichzeitig
der Konsens über die Gewissensfreiheit von Gläubigen ab.
Insbesondere
im Hinblick auf Themen wie konfessionelle Schulen,
gleichgeschlechtliche Ehe und Euthanasie besteht ein zunehmender
Konflikt zwischen traditionellen religiösen Auffassungen und dem
„progressiven“ liberalen Konsens. Während die herrschende Meinung
anerkennt, dass Gläubige zumindest die Freiheit haben sollten, ihren
Glauben privat zu praktizieren, besteht immer weniger Einigkeit darüber,
in welchem Maß dieser Glaube in der Gesamtgesellschaft sichtbar werden
darf.
Die Folge ist eine immer deutlichere Tendenz dahin, dass die
Rechte einiger Gruppen die Rechte anderer Gruppen in den Hintergrund
drängen. In der Praxis bedeutet diese „Hierarchie der Rechte“, dass
dort, wo die Rechte von Homosexuellen oder Menschen, die eine
Gleichstellung der Geschlechter fordern, mit der Gewissensfreiheit von
Gläubigen kollidieren, die erstgenannten Gruppen in der Regel Vorrang
haben. Im Vereinigten Königreich wurden zum Beispiel katholische
Adoptionsagenturen, die sich weigern, Kinder an homosexuelle Paare zu
vermitteln, gezwungen, ihre Regeln zu ändern oder zu schließen. In ganz
Westeuropa finden sich weitere zahllose Beispiele für diese Tendenz.
Eine
Erklärung, warum Intoleranz und religiöse Gewalt zunehmen, würde den
Rahmen dieses Berichts sprengen. Spätere Historiker werden zweifellos
die Gründe ausmachen. Wir können hier nur einige der heute gängigeren
Erklärungen wiedergeben.
Eine dieser Theorien handelt von der
Frustration, die daher rührt, dass sich die islamische Welt in den
letzten Jahrhunderten nicht so schnell wie der Westen entwickelt hat.
Das hat zur Folge, dass einige Muslime für die Wiederherstellung des
„Goldenen Zeitalters“ des Kalifats kämpfen, in dem der Islam als Sieger
galt.
Eine andere Überlegung geht dahin, dass Globalisierung und
Multikulturalismus keineswegs größere Toleranz hervorbringen, sondern
vielmehr dazu führen, dass sich religiöse und ethnische Gruppen bedroht
fühlen und sich daher in eine intolerante „Bunkermentalität“
zurückziehen.
Eine dritte Erklärung lautet, dass die westliche
Demokratie – einst so bewundert und nachgeahmt – nicht länger
automatisch als bevorzugtes Modell für Entwicklungsländer gilt. Wenn
Abtreibung, Empfängnisverhütung, Schamlosigkeit, das Auseinanderbrechen
von Familien, gleichgeschlechtliche Ehen sowie eine enorme nationale und
persönliche Verschuldung die Folgen des westlichen Liberalismus sind,
dann – so die Argumentation – möchten traditionell gesinnte religiöse
Gruppen nichts damit zu tun haben.
Der Bericht bestätigt frühere
Untersuchungen, nach denen Christen die bei weitem am meisten verfolgte
Glaubensgemeinschaft sind. Dass so häufig Christen einer Unterdrückung
ausgesetzt sind, steht in direktem Zusammenhang damit, dass sie seit
jeher weit verstreut sind und oftmals in Kulturen leben, die sich sehr
von ihrer eigenen unterscheiden. In vielen Ländern, in denen Christen
seit Generationen oder gar Jahrhunderten zu Hause sind, kommt es heute
zu extremistischen Entwicklungen. In fast jedem der von uns ermittelten
zwanzig Länder mit hohen Einschränkungen der Religionsfreiheit sind auch
muslimische Minderheiten schrecklicher und systematischer Verfolgung
ausgesetzt. Allerdings ist festzustellen, dass diese in den meisten
Fällen durch andere Muslime geschieht. Die zunehmenden Spannungen
zwischen Schiiten und Sunniten sind ein wiederkehrendes Thema dieses
Berichts.
Jüdische Gemeinschaften, vor allem in einigen Teilen
Westeuropas, waren ebenfalls von einer Zunahme von Bedrohung und Gewalt
betroffen, was Rekordzahlen bei der Auswanderung nach Israel zur Folge
hatte.
Im Juli 2014 konstatierte der frühere britische Oberrabbiner
Jonathan Sacks im britischen Parlament einen Rückgang der
Religionsfreiheit, von dem jüdische, christliche und andere
Gemeinschaften betroffen sind. Wie er sagte, führt „ein neuer
Tribalismus“ dazu, dass „die Religion dazu benutzt wird, die nackte
Machtgier mit der Aura der Heiligkeit zu tarnen und zu legitimieren“,
und er fügte hinzu: „Gott selbst weint über die bösen Taten, die in
seinem Namen begangen werden.“
(c)-Vermerk VATICAN-Magazin: 12/2014
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Warszawski 14.01.2015 15:01
Nicht überall im Nahen und Mittleren Osten werden Christen verfolgt. In Israel nimmt die Zahl der Christen kontinuierlich relativ und absolut zu!