Erschienen in Ausgabe: No 111 (05/2015) | Letzte Änderung: 14.05.15 |
von Siegmar Faust
Sehr geehrter Herr Halke,
Sie werden einsehen, dass diese Anrede äußerst übertrieben
ist und außerdem ihrer sozialistischen Gewohnheit widersprechen dürfte, wo man
sich lediglich mit „Werter Herr“ oder „Werter Genosse“ ansprach. Sie werden
sich erinnern, dass ich Sie schon einmal privat im April 2011 anschrieb; das
ist nun mittlerweile schon vier Jahre her. Abgesehen davon, dass Sie mir nie
geantwortet haben, merke ich nun auch anhand Ihrer erneuten Attacken gegen das
Menschenrechtszentrum und seine Gedenkstätte, dass Sie & Genossen nichts
dazu gelernt haben – und das 25 Jahre nach der Wiedervereinigung!
Als ich 1976 in den Westen freigekauft worden war und
anschließend als Zeitzeuge viel im Westen, Süden und Norden Deutschlands
herumkam, sind mir 25 Jahre nach dem Kriegsende und der Befreiung durch die
Alliierten keine Leute mehr begegnet, die so offen die erste totalitäre
Diktatur auf deutschem Boden dermaßen verherrlichten wie Sie es mit der zweiten
tun, ohne dafür irgendwie bestraft werden zu dürfen.
Mal im Ernst: Haben Sie jemals in der „DDR“ Ihre Regierung
wählen dürfen? Haben Sie 1971 Ulbricht abgewählt und dafür Honecker gewählt?
Haben Sie jemals, außer 1968 zur Verfassung, etwas auf einem Wahlschein
ankreuzen können? Was hat Sie also zu einem Anhänger dieser Pseudo-Republik
werden lassen? Nehmen Sie mir es deshalb bitte nicht übel, wenn ich die „DDR“
nur in Anführungszeichen setzen kann, denn dieses Konstrukt Stalins hatte
weder etwas mit einer Demokratie, noch mit einer Republik zu tun. Zum Glück war
es nicht gelungen, die Deutschen zu Sowjetbürgern zu machen, wie es Clara
Zetkin gern gehabt hätte. In einem Brief schrieb sie 1922: „Ich will lieber mit dem letzten der Bolschewiki zusammen ewig in der
Hölle sitzen, als mit den Sozialpatrioten und Sozialpazifisten aller Länder
die Freuden des Paradieses teilen. Denn die Bolschewiki haben gewagt, wozu
jenen der Mut fehlt: Wort zu Tat werden zu lassen, ‚die Revolution zu machen‘.
Zu machen nicht unter freigewählten, sondern unter vorgefundenen Umständen,
aber trotz alledem sie zu machen.“
Tja, der Revolutionsromantik, die stets in einem Blutrausch
endete und wie die Gegenwart zeigt, auch immer endet, verfallen immer wieder
Menschen verschiedenster Ideologien und Religionen. Auch Hitler und sein
antisemitischer Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels empfanden sich als
Revolutionäre, ebenso die heutigen weltbekannten IS-Kämpfer. Übrigens meinte
Goebbels noch 1924: „Ich bin deutscher
Kommunist.“ Zumindest sah er sich als „Deutscher Sozialist“, allerdings als
einer, der sich von marxistischen Theorien abgrenzte.
Dabei lassen sich all die Ergebnisse solcher menschlichen
Triebe und Irrungen schon an der Französischen Revolution bestens studieren.
Dazu empfehle ich vor allem das hervorragende Buch Friedrich Sieburgs: „Robespierre“.
Aber die Kinder Ihrer marxistischen Revolutionsideologie, werter
Herr Erzieher Hanke, die Antifa-Terroristen, lassen sich in vielem mit den
IS-Terroristen vergleichen, nur dass sie zurzeit nicht so reich und einflussreich
sind. Ihre Parolen im Stile Goebbels kann man ja überall lesen: „Deutschland verrecke!“, „Friedlich oder
militant – wichtig ist der Widerstand!“, „Für die soziale Revolution - alles
andre ist ein Hohn!“, „Gerechtigkeit, Freiheit und Energie ergibt als Summe
Anarchie!“, „Jeden Tag eine gute Tat, heute scheiß ich auf den Staat!“, „Kapitalismus
scheiße wie noch nie! Für den Kommunismus und die Anarchie!“, „Kirche, Staat
und Kapital vereint Verbrechen ohne Zahl.“, „Macht aus dem Staat -
Gurkensalat! Und aus der Polizei - Kartoffelbrei!“, „Schwarz, Rot, Gold - nie
gewollt!“, „Von der Saar bis zur Neiße – Bomben drauf und weg die Scheiße!“,
„Es lebe der Verrat, an Vaterland und Staat!“, „Weg mit dem Konstrukt von
Volk, Nation und Rasse - für uns gibt‘s nur eins: Klasse gegen Klasse!“,
„Bomber-Harris und die Flut - das tut allen Deutschen gut!“, „Organisiert den
Vaterlandsverrat - Feuer und Flamme für jeden Staat!“, „Deutschland von der
Karte streichen, Polen muss bis Frankreich reichen“.
Sie sehen, alles findet seine Fortsetzung bis in unsere
Gegenwart und Zukunft hinein. Oder mit den Bibelworten Kohelets (des
Davidsohnes, der König in Jerusalem war) gesagt: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man
wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Aber diese Weisheit
passt natürlich nicht allen Menschen, vor allem jenen nicht, die sich auf der
Seite des Fortschritts empfinden, sich zur Avantgarde des Proletariats oder
sonst welcher Klassen, Rassen und Sekten zählen und meinen, dass sie die
Geschichtsgesetze begriffen hätten, um alle reaktionären, unaufgeklärten, also
doofen und minderwertigen Menschen führen zu dürfen. Wohin? Natürlich immer in
ein Paradies, wo ewige Gerechtigkeit herrscht, wo es weder Kriminalität noch
antagonistische Gegensätze gibt und alles in einem ewigen Frieden dahindämmern
darf...
Für solch eine große, verheißungsvolle Zukunft musste man
selbst die Zweifelnden, Uneinsichtigen oder Unvorsichtigen zu ihrem Glück
zwingen, nicht wahr? Wenn Ermahnungen, Degradierungen, Schulungen,
Schnitzlers „Schwarzer Kanal“ oder Parteiversammlungen nicht mehr wirkten und
sich gar „subversive Elemente“ den Erziehungszielen der irdischen Weltenlenker
zu entziehen suchten oder gar konterrevolutionären Widerstand leisteten, dann
musste zu drastischeren Mitteln gegriffen werden. Sie als Offiziere gaben es
dann an die Ihnen ausgelieferten Häftlinge weiter mit Paket- und Einkaufssperre,
Besuchsverweigerung, Entzug der Leseerlaubnis, Treppenhaus schrubben, dreimal
21 Tagen Hungerarrest oder bis hin zu Prügel mit dem ausziehbaren Schlagstock,
den man „Totschläger“ nannte. Ihr Kollege Hoffrichter hat sogar eine Notiz
hinterlassen, dass er Gewalt gegen mich angewandt habe, weil ich ihn
„Faschist“ genannt hätte. Meine Wahrheit: Ich wurde von ihm beim lauten Singen
in der Keller-Isolationszelle („Tigerkäfig“) erwischt. Er schlug wie wild mit
seinem aus der Hosentasche gezogenen Schlagstock auf mich ein – bis ich mit
vielen blutenden Striemen am Boden lag. Als er aufgeregt, dabei alle Türen
offenlassend, verschwand, rief ich ihm nach: „Sie Faschist, Sie!“ Dann kam Meister Steinert dazu, der für mich
hörbar sagte: „Der Alte muss mal wieder
zum Arzt gehen!“ Er richtete mich auf, wischte einiges Blut von mir ab und
schloss mitleidig lächelnd die Türen zu. Dankbar denke ich oft an Steinert
zurück, der leider nicht mehr leben soll.
