Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 28.11.11 |
Thomas Brussigs Roman Helden wie wir (Verlag Volk & Welt, Berlin 1995)
von Roberto Simanowski
Zu den Büchern, die jetzt gelesen werden, gehört Thomas
Brussigs Roman "Helden wie wir". Der "heißersehnte Wenderoman", wie
Christoph Dickmann bescheinigt. Anfang September erschienen, liegt im Oktober
bereits die zweite Auflage vor. Von den wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen
besprochen, sitzt der Dramaturgiestudent Brussig in Talkshows und wird durch
Buchverkäuferinnen gekannt. Ich habe ihn schon einmal persönlich
bedient, er ist sehr nett, sagt die Frau in meiner Buchhandlung. Am meisten
interessiert sie, wie der Roman heißt, mit dem Brussig 1991 unter
Pseudonym debütiert hat (sie liest keine Rezensionen, der Titel des
Erstlings wurde längst verraten). Es gibt die Bücher und es gibt den
Rummel. Daß einer ausgiebig besprochen und gelobt wird, hindert noch
nicht, sich seinen Text anzuschauen, verlangt aber, über Deskription und
Applaus hinauszugehen.
Volker Braun hatte den Schriftstellern der 80er Jahre zugerufen:
Ein Text aus einem Schrei gemacht, das wäre ehrlich. Es gab diese Texte:
als Schrei, als Klage, als Wimmern. Nach der Wende mußte man Texte
erwarten, die aus einem Schrei der Befreiung und der Empörung über
das Erlittene bestehen. In Brussigs Roman gibt es diesen Doppelschrei nur als
Karikatur: die Klage des komplexbeladenen Klaus Uhltzscht über seinen zu
kleinen Pimmel und die Freude über dessen plötzliches Wachstum ins
Superlative. Was das mit der Wende zu tun hat? Wer so fragt, ist noch nicht
durch Brussigs Schule gegangen. Nichts ist so politisch wie ein Schwanz;
schließlich war es Klaus Uhltzscht' Riesending, durch das die Mauer fiel.
Wie das geschah, liest man auf den letzten Seiten, angekündigt war die
Erklärung auf einer der ersten. Ein alter Trick, man kennt das: ... und
nach der Werbung erfahren Sie, wer die kleine Katrin zersägt hat.
Zunächst sind also die verschiedenen Lebensstationen des Klaus Uhltzscht
zu absolvieren: sein Erfolg auf der "Messe der Meister von morgen", seine
pubertären Traumata, sein erster Tripper, seine Arbeit bei der
Staatssicherheit. Aber das Zapping unterbleibt, kein Vorblättern, keine
Ungeduld. Denn was Brussig in der Zwischenzeit liefert, ist genau das, was der
Klappentext verspricht: ein hohnlächterndes Feuerwerk
respektlos-phantastischer Einfälle. Man ahnt, was auf einen zukommt, als
Klaus Uhltzscht von seinem Lehrer Küfer spricht, der als Leiter der AG
Junge Naturforscher immer Unterrichtsfilme über die Weltwirtschaftskrise
und den Spanischen Bürgerkrieg rückwärts durch den Projektor
laufen ließ. Er sei später geschaßt worden, da er, "wie es
unter anderem hieß", durch rückwärtslaufende Kriegsfilme
pazifistische Illusionen geweckt habe. Das ist absurd, das ist lächerlich,
aber irgendwie weiß man auch, daß es genau so war. Eine
zerstörte Biographie, ein studierter Heizer oder LKW-Fahrer mehr,
vielleicht ein späterer Antragsteller. Eine ernste Sache also. Aber der
Leser lacht wie bei fast allen Äußerungen, die Brussig seinem Helden
über zwanzig Jahre Realsozialismus in den Mund legt. Statt In-sich-Gehen
unbedarfte Heiterkeit, statt Trauerarbeit ein Abdriften ins Absurde. Darf der
das? Sollen wir so die DDR sehen?! War sie denn nichts als ein Witz?
