Erschienen in Ausgabe: No 107 (01/2015) | Letzte Änderung: 04.02.15 |
von Anna Zanco-Prestel
Marc Chagalls große Popularität selbst unter nicht-Kunstkennern
basiert vordergründig auf den Werken seiner späten Jahre in Frankreich. Seine schwebenden
Liebespaare trafen beispielweiseauf den Geschmack einer breiten Öffentlichkeit und
führten sogar zu einer Art Identifikation zwischen seiner Kunst und der
Metropole an der Seine – als Stadt der Liebe -, in der er auch gelebt
hatte.Chagalls markanteste Produktion datiert jedoch von der Dekade 1911-1922,
von den Jahren seines ersten Aufenthaltes in Paris und von jenen nach seiner
Rückkehr nach Witbesk im heutigen Weißrussland. In Paris hatte er- unter dem
Einfluss der dortigen Avantgarden - vom Fauvismus bis hin zum Kubismus und
Orphismus -ein neues Verständnis für die Farben gewonnen, die zum „tragenden
Ausdrucks- und Kompositionsmittel“ seiner Malerei wurden. In jener Zeit
kristallisierte sich zunehmend auch jener Drang nach Freiheit heraus, der -
weit entfernt vom Theoretisch-Formalen – seine Kunst beflügelte. Ein Hauch von
diesen verschiedenen Einflüssen und Erfahrungen ist auch im Schaffendes Malers,
Grafikers und Bildhauers Gabriel Glikman zu spüren, dem diese bemerkenswerte
Ausstellung gewidmet ist. Es wundert daher nicht zu erfahren, dass Gabriel
Glikmann als Kind das Privileg hatte, Chagall in der 1917 von ihm gegründeten
Kunstakademie in Witbesk live – wie man heute sagt – und aus nächster Nahe zu
erleben. Rückblickend auf dieses grundlegendes Erlebnis schreibt er: „Den Atem anhaltend, schaute ich Chagall
bei der Arbeit zu, wie er mit einem wenig zerzausten Haar, laut und fröhlich,
voller riesiger Energie, Farben auf die Wand legte,... wie Abbildungen
entstanden, ...wie ein Bild geboren wurde. Das war ein bezauberndes
Mysterium...“.
Beschrieben wird sein erstes Treffen mit dem Maler-Poet in dem Kunstinstitut,
wo eine ganze Elite russischer Künstler ihren Wirkungskreis hatte: unter ihnen
Chagalls Lehrer Jehuda Pen oder Chagalls Antipode und Gegenspieler Kasimir
Malewitsch, der 1915 sein berühmtes Schwarzes Quadrat schuf, das zum
Meilenstein in der Geschichte der Abstraktion wurde.
„Es war damals – liest man in
Glikmans bewegenden Aufzeichnungen weiter– „ dass ich – ein siebenjähriger
Junge - für mich – wohl intuitiv – das kostbarste Gefühl der grenzenlosen
Freiheit, unendlichen Phantasie, einer wilden Energie entdeckte, die Chagall
ausstrahlte“.
Gabriel Glikman wurde 1913 in der benachbarten Kleinstadt Biešankovičy geboren, die sich damals noch im Russischen Kaiserreich
befand. In Witebsk hatte er Gelegenheit, einen bunten Reigen „eigenwillig
und ungekünstelt“ gekleideter Maler, mit modernen Sandalen aus Holzsohle
und Riemen und Tolstoj-Hemden aus „ungebleichter Bauernleinwand“ zu
beobachten und sich für sie zu begeistern.
„Fröhlich, lärmende, ewig mit Farbe
beschmierte und lauten Männer“, die sich völlig vom Rest der Bevölkerung
unterschieden. „Man malte damals,
wie man wollte und was man wollte – viel, leuchtend und frei! Uns Jungen
...schien es, dass alle auf die gleiche Weise malten. Wir erkannten fliegende
Juden in Gebetsmanteln, Schneider, Schuhmacher, Brautpaare...All diese grünen,
gelben Figuren in einem blendenden Himmelsblau, im feinen und schwelgerischen
Element der Malerei...“
Im Brennpunkt seiner Träume rückten aber vor allem die antiken Gipse und die
anatomischen Abdrücke des Kunstinstituts, die vermutlich auch sein Interesse
für das Fach Skulptur weckten.
1929 nach Leningrad (heute wieder St. Petersburg) umgezogen, entwickelte sich
Glikman - nach Besuch der dortigen Kunstakademie – zu einem der bedeutendsten
Bildhauern seiner Generation. Seine Skulpturen der herausragendsten Musiker und
Komponisten aller Zeiten - von Bach, Mozart, Beethoven, Schostakowitsch oder
Rostropowisch schmücken Museen, Plätze, Straßen von Moskau bis St. Petersburg.
Ein Bildnis von Puschkin wurde in der Eremitage ausgestellt und gilt als eines
der am besten gelungenen des russischen Nationaldichters.