Was die armen Erzieher, Parteisekretäre oder sonstigen
Funktionäre einer Erziehungsdiktatur selten verstehen, ist, dass Menschen
einfach ohne marxistische Geschichtsgesetze nur nach ihrer Fasson glücklich
sein und leben wollen. Die Maßstäbe dafür sind so verschieden und individuell,
dass sich mit dem Aufklärer Immanuel Kant nur sagen lässt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch
gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Doch Ideologen,
die von einer Heilslehre beseelt sind, wollen nicht den urwüchsigen Lebenstrieb
des Menschen anerkennen, obwohl er sich am Ende immer als stärker als jede
noch so gut durchdachte Theorie, aufrichtig gemeinte Doktrin oder faszinierende
Philosophie erweist.
Lenin, Trotzki, Hitler oder Castro, die andere Überzeugungstäter
durch ein gewisses Charisma noch besser um sich scharen konnten als etwa die
Gartenzwergstalinisten Ulbricht oder Honecker das vermochten, konnten sich
glückliche Menschen nur vorstellen, wenn sie uniformiert, geformt, genormt, berechenbar,
diszipliniert, immer lenkbar, stets verfügbar und einsetzbar für eine „große
Sache“ waren und immer sind, ob nun für „Führer, Volk und Vaterland“, für die
Revolution, für die von Marx angeblich erkannten Geschichtsgesetze (die
nirgendwo in der Welt durch die Praxis bestätigt wurden), für den Weltgeist,
für die Freiheit, für den Weltfrieden, für „Väterchen Stalin“, für den „Aufbau
des Sozialismus“ oder wofür auch immer. Das ist letztens doch alles nur mystische
Propaganda. Und jede Mystik, die sich nicht ausschließlich auf den Schöpfer
des Universums bezieht, sondern nur auf die Schöpfung und auf uns Geschöpfe gerichtet
ist, führt in die Anmaßung, den Größenwahn und damit in den Untergang.
Nichts ist solchen Führern, die sich für auserwählt halten,
oder diesen Parteien-Avantgarden, die sich stets anmaßten, Menschenmassen ins
Heil, ins Paradies oder wohin auch immer führen zu müssen, mehr zuwider als
Spontaneität. Selbst Rosa Luxemburg wurde in den Lehrbüchern der SED wegen
ihres Hanges zur Spontaneität kritisiert, weil für sie nicht Marxens Theorie
als Anleitung zum Handeln im Vordergrund stand, sondern sie konstruierte eine
Dialektik von Spontaneität und Organisation. Sie sah darin zwei verschiedene
Momente desselben Prozesses, die einander bedingen. Sie meinte: Es ist der
elementare spontane Klassenkampf, der die theoretischen Einsichten produziert –
und durch diese auf eine höhere Stufe gehoben wird. Nun, die „blutige Rosa“
(wie sie von ihren Feinden genannt wurde) war gebildet genug, noch ihren
Aristoteles zu kennen, der diese Problematik schon mit seinem Lehrer Platon
auszufechten vermochte. Aristoteles erkannte wahrscheinlich als einer der
ersten unter den Philosophen, „dass eine
im großen und ganzen einigermaßen funktionierende, gleichsam spontan ausgeübte
Lebenspraxis zum guten Teil selber Theorie ist, eine Übertheorie, in der sich
Vita activa und Vita contemplativa, Handeln und ‚Schauen‘, immer wieder
spannungsreich zusammenfinden“, wie es der Ernst-Bloch-Schüler Prof. Dr. Günter
Zehm (der vier Jahre als politischer Häftling in Torgau und Waldheim absaß) in
einer seiner Pankraz-Kolumnen gut auf den Punkt brachte.
Wie Sie ja wissen, Herr Halke, wurde Rosa Luxemburg, die
zwar einerseits auf die Gefahr einer Diktatur der Bolschewiki in Russland
hinwies, aber andererseits auch zu einer Diktatur nach bolschewistischem
Vorbild aufrief, im Juni 1916 zusammen mit Karl Liebknecht zu zwei Jahren Zuchthaus
verurteilt. Kennen Sie ihre „Briefe aus dem Gefängnis“? Oh, die habe ich sehr
genau gelesen! An diesen Briefen können Sie erkennen, wie unmenschlich im
Vergleich zu den von ihr beschriebenen Haftbedingungen die Verhältnisse in
Ihrer netten „Strafvollzugseinrichtung“ Cottbus waren. Ein Unterschied wie Tag
und Nacht. Nicht nur, dass sie zeitweise einen kleinen Garten hatte, sie
durfte sich sogar Bücher ihrer Wahl von außen zukommen lassen, sie durfte
während der Haft sogar Zeitungsartikel und Bücher schreiben. Wir hingegen
durften zwar auf dem EB 10, wenn wir unsere Norm erfüllten, einen Kugelschreiber
und einen Schreibblock kaufen, aber benutzten durften wir ihn faktisch nur für
den Monatsbrief an eine verwandte Person, für andere Zwecke bedurfte es der
Genehmigung des Erziehers. Während Kriminelle die Genehmigung zum beliebigen
Beschreiben des Papiers bekamen, durfte das von uns Politischen auf unserem Kommando
lediglich ein Kinderarzt (der wirklich kein Stasi-Spitzel war, wie wir nach
Akteneinsicht feststellten). Ich bekam, weil ich am Arbeitsplatz während der
Reparatur meiner Maschine beim Notieren philosophischer Gedanken erwischt
wurde, Arrest aufgebrummt. Davon gibt es in der Haftakte einen Eintrag. Im
gesamten Gefängnisgelände durften wir in den 70er Jahren weder einen Baum,
noch einen Grashalm, überhaupt etwas Grünes, geschweigen denn eine Blume
sehen. Doch ein Gänseblümchen wagte es sich einmal, sich zwischen einer
abgelegenen Bodenritze zu entfalten. Ein gefangener Pfarrer oder
Theologiestudent (ich weiß es nicht mehr genau) pflückte diese kostbare
Seltenheit, um das Blümchen zur Freude aller Mitgefangenen mit in die Zelle
nehmen zu wollen. Der Versuch wurde entdeckt und er wurde mit Arrest bestraft.
In der „DDR“ wurde Luxemburgs Gesamtwerk übrigens erst ab
1970, ihre Kritik an Lenin erst 1974 veröffentlicht. Ihre
radikaldemokratischen (man kann auch sagen: utopischen) und antimilitaristischen
Texte wurden dabei als „Irrtümer“ kommentiert. Dennoch verbreitete sich rasch
ihr berühmter Satz „Freiheit ist immer
Freiheit der Andersdenkenden.“ Zuvor heißt es noch: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer
Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit.“ Eigentlich
eine Selbstverständlichkeit, jedoch nicht in einem kommunistischen System,
das sie selber mit vorbereitet hatte.