Hinter Brussigs amüsantem Ton steckt nicht der Mangel an Phantasie
für das Böse, das es in der DDR gab. Brussig ist in diesem Land
groß geworden. Er jobte nach dem Abitur (auf einer Berufsfachschule) als
Möbelträger, Pförtner und Hotelportier. Staatstreue Bürger
pflegen einen anderen Lebenslauf vorzuweisen. Brussig durchschaut die Dinge und
deckt sie auf, zur Belehrung oder Erinnerung. Aber Jammern ist nicht seine
Sache; nicht einmal Anklage. Da hat er soeben das "Menschenbild des
Totalitarismus" mit dem "Lied vom kleinen Trompeter" skizziert, das zur
Sozialisation aller in der DDR Herangewachsenen gehörte: das "lustige
Rotarmistenblut", das sein Leben für den Führer (der KPD) hergibt,
das Versprechen der Unsterblichkeit des 'Bauernopfers' im Liederbe, die
Verführung im gemeinsamen Gesang beim Fahnenappell usw. Gerade hat der
Leser sich die hinterhältigen Methoden dieses menschenverachtenden Systems
vergegenwärtigt und beginnt, noch einmal richtig wütend zu werden -
die Faust krallt sich in das Buch, ein Zittern geht durch die Finger: wenn
jetzt die Klassenlehrerin vor einem stände, oder der AOL-Sekretär
oder die Frauen vom Kindergarten (der Staatsbürgerkundelehrer sowieso)!!!
Aber da ist Brussig bereits ausgestiegen und läßt Millionen lesende
Opfer allein. Klaus Uhltzscht ist wieder bei seinem Lieblingsthema, er denkt
über Reinkarnation nach, fühlt sich als der wiedergeborene Kleine
Trompeter, denn: "Zum Kleinen Trompeter gehört eine kleine Trompete - und
ich hatte die kleinste Trompete. Ich war mir nicht sicher, ich war auch nicht
glücklich, aber es mußte weiterhin Menschen geben, die ihr Leben den
Großen opfern (und damit einen wichtigen Beitrag für die gemeinsame
große Sache leisten). Ich sah meinen Schwanz, ich sah das Lenin-Denkmal
und ahnte, daß ich der Kleine Trompeter bin. Genaueres wußte ich
nicht." (101)
Der Leser wird enttäuscht und schockiert den Kopf schütteln oder laut
auflachen und seinen Bekannten zurufen: ja, dies ist der lang ersehnte
Wenderoman. Kein Roman über die Wende (die ist ein weites Feld und Brussig
erklärt weder ihren Ursprung, noch beschreibt er wirklich ihren Ablauf),
sondern eine Wende in der Art, Vergangenes zu betrachten und
aufzuarbeiten. Die ältere Generation bevorzugt in dieser Hinsicht
eine genaue, zuweilen angestrengte Inventur. Sie bechreibt verbittert die
Risse, die durch diese Gesellschaft gingen, oder fragt besorgt nach dem, was
bleibt. Das steht ihr zu und das wird auch von ihr erwartet. Sie hat für
oder gegen diese DDR gekämpft, sie hat unter ihr oder unter ihrem Ende
gelitten. Die Generation der "Hineingeborenen", zu der Brussig gehört, war
weniger in diesen Staat verwickelt, besaß nicht die 'konfliktreiche
Identifikation' der Eltern. Sie sprach das ich stärker als das
wir und pfiff schon ungeniert auf die tölpelhaft vorgebrachte
Ideologie. Diese Generation emanzipierte sich zu den Dingen des Alltags. Man
kann ihr vorwerfen, sie habe von den 68ern nur die Jeans und die Musik
übernommen, deren Texte sie nicht einmal richtig verstand. Im Grunde
muß man aber froh sein, daß sie ihr Desinteresse an Leninistischen
Klassenkampfsätzen nicht in flammende Begeisterung für Mao
verwandelte und daß ihr Englisch zumindest so gut war, "You can't always
get what you want but you can try sometimes to get what you need" zu
übersetzen. Christoph Dickmann hat recht: an der Utopie hatte diese
Generation sowenig teil wie an deren Aberbild, der kollektiven Resignation.
