Erschienen in Ausgabe: No 109 (03/2015) | Letzte Änderung: 25.03.15 |
von Herbert Csef
„Gemeinsame Lebenslügen
sind komplizierte Gebilde,
aber das
zugrundeliegende Prinzip ist simpel:
Der eine will nicht
hören, was der andere sich nicht zu sagen traut.“
(Stephan Thome,
Gegenspiel 2015)
Stephan Thome ist etwas
gelungen, was bislang noch kein Schriftsteller vermocht hat: Er hat einen
Doppelroman über ein modernes Ehedrama geschrieben, wobei der erste Roman das
Erleben und die Sichtweise des Mannes schildert, der andere jenes der Frau. In
beiden Romanen geht es um dieselben Personen und um dieselbe
Beziehungsgeschichte. Dieser geniale Trick mit dem Perspektivenwechsel
ermöglicht Einsichten und Gefühlsbotschaften, die sonst nicht möglich wären. Es
werden dieselben Ereignisse geschildert und manche Dialoge sind fast identisch.
Zwei Romane, zwei Perspektiven, zwei Wahrheiten. Keine Synthese. Beide Romane
zusammengenommen umfassen fast 1000 Seiten. Der Leser wird also massiv
beansprucht. Es ist jedoch ein einmaliger Gewinn, beide zu lesen. Der Leser
kann sich streckenweise fühlen wie ein Paartherapeut, bei dem ein Mann und eine
Frau ausführlich ihre Liebesbeziehung schildern, jeder in seiner subjektiven
Version, jeder mit seiner einmaligen Perspektive. Schon das Zuhören fällt
Paaren in dieser Situation oft schwer. Sehr groß wird plötzlich die Versuchung
des Zuhörenden, die Schilderung des Partners zu unterbrechen, ihn zu
korrigieren, zu kommentieren oder etwas richtig zu stellen: „Es war nicht so,
wie du gerade gesagt hast, es war ganz anders, nämlich …“ oder „Nein, das
stimmt nicht! Ich erinnere mich noch ganz genau, dass es so und so war …“ Nun
kommen ja zum einen Paartherapeuten vorwiegend Männer und Frauen, deren
Liebesbeziehung in eine Krise geraten ist, oder die wie in einer Pattsituation
in einer qualvollen Phase des Scheiterns stecken. Paargespräche sind dann oft
ein letzter Rettungsversuch für eine Reanimation der Liebe.
In eine ähnliche
Situation bringt Stephan Thome jene Leser, die von einem Roman derart
begeistert sind, dass sie auch den zweiten lesen wollen, bei dem es ja um die
gleichen Personen und die gleiche Geschichte geht. Es wird dabei klar: Der
weibliche Blick ist radikal anders als der männliche. Alle sprechen über
dasselbe und doch erscheint beides grundverschieden in der männlichen und der
weiblichen Perspektive. Weibliche Augen sehen etwas anderes als die männlichen.
Das von Stephan Thome gewählte Thema ist hochaktuell angesichts der postmodernen
Diffusion der Geschlechtsverhältnisse. Lassen Sie uns mit dem gerade im Januar
2015 erschienenen Roman „Gegenspiel“ beginnen. Er bietet die weibliche Version.
Geschildert wird die Beziehung der beiden Protagonisten Maria und Hartmut. Sie
sind gerade 20 Jahre miteinander verheiratet. Hartmut ist fast 60 Jahre alt und
Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bonn. Maria und Hartmut
haben sich in Berlin kennengelernt. Sie studierte dort in den achtziger Jahren
Theaterwissenschaften und war zuerst liiert mit Falk Merlinger, einem
Theaterregisseur, der sein Vorbild Heiner Müller wie einen Gott verehrte. Maria
Antonia Pereira ist von der Herkunft Portugiesin und hat ihr Land nach der
sogenannten Nelkenrevolution verlassen, um in Berlin zu studieren. Portugal
spielt immer wieder eine große Rolle in beiden Romanen, weil dort die kranken
Eltern Marias lebten, weil Hartmut bei einer Europareise zu seiner
Selbstfindung wieder einmal in Portugal landete. Schließlich wohnt auch der
Autor beider Romane, Stephan Thome, derzeit in Lissabon. Nach dem Bruch der
Beziehung mit dem Theaterfanatiker Falk lernte Maria den Philosophiestudenten
Hartmut Heinbach kennen. Ihr neuer Lebenspartner konzentrierte sich stark auf
seine akademische Laufbahn, erhielt schließlich eine Professur an der
Universität Bonn. Die beiden zogen in ein Reihenhaus, heirateten und bekamen
eine Tochter, der sie den Namen Philippa gaben. Sie studiert
Ernährungswissenschaften in Hamburg und befindet sich in der Roman-Gegenwart
gerade in Santiago de Compostela, um ihre Spanisch-Kenntnisse zu verbessern.