SED-Dissidenten und Bürgerrechtler in der DDR beriefen sich
zur Kritik an der Alleinherrschaft und Reformunfähigkeit der SED auf eben jene
Texte Luxemburgs. Wolf Biermann, damals als Sohn eines in Auschwitz ermordeten
jüdischen Kommunisten selber noch Kommunist, zitierte 1976 den Luxemburg-Satz
von der Freiheit des Andersdenkenden in seinem Köln-Konzert, worauf Ihre Regierung
ihn „ausbürgerte“ (eine von den Nazis erfundene Vokabel). Das berüchtigte
Luxemburg-Zitat stand dann auch am 17. Januar 1988 auf einem Plakat von Demonstranten
bei den jährlichen offiziellen Feierlichkeiten zu ihrem Todestag. Der Vorfall
löste eine Verhaftungs-, aber auch eine Ausweisungswelle aus. Ihr Arbeitsplatz
als Erzieher, werter Herr Halke, schien für die Ewigkeit gesichert zu
sein.
War es die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die Sie vom
Kindergarten an in JP-, FDJ- und Parteiveranstaltungen, also über die Schulen
bis zum Studium und darüber hinaus eingetrichtert bekamen, ohne jemals einen
Kritiker von Marx oder Lenin lesen zu dürfen? Glauben Sie als erfahrener und
alt gewordenen Mann wirklich noch, dass man eine Welt errichten kann, wo paradiesische
Zustände auf Erden herrschen?
Ja, als Jugendlicher (wo einem noch Geschichts- und
Menschenkenntnisse fehlten) glaubte ich selber daran. Kurz vor dem Mauerbau
ließ ja Chruschtschow die welthistorischen Ziele des Kommunismus verkünden –
siehe ND vom 31.07.1961! Da wollten die Sowjets die USA ums Doppelte in der
Produktivität übertroffen haben. Und wir sollten ja bekanntlich Westdeutschland
überholen, später dann mit dem Zusatz „ohne
einzuholen“. Bis 1970 sollte in der SU die „Abschaffung der schweren körperlichen Arbeit“ eingetreten sein
und man versprach das „Land mit dem
kürzesten Arbeitstag“ zu werden. Bis 1980 sollte ein „allmählicher Übergang zum kommunistischen Prinzip der Verteilung nach
Bedürfnissen“ stattfinden, wo also das Geld langsam aus dem Verkehr gezogen
würde und jeder nach seinen Bedürfnissen aus der Fülle des Produzierten sich
nehmen dürfe, was er braucht. Die Partei verkündete feierlich: „Die heutige Generation der Sowjetmenschen
wird im Kommunismus leben!"
Schon im Mai 1957 hatte Chruschtschow in einem
Fernsehinterview mit CBS verkündet: „Ihre
Enkel werden auch in Amerika im Sozialismus leben. Das prophezeie ich ihnen.
Fürchten Sie nicht für ihre Enkel: die werden sich über ihre Großväter
wundern, weil diese eine so fortschrittliche Lehre, wie es die Lehre des
wissenschaftlichen Sozialismus ist, nicht verstanden haben.“
Obwohl Sowjet-Gelehrte (also Partei-Ideologen)
beschwichtigend erklärten, die „wissenschaftlichen
Fundamente“ des Kommunismus blieben „selbstredend
nicht unverändert“, behaupteten sie dennoch, das von Marx, Engels und
Lenin Vorausgesehene habe sich – den Sozialismus betreffend – „vollständig bewährt“. Und so
verkündeten die Sowjet-Professoren enthusiastisch: „Der allseitig entwickelte Mensch der kommunistischen Gesellschaft wird
geistigen Reichtum und physische Vollkommenheit, hohe Kultur und sittliche
Lauterkeit, ausgedehnte wissenschaftliche Kenntnisse und einen entwickelten
ästhetischen Geschmack harmonisch in sich vereinigen.“
Bei Marx hatte ich selber gelesen, dass man sich in der
kommunistischen Gesellschaft, „in jedem
beliebigen Zweige ausbilden kann“, da „die
Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich
macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu
fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich
gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“[1]
Warum, so fragte ich mich als Oberschüler, sollte ich mich
also noch mit Fächern abquälen, die ich nicht mochte, wo ich doch von Kindheit
an Künstler werden wollte? Doch kurz vor dem Abitur zeigte mir ein Lehrer ein
ziemlich langes Zitat von Marx den, das mich vorerst in tiefe Verwirrung
stürzte: „Die exklusive Konzentration des
künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende
Unterdrückung in der großen Masse ist Folge der Teilung der Arbeit.“ So der
erste Satz davon – und der letzte: „In
einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen,
die unter Anderm auch malen.“[2]
Ich muss heute noch über mich lachen, weil ich als
FDGB-Saisonkellner nach dem Abi kein Trinkgeld mit der Argumentation annahm,
dass ja bald der Kommunismus siegen würde, wo es ja bekanntlich kein Geld mehr
geben wird. Die Leute dachten, ich wollte sie verarschen, aber ich blieb stur
und steckte keinen Pfennig Trinkgeld ein. Zumal stand damals auf den Speisekarten
der KONSUM-Gaststätten: „Wir bitten
unsere verehrten Gäste, dem Bedienungspersonal kein Trinkgeld zu geben, da
sie ausreichend entlohnt werden!“ Natürlich wurde ich immer gefragt, ob
ich denn so viel verdienen würde, aber ich konnte sie damit beruhigen, dass ich
als junger Vater damals mit Überstunden um die 400 Mark verdiente. Viele Gäste
wussten, dass ich mit einem kärglichen Gehalt für drei Kellner arbeiten musste,
weil kaum jemand in der Sächsischen Schweiz, aber alle an der Ostsee kellnern
wollten. Aber da ich nicht rauchte und keinen Alkohol trank, was später
Stasi-Vernehmer stark verwundern sollte, reichte es in der Übergangsphase
Sozialismus durchaus zum Überleben.
Auch später, 1968, als ich das zweite Mal aus poltischen
Gründen vom Hochschulstudium ausgeschlossen wurde, war ich ebenfalls noch
recht naiv. In Prag blühte für uns junge Sozialisten hoffnungsvoll der „Prager
Frühling“ auf, der auch „Sozialismus mit
menschlichem Antlitz“ genannt wurde, weil er ein paar selbstverständliche
bürgerliche Freiheiten einräumte. Die Stasi lud mich unter falscher Flagge zu
einem Gespräch ein. Zwei Herren, etwa 10 Jahre älter als ich, interessierten
sich für „konterrevolutionäre Literatur“. Als ich sagte, kenne ich nicht,
machten sie Anspielungen auf meine eigenen Gedichte, die ich kurz zuvor
vertrauensselig dem griechischen Schriftsteller und Christa-Wolf-Freund Thomas
Nikolaou gegeben hatte. (Als dann in den 90er Jahren seine infame Spitzeltätigkeit
aufgedeckt wurde, verließ er fluchtartig unser Land. Warum wohl? Natürlich nur
wegen der „Ausländerfeindlichkeit in
Deutschland“. Da fragt man sich doch, warum so viele Ausländer jetzt unbedingt
in unser Land wollen, nicht wahr?)