Aber die Bewertung der Feststellung ist schon komplizierter. Soll man dieser
Generation vorwerfen, daß sie sich wenig engagierte für das
Gegenbild eines "menschlicheren Sozialismus"? Vielleicht konnte nur eine
Generation, die zu ihrem Egoismus gefunden hatte, der Ideologie des
Realsozialismus ohne Wenn und Aber die Gefolgschaft kündigen, denn Kritik
auf dem Boden eines Grundkonsenses reformiert doktrinäre Systeme, am
allgemeinen Desinteresse trocknen sie aus.
Brussig schreibt nicht mit Adorno oder Habermas gegen Marx oder Lenin, sein
literarischer und intellektueller Hintergrund sind nicht Volker Braun oder
Christa Wolf. Brussig hält niemandem vor, in der DDR groß geworden
zu sein, und verklagt niemanden, keine Gegenutopien entwickelt zu haben. Alles,
was er tut, ist, alles durch den Kakao zu ziehen. Verzweifelte Nachdenklichkeit
und lautstarke Entrüstung finden in ihm kein Sprachrohr. Christa Wolf wird
daher schließlich zur Top-Zielscheibe seines Spottes (Wolf Biermann
hätte es ebenso sein können, eignet sich seines eigenen Spottes wegen
aber weniger). Was Brussig seinen Helden über Christa Wolf sagen
läßt, ist einseitig und ungerecht, ohne Frage. Zumal Brussig mit dem
Beifall eines Klientel rechnen muß, das allzuleicht und allzugrob sein
Urteil darüber fällt, wie man sich in der DDR zu verhalten hatte und
welche Bedeutung bestimmte Schriften dort für ihre Leser haben konnten.
Mit dem Rückenwind des deutsch-deutschen Literaturstreits noch einmal
zuzuschlagen, ist gewiß nicht ritterlich. Und trotzdem, es ist
amüsant, wie Brussig ungerecht wird. Er nimmt nicht nur Christa
Wolfs Rede vom 4. November 1989 auf's Korn (was mit der Distanz von mehr als
vier Jahren freilich leicht ist), unter seiner Feder wird die Frau des
'authentischen Schreibens' schließlich zu einer Pornoautorin. Brussigs
Respektlosigkeit ist nicht zu überbieten, sein Ehrgeiz scheint darauf zu
zielen, der Rushdie der Ex-DDR zu werden. Aber Brussig greift ja bloß
Christa Wolfs Worte von der Befreiung der Sprache auf und wendet sie in
seinem Sinne an. Christa Wolf als Pornoautorin, das ist unerhört -
wem da jedoch, nach über 300 Seiten, das Lachen vergeht, der hat nichts
begriffen und dem ist mit Susan Sonntag zuzurufen: Ernsthaftigkeit ist nicht
genug, sie kann bloßes Philistertum, Zeichen geistiger Enge sein. Die
Frage ist nicht Brussig oder Wolf, sondern: was wird aus dem Wolf-Stil, wenn es
die DDR nicht mehr gibt und junge Autoren über sie schreiben.
Brussigs Antwort: ein Dauerwitz. Brussig erweist sich, wie er an dieser Stelle
mit der ihm eigenen Lust an griffigen Kurzschlüssen geschrieben
hätte, als guter Marxist. Denn Marx war es, der die Komödie
als die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ansah. Brussig bejammert
nicht und hebt keinen Zeigefinger. Er will unser Lachen. Den ernsthaften Blick
überläßt er anderen. Vor zwei Jahren erschien im Reclam Verlag
Leipzig ein Buch mit dem Titel: "Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen
von Nietzsche bis Tabori". Der Herausgeber Steffen Dietzsch mahnte darin das
Lachen als Mittel gegen ein neues, aus "dem Personalakten-Wahn" produziertes,
endgültig definitives "Wissen-wie-es-mit-UNS-eigentlich-gewesen-sei" an
und markierte eine therapeutische Funktion des Lachens mit Blick auf den
Verlust der DDR-Identität: "Lachen tötet die Macht der
Vergangenheit". Das heißt auch: nur wer zum Lachen kommt, kommt über
die Wende. Aus eben diesem Grund hat Brussig tatsächlich den
Wenderoman geschrieben.
