Erschienen in Ausgabe: No 110 (04/2015) | Letzte Änderung: 13.04.15 |
von Eva-Maria Dempf
Die armenischen Kirchen, wunderbare Zeugnisse einer 17
Jahrhunderte dauernden christlichen Hochkultur – seit nun beinahe 100 Jahren
sind die Menschen, die hier beteten, verschwunden. Wenigen nur gelang die
Flucht, die große Mehrheit wurde zu Staub in den Weiten der anatolischen
Wüsten, Opfer eines bis dahin unvorstellbaren Völkermords. Die Nachkommen und
Nachfolger derjenigen, die das Land auf bestialische Weise ethnisch
„säuberten“, leugnen beharrlich. Doch die Wahrheit läßt sich nicht vergraben,
nicht verschweigen, nicht unterdrücken. Jüngst ist wieder eines der Bücher, die
die Wahrheit enthüllen, erschienen.
Für sein aktuelles Buch zum Genozid an den Armeniern 1915
konnte Michael Hesemann erstmals auf bisher unveröffentlichte Akten aus dem
Geheimarchiv des Vatikans zurückgreifen, die den Völkermord eindeutig durch
Berichte von Zeitzeugen als solchen belegen. Sie zeigen auch die verzweifelten,
aber letztlich vergeblichen Bemühungen des Vatikan, vor allem in Person des
Apostolischen Delegaten in Konstantinopel Msgr. Angelo Dolci und Papst Benedikt
XV., die Verfolgung der Armenier durch das Regime der Jungtürken und seine
willigen Helfer im Osmanischen Reich zu beenden.
Detailreich schildert Hesemann die historischen
Entwicklungen und politischen Voraussetzungen im Osmanischen Reich, die zum Genozid
führten, dem rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Er spart auch
nicht die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches aus, dem das Schicksal der
Armenier nicht wichtig genug war, das an seinem Verbündeten, der Hohen Pforte,
festhielt. Gegen die Verfolgung, die Grausamkeit, die lakonische Ausführung
dieser schier unermeßlichen Steigerung der Unmenschlichkeit unternahm Berlin –
trotz dingender päpstlicher Bitte – nichts. Strategische Überlegungen, nicht
zuletzt die Versorgung der Mittelmächte mit Rohstoffen, wogen schwerer. Durch
viele Augenzeugenberichte werden die zahlreichen Greueltaten, Zwangsbekehrungen
und die grausamen Schicksale der Deportierten detailliert und ausführlich
geschildert.
Hesemann stellt, auch anhand der Akten aus dem Vatikan,
deutlich heraus, dass es sich bei dem Völkermord erstens um einen solchen
handelt und zweitens es dabei um eine systematische Säuberung von „christlichen
Elementen“ im Osmanischen Reich ging. Denn auch andere Christen wurden Opfer
der Verfolgungen. Ein deutliches Zeichen für einen religiös motivierten
Völkermord, der die Vision eines rein muslimischen Staates verwirklichen
sollte. Einer Vision, die im übrigen in der heutigen Türkei fast komplett
verwirklicht ist, das sei aber nur nebenbei erwähnt. Eine weitere Linie führt
von diesem Völkermord zum Holocaust, zum millionenfachen Mord an den Juden
Europas – auch das kann bei der Lektüre dieses Buches erspürt werden. Nicht von
der Hand zu weisen ist Hesemanns These, dass der Völkermord an den Armeniern
ein historisches Vorbild für den Völkermord an den Juden durch die
Nationalsozialisten war und sich diese Entwicklungen in anderen Verfolgungen
bis zu den aktuellen Christenverfolgungen im Nahen und Mittleren Osten
fortsetzten. Vor diesem Hintergrund ist Hesemanns Werk ein enorm wichtiger
Beitrag zur Aufarbeitung des Völkermords, gegen dessen Verharmlosung, gegen
dessen Leugnung. Würden die Toten vergessen – sie würden ein zweites Mal
sterben.
Das Buch wird ergänzt durch eine Karte auf dem Frontispiz,
die die verübten Massaker und Deportationen verortet. Enthalten sind auch
einige Bilder und Abbildungen von Briefen. Hier wäre allerdings ein eigener
Bildteil in höherer Auflösung deutlich aussagekräftiger und anschaulicher gewesen.
Leider fehlt auch ein Glossar. Graphisch ist das Buch gelungen, der Einband ist
schlicht gestaltet und jede Kapitelüberschrift ist mit einem armenischen Kreuz
gestaltet. Dem Buch ist ein Vorwort von Azat Ordukhanyan, dem Vorsitzenden des
Armenisch-Akademischen Vereins, vorangestellt, der fordert, den Völkermord auch
als „Patriozid“, also als Raub der Heimat anzuerkennen. Da wäre fürwahr
wichtig. Eine Aufarbeitung des Völkermords in Armenien würde alle Länder, die
beteiligt sind, grundsätzlich verändern – vor allem eines. Doch die schon
angesprochene Vorbildrolle für den Nationalsozialismus in Deutschland – für
Hitler persönlich! – ist noch nicht annähernd im Bewußtsein angekommen. Michael
Hesemann könnte mit seinem Buch den Beginn der Trauerarbeit um die Opfer des
Völkermords der Jungtürken an den Armeniern anstoßen. Das würde auch eine
abermals erneuerte und vertiefte Sicht auf den Greuel des Nationalsozialismus
ermöglichen. Auch darum ist dieses Buch so wichtig.
Am 24. April 1915 hat der Völkermord an den Armeniern mit
einem Massaker begonnen. Ein Jahrhundert. Es wird Zeit.
Michael Hesemann, Völkermord an den Armeniern, 352 Seiten,
Schutzumschlag, München 2015, ISBN: 978-3776627558, 25 Euro.
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