Zum Glück unterschrieb ich den Stasi-Hauptamtlichen nicht
einmal die Schweigeverpflichtung, geschweige denn eine
Mitarbeiterverpflichtung, denn ich merkte bald als geschasster
Literaturstudent, dass sie keinen blassen Schimmer von Literatur hatten. Sie
kannten weder Wolf Biermann noch Václav Havel. Auch von den Vorgängen in Prag
waren sie kaum unterrichtet. Auf jeden Fall, so vermute ich heute, taten sie
dümmer als sie waren, was mir jedoch die Entscheidung damals leicht machte,
sie zu verachten. Nach dem fünften Gespräch, dieses Mal ohne Bewirtung, wurde
mir symbolisch die Pistole auf die Brust gesetzt: „Eine Woche Bedenkzeit! Sonst bekommst Du die Macht der Arbeiterklasse
mit aller Gewalt zu spüren!“
15 Jahre zuvor wäre ich dafür vielleicht noch wie die
Künstler Horst Bienek, Hem Schüppel oder der Journalist Horst Schüler in den
GULag nach Workuta verschleppt worden, aber meine anschließende Leidenszeit in
der „DDR“ endete immerhin mit einem happy-end, und zwar im doppelten Sinne. Erstens
musste man mich auch Dank Biermanns und Havemanns Hilfe vorzeitig aus der
Kellerhaft freilassen, und zweitens machten mich freigekaufte Häftlinge auch
im Westen bekannt, so dass ich 1975 als „Gefangener
des Monats“ von amnesty international betreut wurde, obwohl ich natürlich
in Cottbus davon nichts spüren durfte. Zudem sind Flugblätter von der Gesellschaft
für Menschenrechte für meine Freilassung sowohl in Frankfurt am Main als auch
vom Mauermuseum im Westen Berlins verteilt worden. Und drittens krachte das Unrechtssystem
zu unseren Lebzeiten auch noch vor den Augen aller Welt zusammen. Freilich,
die Welt im Ganzen ist nicht besser geworden, denn das Böse, das teuflisch
Totalitäre im Gemenge mit dem Liebenswerten ist unser irdisches Schicksal.
Soll heißen: der Kampf geht endlos weiter…
Der weltberühmte französische Philosoph und Totalitarismuskritiker
André Glucksmann geißelte in seinem Vorwort zu dem Zeitschriftenbeitrag
„Voltaire und die Toleranz“ im Philosophie-Magazin (03/2015) jene Illusionisten
und Utopisten, die uns ständig das Paradies auf Erden versprechen: „Zweieinhalb Jahrhunderte nach dem
Philosophen Leibnitz[3] ist Europa
wieder dieser Illusion erlegen – zu glauben, dass die Katastrophen vorbei oder
endgültig überwindbar wären. Fall der Mauer in Berlin, Ende des Kalten Krieges,
Zusammenbruch der braunen und roten Totalitarismen.“ Und weiter hinten
heißt es im selben Text zu Voltaire: „Der
Philosoph der Aufklärung trägt die Wahrheit des 21. Jahrhunderts in sich und
zeigt auf das Risiko, dass die Welt noch immer und allezeit ein Irrenhaus sei.“
Sie können ja gern weiterhin von ihrem kommunistischen
Paradies träumen oder ersatzreligiös daran glauben, dass Ihr Gott Karl Marx
die Geschichtsgesetze erkannt hat, das verbietet Ihnen niemand. Aber sie
sollten aufhören, weiterhin Andersdenkende als Lügner oder Fälscher hinzustellen.
Es ist so billig, niederträchtig und geschichtsfälschend, wie Sie und Ihre
Genossen in Ihrem Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden weiterhin geifernd
die Deutungshoheit über die Geschichte beanspruchen. Sie und Ihre Genossen
haben mitgeholfen, den von den Sowjets besetzten und durchaus wesentlichen
Teil Deutschlands in den Ruin zu treiben, und das nicht nur wirtschaftlich,
sondern auch kulturell, gesundheitlich („DDR“ war Weltmeister in den
Selbstmordquoten, Lebenserwartung trotz gefälschter Statistiken 5 bis 7 Jahre
unter der im Westen) moralisch (denn Heuchelei, die nicht selten zur Bewusstseinsspaltung
führte, war ein Charakteristikum des „DDR“-Bewohners) und auch im Bezug auf
das, was man der Natur angetan hat (absterbende Wälder im Erzgebirge,
uranverseuchte Landschaften, verdreckte Flüsse, verrußte Städte usw.).
Weltmeister war Ihr Staat nur dank der mit Drogen vollgestopfter Athleten im
Sport (war ja auch ein Ansporn, mal aus dem Volksgefängnis „DDR“ heraus kommen
zu dürfen), aber einsame Spitze war die SED-Diktatur vor allem bei der Überwachung
der eigenen „sozialistischen
Menschengemeinschaft“. Ich kann nur staunen, wie Sie & Co. noch immer
stolz auf dieses kommunistische (sozialistische) Bruderstaatensystem sein
können, das keinen einzigen Nobelpreisträger hervorgebracht hat, ausgenommen
ein paar Dissidenten. Und die siegreiche Sowjetunion, von der wir das Siegen
lernen sollten, was hatte sie zur Weltmacht werden lassen? Dem polnischen
Historiker Bogdan Musial gelang es erstmals aufgrund neuer Archivfunde in
Moskau nachzuweisen, dass die SU nicht aus eigener Kraft nach 1945 zur
Weltmacht aufgestiegen ist, sondern durch Stalins Beutezüge in Ost- und
Mitteldeutschland: „Kaum hatte sich der
materielle und technologische Transfer erschöpft, begann der Abstieg der
östlichen Supermacht“. [4]
Alles, was Sie in Ihren Medien zum angeblichen Faschismus
sagen (und damit sogar noch den Nationalsozialismus verharmlosen), lässt sich
ebenso auf die kommunistische Weltbewegung übertragen, denn auch sie war und
ist seit Lenin bis hin zu Kim Jong-un „ein brutales, verbrecherisches Regime“,
das nicht nur Andersdenkende, religiös leben wollende oder ihre Menschenrechte
einfordernde Menschen inhaftierte, folterte und ermordete, sondern auch eigene
Leute, die man als „Revisionisten“, „Trotzkisten“, „Sozialrevolutionäre“, aber
auch als „Großbauern“, „Kulaken“ oder „Kapitalisten“ und was weiß ich noch
alles diffamierte, um sie wegen kleinster Abweichungen vom eigenen Standpunkt
auslöschen zu können, körperlich ebenso wie man sie auch von Fotos und aus
allen Büchern, also auch aus der Erinnerung zu tilgen suchte. In der neu
gegründeten „DDR“ mussten vor allem Sozialdemokraten am meisten leiden, mit
dessen marxistischem SPD-Flügel man zuvor noch mit großem Pomp die neue Arbeiterpartei
SED auf dem Vereinigungsparteitag gefeiert hatte.