Glaubt man Brussigs eigenen Worten, soll sein Buch Anlaß sein, sich
ernsthaft und gründlich zu unterhalten und sich über die
DDR-Vergangenheit klar zu werden. Solche Sätze erwartet man in Interviews,
kein Autor kommt letztlich um Seriösitätszugeständnisse herum
(und am Ende, das wissen wir ja alle, steckt die größte Verzweiflung
sowieso in den urigsten Komödien). Das Versprechen, auch aus diesem nicht
ganz ernsthaften Buch schließlich zu erfahren, wie es denn nun
wirklich gewesen ist, mag außerdem verkaufsfördernd sein. Aber
man lasse sich nicht täuschen: Brussigs Text weiß wenig von den
erklärten Absichten seines Autors. Man sieht nur, daß er alles
aufbläst, um alles ins Absurde zusammenfallen zu lassen. Die Worte treiben
sich permanent an, immer auf der Suche nach dem Ulk. Ein soeben geschriebenes
Wort, eine Formulierung wird aufgegriffen und so lange gedreht, erneut
betrachtet und weitergetragen, bis es seine Oberflächlichkeit erreicht hat
und zum Witz taugt (mit diesem Verfahren des Rückgriffs folgt Brussig
übrigens Christa Wolf, die auf diese Weise allerdings zur Tiefe
eines Wortes vorzustoßen trachtete). Schon die Anlage des Erzählers
ist völlig ins Groteske überzogen. Klaus Uhltzscht (Flachschwimmer,
Toilettenverstopfer, Sachenverlierer und schlechtinformiertester Mensch) wird
derart zum Sammelbecken aller erdenklichen Verklemmungen, daß als
Referenzrahmen seiner Geschichte nicht mehr der DDR-Alltag, sondern nur noch
das Tagebuch eines Psychotherapeuten in Frage kommt. Wenn Rezensenten in der
Schilderung der phallischen Emanzipationsanstrengungen des Klaus Uhltzscht ein
Abbild diktatorischer Prüderie sehen, die das Sexuelle verteufle und die
ideologische Vergewaltigung zum Prinzip erhebe, vergewaltigen sie Brussigs Text
mindestes mit dem gleichen Eifer, wie die Ideologen der DDR dazumal ihre
Bürger. Die FFK-Diskussion nach der Wiedervereinigung hat gezeigt,
daß sexuelle Verklemmung nicht unbedingt ein Wesensmerkmal der
Ostdeutschen ist. Sie ließ vielmehr annehmen, daß bestimmte
Personen ohne Therapieanbindung solche Klischees nutzen, um eigene Komplexe auf
populäre Zielscheiben umzulenken. Wer ernsthaft versucht, über die
Kunstfigur Klaus Uhltzscht einen Zugang zum Inneren des Ostdeutschen zu finden,
ist in Brussigs Falle gelaufen. Denn wer Übertreibungen, Absurditäten
und Wortspielereien als Erklärungsansatz für Realität benutzt,
ist von Klaus Uhltzscht, der auf die unglaublichsten Sprüche der
DDR-Ideologen hineinfiel, kaum noch zu unterscheiden.