Der Roman „Gegenspiel“
beginnt mit dem lapidaren Satz: „Schatz, was ist los?“. Maria ist während einer
Autofahrt mit Hartmut in Tränen ausgebrochen. Beide sind auf der Fahrt zu einer
Hochzeit von Freunden und Hartmut traktierte sie mit lästigen Fragen, die sie
als inquisitorisch erlebte. Seit fast zwei Jahren führen sie eine Wochenendehe,
weil Maria ihr bisheriges Leben zu eng und unbefriedigend vorkam. Frustration
und Sehnsucht trieben sie aus dem Haus. Das sind die schon im vorher
erschienenen Roman „Fliehkräfte“ beschriebenen zentrifugalen Kräfte, die einen
Partner mit großer Fliehkraft aus dem Zentrum der bisherigen Ehe
hinausschleudern. Diese Fliehkräfte führen zu Fluchtversuchen und Suchbewegungen.
Maria katapultierten diese Fliehkräfte wieder zurück nach Berlin, wo sie ja
schon Jahrzehnte zuvor ihr rebellisches Studentenleben hatte. Sie wurde jetzt
Assistentin, wiederum des Theaterregisseurs Falk Merlinger, der sich
mittlerweile zu einem unerträglichen Misanthrop entwickelt hat. Ihr Ehemann
Hartmut fühlt wachsendes Unbehagen an dieser Wochenendbeziehung. Keinesfalls
würde er offen latente Verlustängste ansprechen. Während der Autofahrt gelingt
es Maria, das Schwierige und die Missverständnisse ihrer Kommunikation
anzusprechen:
„Sobald ich von
Schwierigkeiten spreche, machst du dir Hoffnungen. Wenn ich von Problemen
berichte, ernte ich kein Verständnis, sondern bestätige deine Meinung, den
falschen Schritt getan zu haben… Permanent zwingst du mich in die Rolle
derjenigen, die unsere Ehe gefährdet, indem sie ihre eigenen egoistischen Pläne
verfolgt.“
Hartmut kontert: „Ich
wusste nicht, dass unsere Ehe in Gefahr ist.“
Ihr Dialog misslingt und
Maria leidet sehr darunter:
„Was geschieht mit uns?
Warum können wir nicht mehr reden?“ – „Wir reden schon eine ganze Weile.“ –
„aneinander vorbei.“
Über acht Seiten des
Romans geht dieser qualvolle Austausch des Missverstehens, eines kommunikativen
Scheiterns. Als schließlich Hartmut auch noch das Wort „ficken“ verwendet,
schlägt Maria impulsiv nach ihm. Hartmut macht eine Ausweichbewegung und rast
auf die Gegenfahrbahn mit hoher Geschwindigkeit. Maria ist schockiert: Zum
ersten Mal hat sie ihren Mann geschlagen. Das Auto kommt noch ohne Unfall zum
Stehen und Maria sagt fassungslos: „Was mache ich in diesem Irrenhaus von einer
Ehe?“ Die beiden kriegen nicht nur mit dem Auto, sondern auch im Umgang
miteinander wieder die Kurve. Sie kommen bald zu dem Hotel, in dem die Hochzeit
stattfindet. Nach diesem furiosen Auftakt folgen immer wieder Rückblicke in das
Leben Marias: ihre Kindheit in Portugal, der Wechsel nach Berlin, ihre wilde
Studentenzeit, die Heirat, die Geburt ihrer einzigen Tochter, das bittere Leben
an der Seite eines deutschen Professors der Philosophie. Während Maria in
Berlin nicht so recht ihren Platz findet und sich nicht wohl fühlt, macht
Hartmuteinen Selbstfindungstrip durch
Europa. Er besucht alte Freunde, trifft seine Tochter Philippa und landet
schließlich in Portugal, wo sich die Wege von Hartmut und Maria wieder kreuzen.
Sowohl „Fliehkräfte“ als
auch „Gegenspiel“ enden in Portugal. Der Vorhang fällt – und alle Fragen offen.
Marias Emanzipationsversuch wird beschrieben als „Freiheitsdrang einer
Orientierungslosen“. Es ist mehr eine orientierungslose Flucht als ein
zielgerichteter Ausbruch mit Zukunftsperspektiven. Sie hat einfach das Weite
gesucht und ist aus ihrem dumpfen Unbehagen nicht herausgekommen. Was letztlich
Hartmut auf seiner langen Odyssee durch Europa über sich selbst und seine
Beziehung zu Maria gelernt hat, bleibt in den beiden Romanen ebenfalls offen.
Bei all den Irrungen und Wirrungen ist ihm durchaus bewusst geworden, wie
frustriert und unzufrieden seine Frau Maria ist. In vielfacher Hinsicht ist die
„Mauer des Schweigens“ gebrochen, es wurden viele heikle Themen angesprochen,
aber es sieht auch bei Romanende nicht nach einem konstruktiven Dialog oder
einer gelingenden Beziehung aus. Die Lösung, die Synthese ist ausgeblieben. Was
bleibt, sind Resignation und Fremdheitsgefühle. Für den großen Aufbruch fehlt
beiden die Kraft. Sie können nicht voneinander lassen, aber sie können sich
auch nicht mit frischer Kraft und neuem Mut wiederfinden. Es ist fast wie das
tragische Ende im Film „Jules und Jim“, der mit den Worten endet: „Weder mit
dir noch ohne dich.“
Literatur:
Thome,
Stephan, Fliehkräfte, Suhrkamp Berlin 2012
Thome,
Stephan, Gegenspiel, Suhrkamp Berlin 2015
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