„Wer kennt und zählt
heute noch die Namen derer“, so der Journalist Dieter Rieke (sozialdemokratischer
Bautzen-Häftling), „die als
Sozialdemokraten, als Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime oder
als Internierte unter fadenscheinigen Gründen in den Lagern, Untersuchungsgefängnissen
und Haftanstalten zu Tode gequält wurden, verhungerten oder an Tbc gestorben
sind und namenlos verscharrt wurden? Unzählige Tote und Vermisste gehen auf das
Konto der Kommunisten und ihrer Ideologie.“
In dem Vorwort zu den Arbeitsmaterialien zur politischen
Bildung unter dem Titel „Sozialdemokraten
als Opfer im Kampf gegen die rote Diktatur“ heißt es weiter: „In einem Brief ehemaliger politischer
Häftlinge an das Zentralkomitee der SED vom 31. März 1971 wird die
Größenordnung dieser Opfer genannt. Danach ist allein für die Jahre 1948-50 die
Rede von 200.000 Sozialdemokraten, die auf die eine oder andere Weise vom
SED-Regime gemaßregelt, verfolgt oder zur Flucht getrieben worden sind; über
5.000 Sozialdemokraten schmachteten danach lange Jahre in den Kerkern der
Kommunisten - 400 verloren ihr Leben für ihre politische Überzeugung. Waren es
gar mehr? Wurden die vielen namenlos Verscharrten und Verschollenen dabei
mitgezählt? Noch wissen wir es nicht. Es bleibt zu hoffen, dass dieser dunkle
Teil unserer Geschichte bald näher beleuchtet und erforscht wird.“ Freilich,
nach Stalins Lesart galten ja die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“,
denen die Thälmann-Bataillone den Kampf anzusagen hatten, anstatt die
Nationalsozialisten mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Die sozialistischen (bolschewistischen, kommunistischen) und
nationalsozialistischen Weltanschauungen unterscheiden sich durchaus in ihrem
theoretischen Niveau, auch in ihrer ethischen Grundorientierung. Trotzdem
brachten beide Systeme Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes hervor. Beide
Herrschaftsideologien haben sich, wie der Philosoph und Politikwissenschaftler
Prof. Lothar Fritze in seinem Buch „Anatomie
des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung
im Vergleich“ meines Erachtens gut analysierte, als tauglich erwiesen,
gutwillige Menschen zu begeistern, Überzeugte zu bösen und opferträchtigen
Handlungen zu verführen und entsprechende Vorgehensweisen auch noch moralisch
zu rechtfertigen. Der Autor kommt dabei ebenso wie ich (zusätzlich durch meine
Erfahrungen bestärkt) zu der durchaus erschreckenden Erkenntnis, dass sowohl
die rote als auch die braune Ideologie jenen Tätertyp begünstigten, der
besonders zur Planung und Ausführung von Schwerstverbrechen an Andersdenkenden
psychisch in der Lage war: der Überzeugungstäter mit dem guten Gewissen.
Herr Halke, ich frage Sie mal in Ihrem Stil zurück: Warum
nennen Sie den Nationalsozialismus ebenso stur und verharmlosend
„Faschismus“,obwohl für alle, die lesen
konnten, die Bewegung doch „Nationalsozialismus“ hieß? Ihre „Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei
Cottbus, Abteilung Sekretariat“, meldete am 27. Juni 1953 unter dem
Aktenzeichen 14 00 25 Ha./Fa. an den Chef der Deutschen Volkspolizei, Gen. Generalinspekteur
Maron nach Berlin: „Die faschistischen
Provokationen begannen im Bezirk Cottbus in den frühen Morgenstunden des 17.
Juni 1953 im Kreise Jessen. Hier sammelte sich bereits um 07.00 Uhr auf dem
Marktplatz der Kreisstadt Jessen eine Menge von ca. 250 Großbauern gemeinsam
mit einigen Arbeitern der volkseigenen Ziegelei Gorrenberge und der MTS Leitwerkstatt
Jessen. Sie zogen vor das Gebäude der Kreisverwaltung und forderten dort vom
Staatsanwalt die Freigabe aller inhaftierten Großbauern. Der Staatsanwalt,
der hier bisher den Regierungsbeschluß vom 11. Juni 1953 über die Freilassung
der inhaftierten Gefangenen mit Strafen bis zu drei Jahren nicht verwirklicht
hatte, sprach zur Masse und machte einige Zugeständnisse....“
Sehen Sie, 1953 wurden sogar Arbeiter und Bauern im
sogenannten Arbeitet-und-Bauern-Staat faktisch als Faschisten bezeichnet, denn
wer wäre denn sonst für „faschistische
Provokationen“ verantwortlich gewesen? Diese schon 1934 von Stalin
angeordnete Umbenennung von Nationalsozialismus in Faschismus, weil er, der
„Ewig-Lebende“ (Johannes R. Becher) „selbst
bei gründlichster Prüfung“ darin keine „Spur
Sozialismus zu entdecken“ vermochte, scheint sich wohl tief in die
Hirnwindungen Ihrer Genossen eingeprägt zu haben. Gewissensbisse können nur
jene haben, die überhaupt noch Rudimente eines Gewissens besitzen. Auch Stalin
schlief bestens mit der Last des millionenfachen Mordes auf dem Gewissen. Er
mordete als Revolutionär bekanntlich für das Gute, es musste ja sein. Stalin
hatte die Lehren aus der Geschichte gezogen. Iwan der Schreckliche, soll Stalin
einmal zu seinem Genossen Sergej Eisenstein gesagt haben, sei nicht
schrecklich gewesen, jedenfalls nicht schrecklich genug. Er habe Leute
hinrichten lassen und anschließend stets lange Zeit damit verbracht, zu bereuen
und zu beten. „Er ließ zu, dass Gott ihm
in diesen Dingen im Weg stand“, sinnierte Stalin, „er hätte noch viel entschlossener sein müssen“.
Dank des genialen Wirkens Stalins hat die russische
Föderation heute rund 150 Millionen Einwohner, halb so viele Einwohner wie die
USA, die niemals einen Stalin hatten. Ohne die vom Stalinismus angerichteten
Verheerungen würde auch die Einwohnerzahl Russlands (unter Zugrundelegung normaler
demographischer Entwicklungen) heute bei 300 Millionen liegen. Sie sehen: Ihr
Mann, der auch Sie und Ihre Genossen tiefenpsychologisch prägte, hat die Welt
wirklich im Sinne von Marx verändert. Auch die National- wie die
Realsozialisten wollten bekanntlich die Welt verändern. Und das taten sie
tatsächlich. Doch: „Ein Jegliches hat
seine Zeit“ heißt es in Prediger 3.Auch „töten hat seine Zeit, heilen
hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat
seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit...“ Und nun
trauern Sie & Co. Ihrer alten „DDR“-Zeit nach, damit zeigend, dass Sie (wie
so manche SS-Schergen nach dem Kriege) zu keiner echten Läuterung fähig sind.
Nicht nur dass Kommunisten nach dem furchtbaren von den
Nazis angerichteten Fiasko bis 1950 weiterhin die Nazi-KZs nutzten, im
sowjetischen „Vaterland der Werktätigen“ solche Gulag-KZs bereits ab 1918
einrichteten, die bald das ganze Land überziehen sollten, nein, sogar noch in
den 80er Jahren waren wieder neue KZ- und ähnliche Lager in der „DDR“ geplant,
für deren Nutzung die Stasi schon die Namen der zu Inhaftierenden parat hielt.
Alles vergessen? Merken Sie nicht, Herr Halke, dass Ihre Zeit (zum Glück für
uns) hier in Deutschland vorüber ist? Ihr Ideal, der Kommunismus – „das war der
Völkermord, die brutale Vernichtung“ von mindestens 100 Millionen unschuldiger
Menschen. Allein in der Nähe Moskaus haben vier Tschekisten in einem Jahr 20 000
Menschen erschossen. Dazu sagte der Osteuropa-Experte Prof. JörgBaberowski: „Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tötung.“ Sah die
Endlösung im Lande Stalins anders als unter Hitler aus? Oder was war dann die
bewusst erzeugte Hungersnot in der Ukraine 1932/1933 mit 7 bis 11 Millionen Toten?