Was aber bewirkt Brussig mit seinen bagatellisierenden Übertreibungen? Was
empfindet der Leser, wenn alles im Ulk endet? Wenn nichts aufgearbeitet,
sondern alles niedergelacht wird. Er fühlt allmählich, daß es
in Wahrheit gar kein Vergangenheitsproblem gibt. Es gibt keine Geschichte zu
besichtigen, es gibt nur Geschichten zu erzählen, und die enden alle
früher oder später unter der Gürtellinie. Im Obszönen liegt
die Erlösung. Brussig hat den Wenderoman geschrieben, weil er die
"system-kompatible Spätlings-Generation" (Christoph Dieckmann) von ihrem
schlechten Gewissen und vom Nach-Wendetrauma der Vergangenheitsaufarbeitung
befreit. Man wird ihm irgenwann vorwerfen, dem großen Vergessen
gedient zu haben.
Hervorstechendes Merkmal der 'Entsorgung' der Vergangenheit ist, daß
Brussigs Held sich in erster Linie um seinen Schwanz kümmert. Gibt es
etwas Persönlicheres als dies? Gibt es angesichts Operativer Vorgänge
und angesichts der Schüsse an der Mauer etwas Banaleres als dies?! Und
doch: ständig von seinem Schwanz zu reden, drückt eine politische
Haltung aus und wird, vor dem Hintergrund verschiedener "Für unser
Land"-Konzepte, zum geschichtsphilosophischen Bekenntnis. Obszönität
als Antiutopie. Eine solche Schlußfolgerung ist irgendwie wahr, aber im
Grunde völliger Unsinn. Genau diese Art zu denken lernt man jedoch in
Brussigs Roman, der zur Hälfte aus Gedankenketten besteht, deren
'unsinnige Wahrheit' daraus resultiert, daß sie die Logik überziehen
und zielsicher von einem Konjunktiv zum nächsten eilen, um unversehens im
Indikativ zu enden. Auf dessen unüberbietbare Absurdität kommt es
Brussig an. "Ich bin ein Meister im Formulieren von grammatischen
Konstruktionen, die im Konjunktiv beginnen und in den Indikativ
übergehen", läßt er Klaus Uhltzscht sagen (242). Brussig
investiert seine Phantasie in Pointen statt in seriöse Horrorbilder. Was
ihm wichtig ist, sind abenteuerliche Assoziationen, die Obszönität
mit Ideologemen koppeln und eine kontradiktorische Formulierung wie
"Wichs-Subotnik" (241) logisch erscheinen lassen, oder Assoziationen, die den
Tripper - dessen Behandlung ja Arbeitskräfte bindet, "die in der
Volkswirtschaft so dringend benötigt werden" (140) - zu einem Mittel der
Konterrevolution machen. Selbst die von den geschlagenen Stasi-Opfern
erzwungene Erklärung, sie seien die Treppe hinuntergefallen, verliert ihr
tragisches Gewicht im Witz, wenn der Treppenbeschmutzer Klaus Uhltzscht sich
fragt, ob sie möglicherweise auf spermabeschmierten Stufen ausgerutscht
seien.
Brussig hat jedoch nicht nur Gespür für die Labyrinthe des Absurden,
er kann auch Realität beschreiben und Charaktere nahe bringen. Es gibt
Sätze in diesem Buch, die sind kurz und treffsicher wie ein gutgezielter
Dolchstoß. Etwa wenn Klaus seine Eltern anhand ihrer Art, Räume zu
betreten, beschreibt: die Mutter, die nicht eben sehr einfühlsam ist,
sondern durch sanften Nachdruck zu terrorisieren weiß und ebenso sanft in
ein Zimmer tritt, "als trete sie vor den Gabentisch" - der Vater, der jede
Tür so öffnet, "als wolle er Geiseln befreien" (29). Andere
Sätze arbeiten in erfrischender Weise mit Klischees der neueren
Kulturgeschichte. Da läßt der kleine Klaus die anderen nicht mit
seiner Frisbeescheibe spielen und rennt lieber bis zur Erschöpfung hin und
her. Für diese Arroganz erntet er das Lob der Eltern, während er sich
im Geheimen einen Vater wie Bogart wünscht, der gesagt hätte:
"Hör mal Junge, du must im Leben immer einen Kumpel haben, der
deine Frisbeescheibe zurückschmeist" (62). Oder die sexuellen Nöte
des einsamen Klaus, der nächtelang vor dem "Altberliner Ballhaus", im
"Lustzentrum der Warschauer Paktstaaten", auf erfolglose Damen wartet:
"Es geschah in einer Vollmondnacht; ich beschönige nichts. Sie
stolperte grimmig über den Hof. Sie war klein und dicklich, als wäre
sie aus verschiedenen Wurstsorten gefertigt." Brussigs Respektlosigkeit macht
auch vor den Schwachen nicht halt. Er ist gemein, aber in diesem Buch geht es
nicht um Takt, sondern um scharfe Stiche: "Ich legte den Arm um ihr Fett.