Der Malerei widmete sich Glikman in jener Zeit eher im Verborgenen. Seine
Arbeiten standen im Widerspruch mit der gängigen Ideologie und gewiss mit den
Vorgaben des Sozialistischen Realismus. Unter ihnen befand sich die Porträtreihe
„Nevskii Prospekt“ - nach der bekannten und in der Literatur viel zitierten
Allee in St. Petersburg genannt – sowie zahlreiche Bildnisse von zeitgenössischen
Künstlern und Dichtern wie Alexander Blok oder von der Theater-Legende Sergjei
Diaghilev.
Ein einziger Versuch, seine Gemälde im Jahre 1968 im Leningrader Haus der
Komponisten auszustellen, scheiterte. Die Werkschau wurde nach nur drei
Tagen auf Anordnung der Sowjetregierung geschlossen. Gabriel Glikman gab
schließlich jenem Drang nach Freiheit nach, der sein Künstlerdaseinerforderte.
1980 - nach langem Warten - durfte er schließlich mit seiner Familie in den
Westen umsiedeln. 1982 unterhielt er ein Atelier im Arabella-Park in München,
wo er sich niedergelassen hatte und 2003 starb. Dort war er bis ins hohe Alter
produktiv und konnte eine rege Ausstellungstätigkeit vorweisen u.a. in
Washington, Paris, Rotterdam oder während der Festspiele im englischen
Glyndenbourne, wo ihn seine Musiker-Freunde einladen ließen.
Die Europäische Akademie Janusz Korczak widmet ihm nun in ihren Räumen eine
Retrospektive mit Ölbildern, Grafiken und Skulpturen, die einzeln in über 70
Ausstellungen in Europa und in den USA gezeigt wurden.
In seinem umfangreichen Schaffen setze sich dieser eklektische Künstler
mitThemen auseinander, die von Kindheits- und Jugenderinnerungen bis hin zu
mythologisch-religiösen Stoffen reichen. Dominierend blieben bei ihm immer die
Porträts von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, insbesondere von
Künstlern und Schriftstellern, die die europäische Kulturwelt im XIX. und XX.
Jahrhundert bereichert haben. In den Vordergrund rückt immer wieder der immense
Beitrag, den Rußland zu dieser unglaublichen Blütezeit geleistet hatsowie die
neuen Impulse, die es an den Westen vermitteln konnte.
Man erlebt diese faszinierende Ausstellung wie eine Galerie von Porträts
herausragender Größen aus der Literaturwelt wie Fiodor Dostojewski, Boris
Pasternak, Marina Zvetajewa und Franz Kafka.
Oder und vor allem aus jener Musikwelt, in der Glikman zu Hause war. Einfühlsam
dringt er tief in die Seele des Porträtierten ein, um die Quintessenz seines
Wesens und gleichzeitigseiner Kunst zu erfassen.
Glikmanns „kürzelhaft reduzierende Bildersprache“ -wie anlässlich einer
seiner Werkschauen in München geschrieben wurde – weist – ähnlich wie bei
Chagall – auf ein Verständnis von „Kunst als Seelenzustand“ hin, der
sich zwischen Realität und Phantasie positioniert.
Das Porträt von Chagall, den er in einem Lichtbündel von Farben festhält oder
die vielschichtigen Selbstbildnisse sind superbe Beispiele dafür. Neben Mozart,
Bach, Beethoven und Mahler oder Einstein mal als Musiker mit der Geige in der
Hand malte erdie vielen Zeitgenossen aus seiner verlassenen Heimat wie Igor
Strawinski und Sergei Prokofiew, Svjatoslaw Richter oder DmitriSchostakowisch,
mit dem ihn eine 40jährige Freundschaft verband. Nicht zuletzt Msitislav
Rostropovich, der ihm in seinen Exiljahren persönlich nahe stand.
„Ich bin davon überzeugt“ –
schrieb der virtuose Cellist 1980 in einer Art Willkommensgruß bei der Ankunft
in Westeuropa - „dass er einen hohen Rang in der glänzenden Schar der
russischen Maler einnehmen wird, welche gezwungen waren, ihre künstlerische
Laufbahn außerhalb ihrer Heimat fortzusetzen, wie z.B. Kandinsky oder
Chagall...“
15. Januar- 5. März 2015
EUROPÄISCHE AKADEMIE JANUSZ KORCZAK
Sonnenstrasse 8, 2. Stock
Mo-Do.11.00-16.00 Uhr
(600 Werke von Gabriel Glikmann befinden sich in
privaten Sammlungen, u.a. in der Sammlung Rostropowich, in Museen in Moskau und
St. Petersburg. Näheres bei Issai Spitzer (issaispitzer@gmx.de) und Nina Müller (n.murkel@hummelbuch.de).
Rostropowitsch 1963
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.
Holst 02.02.2015 15:09
Zu schade - es ist nichts zu finden in dem Bericht über die Sammler von Gabriel Glikmans Werken. Leider ist eine Fotoübermittlung in der Kommentarzeile nicht möglich.