Wurden da etwa Kinder verschont? Und was war mit den Letten, Esten und
Litauern unter Stalin? Von 1944 an sollen 479.000 Tschetschenen, und Inguschen
den kollektiven Deportationen und der Zwangsarbeit in der Verbannung in
Zentralasien sowie in Sibirien zum Opfer gefallen sein. Und wer redet heute
noch von den Krimtataren? 44 % dieses Volkes wurde durch die Deportation
ausgerottet. Und wer redet noch über das Schicksal der Kalmücken,
Karatschaier und Balkaren? Völkermord charakterisierte also beide Sozialismen
des 20. Jahrhunderts.
Massenmörder wie Lenin, Stalin, Mao Tse-tung, Pol Pot oder
Mengistu haben „konterrevolutionäre“ Klassen und Völker liquidiert und konnten
sich dabei (wie heute die Terroristen des Islams auf den Koran) bestens auf die
Schreibtischtäter Marx & Engels berufen. Denn Marx schrieb schon 1849 in
einem Leitartikel: „In Wien erwürgten
Kroaten, Panduren, Tschechen, Sereschaner (eine aus Südslawen gebildete
Heerestruppe) und ähnliches Lumpengesindel die germanische Freiheit.“ Das
war keinesfalls typisch für den damaligen Stil streitbarer Publizistik. Marx
& Engels konstruierten aus dem Hut ihrer abstrusen Theorien „Völkerabfälle“. „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und
Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen.
Und das ist auch ein Fortschritt", ergänzte der „Humanist“ Engels.
Deshalb fordert er „unerbittlichen Kampf
auf Leben und Tod mit dem revolutionsverräterischen Slawentum Vernichtungskampf
und rücksichtslosen Terrorismus. (...) Auf die sentimentalen
Brüderschaftsphrasen (...) antworten wir: daß der Russenhaß die erste revolutionäre
Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist, daß seit der Revolution der
Tschechen- und Kroatenhaß hinzugekommen ist.“
Den „Tschechen,
Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben und Ukrainern“ würden, so Ihre Klassiker
Marx & Engels, „die ersten
historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der
Selbstständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen“. Als „Träger der geschichtlichen Entwicklung“ seien die Deutschen und
Österreicher zur Unterjochung dieser „Völkerruinen“
berechtigt gewesen. In Berufung auf Hegel bezeichneten sie die
südosteuropäische Bevölkerung als per se konterrevolutionär: „Diese Reste einer von dem Gang der
Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese
Völkerabfälle, werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung
oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre
ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche
Revolution ist“. Diese Völkerverständigung und Humanismus verbreitenden
Sätze können Sie alle in den blauen Bänden Ihrer heiligen Klassikern nachlesen,
werter Herr Hanke. Und wenn Sie einen Kompass dazu brauchen, kann ich Ihnen nur
die Bücher von Prof. Konrad Löw empfehlen: „Warum fasziniert der Kommunismus?“,
„Die Lehre des Karl Marx“, „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ und
„Marx und Marxismus – Eine deutsche Schizophrenie“.
Deren kriegerisches („revolutionäres“) Verständnis der
gesellschaftlichen Entwicklung hinderte die beiden Freunde stets daran, die
bürgerliche Zivilgesellschaft zu begreifen. Sie übersahen, dass das Freihandelsinteresse
von britischen Manchester-Industriellen, die ja nicht alle vom Waffenhandel
lebten, durchaus korrespondierte mit linksliberalen Prinzipien, internationalen
Friedensbestrebungen und dem Willen zu sozial-politischen Reformen. Für die
Revolutionsfirma Marx & Engels war das allenfalls die sentimentale
Bemäntelung eines reinen Profitinteresses. Und genauso borniert, weil undifferenziert,
sehen das noch heute die Linken in allen Parlamenten Europas.
Ich kann deshalb nur schlussfolgernd mit Wolf Biermann
sagen:
„Mich widert es an,
wenn die Funktionäre der Linkspartei im Parlament populistische Sprüche klopfen
und alle anderen belehren wollen über Freiheit, über Frieden, über Demokratie
und soziale Gerechtigkeit. Diese vier Begriffe bilden ja den Glutkern unserer
Gesellschaft. Und genau auf diesen Gebieten haben diese smarten Diktaturprofis
weder Kompetenz noch Verdienste. Die Freiheit haben Gysi und seine Genossen
jahrzehntelang systematisch geknebelt. Sie haben diverse Kriege verteidigt,
befördert und 1968 auch mitgemacht. Sie haben die Demokraten verachtet und
geächtet. Im ‚realen Sozialismus‘ – also im DDR-System der Privilegien –
wurde die soziale Gerechtigkeit besonders schamlos missachtet.“
So viel zum Allgemeinen. Nun zu Ihrer Tätigkeit, werter Herr
„Erzieher“ Halke, im Zuchthaus Cottbus. Sie verlangen nun gar von den Opfern
Ihrer anmaßenden Erziehungs-Politik, dass wir noch heute ihre verharmlosenden
und gezielt gedrechselten Begriffe verwenden? Glauben Sie im Ernst, dass wir
zu Ihrem verkommenen, unhygienischen, menschenunwürdigen Zuchthaus, wo wir bis
in die 70er Jahre nicht mal einen Grashalm im Freihof sehen durften und im
Kommando marschieren mussten, den niedlichen Bürokratenbegriff „Strafvollzugseinrichtung“
verwenden? Diese Zeit, in der illegal an die Macht gekommene Machthaber die
Sprache und die Bedeutungen diktierten, ist gottseidank vorbei. In der
Demokratie sind solche Versuche ebenfalls virulent, aber da darf es Gegenkräfte,
Streit und Kompromisse geben, all das, was in Ihrer Diktatur nicht möglich war
und am Ende schon eines solchen Versuchs in Ihre elenden Zuchthäuser führte.
Aber das interessiert Sie ja nicht. Noch heute bringen Sie keine Empathie für
die einst unschuldig Eingesperrten auf. Sie haben ja nur nach dem damaligen
Gesetz gehandelt, also nach dem, was die Führung Ihnen befahl. Ach, nicht zu
vergessen: die „Gesetze der Volkskammer“!
Hitler hat das Parlament gleich zu Beginn seiner Amtszeit
still gelegt; die Sowjets haben ein Parlament, das den Namen verdient, in der
„DDR“ gar nicht erst zugelassen, sondern eine Akklamationsstätte errichtet, in
der alle vom Politbüro gewollten Vorlagen nur einstimmig abgenickt wurden. Insofern
war die Volkskammer lediglich eine vollziehende Legislative gegenüber einer
uneingeschränkt und unkontrolliert agierenden SED-Exekutive, die wiederum von
Moskau abhängig war. Ein einziges Mal in der Geschichte der sogenannten
Volkskammer gab es 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen aus den Reihen der
CDU, als 1972 das „Gesetz über die Unterbrechung
der Schwangerschaft“ mit den restlichen 481 Stimmen beschlossen wurde.