'Tjaaa...' sagte ich und sah sie an" (188).
Wo auch immer Brussig seinen Stil lernte, es war gewiß nicht bei Peter
Handke oder Botho Strauß. Brussig gibt Charles Bukowski, John Irving und
Philip Roth an. Seine 'Werkstatt' der Perversionen und seine Liebe zum
'unwichtigen' Detail lassen auch auf Einflüsse von Nicholson Baker
schließen. Es ist schön, daß es sowas noch gibt in der
deutschen Literatur: intelligente Verarschung, gezielte Zuspitzung,
unterhaltsam zu lesen und trotzdem brillant. Da nimmt man auch in Kauf,
daß Brussig mal über's Ziel hinausschießt und sich in
Banalitäten verrennt, um die der Autor nun keineswegs mehr zu beneiden
ist. Manche Witze scheinen unkontrolliert aus den Pausengesprächen der
Grundschule übernommen zu sein ("Wäre ich ein ganzer Kerl, hätte
ich Selbstmord durch Luftanhalten begangen, aber dazu war ich, durch und durch
verzärtelt, nicht in der Lage" (198)), manche Stellen verpuffen zum
Kalauer ("Die Angst beim Klimmziehen: daß man am Reck hängt, wenn
sich das Gehänge reckt" (70)). Mitunter vergißt Brussig seine
früheren Witze zugunsten eines neuen (während Klaus soeben darauf
anspielte, daß seine Mutter dem Wort "Sex" durch die stimmhafte
Aussprache jede Erotik nimmt, bekommt er nun einen Steifen, wenn sie vorm
Fernseher die 6er B-Noten von Katarina Witt ausruft (203)), oder er verrät
die Logik seiner Erzählperspektive, wenn sein Schwejkscher Held
plötzlich ganz und gar nicht mehr satirisch über die DDR reflektiert
(105) und mit Feuilleton-Intelligenz Christa Wolfs Rede vom 4. November seziert
(282ff.). Hier fehlt Brussig offenbar eine zweite Erzählerinstanz, denn in
den Mund des Klaus Uhltzscht passen diese Passagen weit weniger als, laut
Klaus, Christa Wolfs Traum vom "besseren Sozialismus" auf jene Demo.
Brussigs Roman wirkt wie ein Paukenschlag in der Symphonie jener Bücher,
die sich dem Durchdenken der mehr oder weniger mitgetragenen DDR-Geschichte
widmen. Viele, die das Buch lesen, werden sich die Schenkel schlagen und in ein
befreiendes Lachen ausbrechen. Andere werden grimmig Seite um Seite
verschlingen. Die Wurzellosigkeit des Spätgeborenen führt ebenso zu
einem erfreulichen Mangel an inquisitorischem Eifer wie zu dem bedenklichen
Umstand, daß die DDR mit Talk-Show-Leichtigkeit 'erledigt' wird. Es
bleibt die Frage: was passiert, wenn die DDR bereits im Brussig-Stil
beschrieben wurde? Denn eins ist anzunehmen: in 30 Jahren, wenn die Enkel
Fragen stellen, wird man kaum "Helden wie wir" vorlesen. Brussigs Buch kann
nicht das letzte Wort über die DDR und ihr Ende sein, aber es ist ein
höchst amüsanter und unter psychologischem Gesichtspunkt gewiß
auch wertvoller Pausenfüller.
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