Und da meinen Sie, dass Ihre „Volksdemokratie“ auch nur
einen Deut besser war als das Regime der „Nazischergen“? Sie haben nur Glück,
dass die tägliche Kriegshetze der Kommunisten in Medien und Schulbüchern gegen
alle demokratischen Staaten nicht in einen heißen Krieg mündete, sondern Ihr
System glimpflich und wirtschaftlich erschöpft in sich zusammenbrach.
Kindersoldaten hatte man ja schon ab 1979 während der Schulzeit herangebildet.
Ich habe noch das Lehrbuch „Wissensspeicher Wehrausbildung“ in meinem Besitz,
das allen Schülern der 9. und 10. Klassen zugemutet wurde. Auch Fotos zeugen
noch davon, wie Kinder in Mini-Panzern bei „Feldparaden“ zu
„Pioniermanövern“missbraucht
wurden.
Der wesentliche Begriff „Würde“ taucht in der
„DDR“-Verfassung von 1949 gar nicht erst auf, ab 1972 in der neuen dann sogar
fünfmal. Aber wessen Würde ist hier gemeint, wenn man schon in der Präambel zur
Kenntnis nehmen muss, dass man in einem Staat zu leben gezwungen wird, der
alternativlos unter der „Führung der
Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ steht? Natürlich
wurde im Artikel 27 versprochen, dass„jeder Bürger der Deutschen Demokratischen
Republik das Recht hat, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung
frei und öffentlich zu äußern.“ Und „Niemand
darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.“
Ja, so blöde, das zu glauben, war ich auch noch, als ich
offen zu begründen wagte, warum ich diesen „ersten
Friedensstaat auf deutschem Boden“ verlassen wollte. Doch erst bei der
Stasi in der Untersuchungshaft wurde mir beigebracht, dass ich meine Meinung
nur frei und öffentlich äußern könne, wenn ich zu den „Grundsätzen dieser Verfassung“ stünde. (Ich lege Ihnen mal meine
Haftbeschwerde bei, die ich unter Zeitdruck im Vernehmerzimmer des
Stasi-Vernehmers schreiben musste.) Deshalb wurden folgerichtig, d.h. nach kommunistischer
Logik meine Eingaben und Begründungen vom Bezirksgericht Dresden als „Verbrechen“
gewürdigt. Tja, so viel Würde musste sein! Zu den widerlichen Grundsätzen Ihrer
Staatsverfassung gehörte freilich, dass ich zu akzeptieren gehabt hätte: „Die Deutsche Demokratische Republik ist
für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
verbündet.“ Ich wollte aber kein Ersatzrusse werden und solche
Ewigkeitsformeln anerkennen, die höchstens der Religion zustehen, aber keiner
politischen Verfassung. Desweiteren hätte ich alternativlos die „Führung der Arbeiterklasse und ihre
marxistisch-leninistische Partei“ erdulden müssen - und gar noch deren
giftigen Sprachrohre wie den mit höchsten Orden ausgezeichneten „Schwerstarbeiter“
Karl-Eduard von Schnitzler, dessen Ehefrau Marta Rafael 1983 im KaDeWe beim Ladendiebstahl,
also beim Klassenkampf gegen den Kapitalismus ertappt worden war, oder das ehemalige
SA- und NSDAP-Mitglied Dr. Günter Kertzscher, der es bis zum stellvertretenden
Chefredakteur des Zentralorgans „Neues Deutschland“ gebracht hatte und kriegshetzerisch
(mit Anklängen an den NS-Sprachgebrauch) gegen Dissidenten, „Parasiten“ und das
„Bonner System“ hetzte, von dem er nach dem Zusammenbruch der „DDR“ noch bis
1995 seine üppige Rente bezog, obwohl er in dieses Rentensystem nie etwas
eingezahlt hatte. Nein – danke!
Selbst der bekannteste Rechtsanwalt der „DDR“, Dr. Wolfgang
Vogel (IM „Georg“), später noch zum Professor erkoren, hatte mir persönlich am
Telefon gesagt (doch leider erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems),
dass meine Verurteilung ein einziger Rechtsbruch gewesen sei - und das nicht
nach westlichen Maßstäben, sondern nach den eigenen Rechtsgrundsätzen Ihres
geliebten Staates, werter Herr Halke. Einige Ihrer Kollegen wären vielleicht
noch im Gefängnis gelandet, wenn die jetzt bestehende Rechtsprechung gültig
gewesen wäre. Sie wissen ja, dass Ihre Kollegen Jahn und Schulze durch die im
Einigungsvertrag geregelte Festlegung nur nach den Gesetzen der „DDR“ verurteilt
werden durften. Und dann bekamen sie auch noch den Bonus, nach der in beiden
Gesetzen geringeren Strafe verurteilt werden zu dürfen. Können Sie sich
vorstellen, wie Deutschland heute auf allen Gebieten verwüstet wäre, wenn Sie &
Genossen den sogenannten Kalten Krieg gewonnen hätten?
Gerne besuche ich mit Ihnen einmal die neue JVA in Cottbus-Dissenchen.
Dort sitzen in der Regel wirklich keine unschuldigen Leute ein, aber dort
können Sie erfahren und mit eigenen Augen sehen, dass in einer Zivilgesellschaft
selbst echten Verbrechern ihre Menschenwürde zugestanden wird. Oder lesen Sie
mal wieder die Bücher jener Kommunisten, die in Hitlers Lagern und Zuchthäusern
schmachten mussten. Dabei können Sie fairerweise nur die wenigen Jahre der Friedenszeit
beachten, denn wenn die „DDR“ in einem Kriegszustand gewesen wäre, weil man aus
Moskau wieder mal den Befehl zur „Weltrevolution“ ausgerufen hätte wie 1923 unter
dem KPD-Führer Ernst Thälmann (also nicht gegen Hitlers Sturmabteilung (SA),
sondern gegen Deutschlands erste demokratisch gewählte Republik zu putschen!),
dann würden politische Häftlinge von Cottbus oder Gegner wie ich gar nicht überlebt
haben. Marxisten können nicht zwischen Gegner und Feind unterscheiden, denn
wenn jemand glaubt, den Plan der Geschichte in der Tasche zu haben, der kann
sich doch nicht dazu herablassen, mit Andersdenkenden zu diskutieren. Die
bürgerliche Zivilgesellschaft hingegen ist eine Streitkultur zwischen
Andersdenkenden, weil niemand die absolute Wahrheit für sich beanspruchen darf.
Vorläufige Ergebnisse dieses Streites sind freilich zumeist Kompromisse. Das
kann also niemals etwas Vollkommenes sein, auch wenn wir alle danach streben
sollten. Und da kein Mensch vollkommen ist, kann auch keine Gesellschaft
vollkommen sein, jedenfalls nicht hier auf Erden. Eigentlich logisch, oder?
Aber Marxismus-Leninismus hat wenig mit Logik, aber viel mit Utopie, Machtstreben,
Hass und Besserwisserei zu tun. Jeder, der etwas von Logik versteht, bekommt
einen Lachanfall, wenn er den Satz von Lenin liest: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Dümmer geht’s nimmer!
Wenn ich schon in den Hochzeiten der Entspannungspolitik
Mitte der 70er Jahre 401 Tage in Ihren feuchten, kalten und menschenunwürdigen
Kellerzellen hausen durfte, werter Herr „Erzieher“ Halke, davon insgesamt auch
63 Tage in unbeheizbaren Arrestzellen bei dem Verpflegungssatz von 45 Pfennigen
pro Tag, dann lässt sich ausmalen, was mit mir und meinesgleichen geschehen
wäre, wenn die „DDR“-Führung sich durch Kriegsereignisse bedrängt empfunden
oder eben den Kalten Krieg gewonnen hätte. Erzieher wie Günter Hoffrichter,
der nicht umsonst den Spitznamen „Urian“ (Teufel) und zusätzlich den geheimen
Spitzelnamen „Roland“ trug, aber auch solche Scheusale in Menschengestalt wie
Ihre Kollegen „Arafat“ (Horst Jahn) und „Roter Terror“ (Hubert Schulze) haben
uns oft entgegen geschrien, dass wir in ihren Augen schlimmer als Mörder
seien. Kriminelle schadeten ja nur einzelnen Familien, aber Politische (die es
ja im Sozialismus gar nicht geben durfte) wollten angeblich dem ganzen Staat an
die Gurgel – so die Argumentation unseliger Parteischulungen.
Ich habe in Cottbus unter den Häftlingen keinen
kennengelernt, der die Regierung stürzen, Revolutionen anzetteln oder einen
Parteisekretär exekutieren wollte. Sie wissen ja, die Höchststrafe betrug in
der Regel in Cottbus nur bis 5 Jahre. Echte Staatsfeinde oder „Revolutionäre“
hätten als Lebenslängliche in Brandenburg, Bautzen oder Bützow gesessen,
falls sie bis 1987 nicht als „Konterrevolutionäre“ hingerichtet oder sonst
wie zu Tode gebracht worden wären.
Sie wissen doch ganz genau, dass die meisten Häftlinge in
Cottbus deshalb einsaßen, weil sie die von Ihnen noch heute verteidigte „Diktatur des Proletariats“ mit ihren so
verbohrten und phrasendreschenden Funktionären nicht mehr ertragen konnten und
ihr eigenes einmaliges Leben nach den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte selbstverantwortlich wahrzunehmen suchten, und zwar in einem
anderen Teil Deutschlands oder der Welt.
Dafür wurden Tausende kriminalisiert. Allein schon, wer
einmal über das Verlassen seiner zur Sowjetkolonie geschändeten Heimat laut
nachgedacht oder gar schon etwas geplant hatte, konnte bis zu drei Jahren
eingesperrt werden. Ein alter Opa saß damals in Cottbus, weil er seinen
Enkelsohn nicht angezeigt hatte, der einmal am Abendbrottisch geäußert hatte: „Wenn ich mal das Loch in der Mauer finde,
dann bin ich weg!“ Denn wie hieß es am Ende dieses § 213 (Ungesetzlicher
Grenzübertritt) so barmherzig? „Vorbereitung
und Versuch sind strafbar.“ Und wer Ihrem Terror-Regime mit seiner Frau,
Verlobten oder einem Freund zu entkommen trachtete; wer gar ein Werkzeug
mitführte, das die „Grenzsicherungsanlagen“ hätten beschädigen können, bekam
bis zu 5 Jahre Freiheitsentzug. Solch einen jungen und zufünf Jahren verurteilten Mann, der eine
Drahtschere im Gepäck hatte, aber schon zuvor im Sperrgebiet verhaftet worden
war, habe ich in Cottbus ebenfalls kennen gelernt. Und Erich Sonnenberg saß zu
dreieinhalb Jahren verurteilt in Cottbus, weil er in einer Gaststätte politische
Witze erzählt hatte. Einen meiner Stasi-Vernehmer hatte ich einmal gefragt, ob
heute (also in den 70er Jahren) noch jemand wegen politischer Witze
eingesperrt würde. Er guckte mich streng an und sagte: „Das kommt ganz auf die Qualität der Witze an.“
Mein „Verbrechen“ nannte sich hingegen ganz witzlos „staatsfeindliche Hetze“. Und was habe
ich verbrochen? Das, was ich Ihnen jetzt verkürzt berichte, kann ich Ihnen
beweisen, denn nicht nur die Anklageschriften und Urteile, die wir zu
„DDR“-Zeiten niemals ausgehändigt bekamen (warum wohl?), sondern auch die so
aufwendigen wie geistig billigen Konstrukte der Stasi-Vernehmungen sind ja nun
glücklicherweise in unseren eigenen oder in Volkes Händen. Bisher hat man schon
über 50.000 Seiten gefunden, die allein die Stasi über meinen Freundeskreis und
mich vor allem seit 1968 vollgepinselt hat. Wie viele Arbeitergroschen wurden
da vergeudet, um dieser 100.000-Mann-Behörde Beschäftigungsmaßnahmen
einzuräumen. An fast allen Konsum- und Qualitätsgütern hatte es den „herrschenden Arbeitern und Bauern“
gemangelt, aber bei der Machtsicherung der feudalistisch-kommunistischen Herrschaftsstruktur
wurde nie gespart. Hauptsache, die illegitim an die Macht gekommenen und an
ihr festhaltenden Bonzen konnten sich sicher fühlen, konnten Qualitätsprodukte
bis hin zu Pornokassetten aus dem Westen konsumieren, vor allem solange sie
sich des sowjetischen Beistands sicher waren.
Ich erlaubte mir als 28-jähriger Mann mit meiner zweiten
Familie, nachdem die „DDR“ 1973 in die UNO aufgenommen worden war und ich die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die man nur sehr schwer aus
Bibliotheken ausleihen konnte, durchgelesen hatte, offiziell einen Antrag auf
Ausreise zu stellen. Denn in der Erklärung hieß es eindeutig im Artikel 13: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land,
einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.“
Na, dachte ich, wenn das „Honey“ unterschrieben hat, dann
musst du das doch gleich mal ausprobieren. Ich stellte einen Ausreiseantrag
nach Frankreich und wurde zum Rat des Kreises Abt. Inneres bestellt. Herr
Abteilungsleiter Hanisch, ein Offizier im besonderen Einsatz (OibE), wie ich
später erfuhr, erklärte mir, dass bei mir gar keine Voraussetzungen vorlägen.
Als ich sagte, dann nennen Sie mir diese bitte, erklärte er wütend, dass er
dazu nicht verpflichtet sei. Also schrieb ich mit einer befreundeten Familie,
der selbiges widerfuhr, eine Resolution gegen die Verweigerung der Menschenrechte
am Beispiel der Familien Hauptmann und Faust. 45 Personen wagten es sich,
diese Petition zu unterschreiben. Das war der Stasi, die dann im Namen der
unfehlbaren Partei von A bis Z alles entschied (weder Rechtsanwälte,
Staatsanwälte oder Richter hatten bei den politischen Prozessfarcen etwas Wesentliches
zu melden), viereinhalb Jahre Freiheitsentzug wert.
Und damit war ich ein Verbrecher, der nicht nur bei der
Stasi so behandelt wurde, sondern noch viel drastischer in Ihrer Cottbuser „Menschenveredlungsanstalt“ (ja, ich
weiß, das heißt angeblich „Strafvollzugseinrichtung“ aus Ihrer
rechthaberischen Perspektive), in der ich dann 16 Monate abbrummen durfte, wie
gesagt, davon 401 Tage in ihren Katakomben, bevor mich internationale
Solidarität daraus befreite. Es waren Kommunisten wie Wolf Biermann, Volker
Braun und vor allem Prof. Robert Havemann (der in der Nazizeit als
Widerständler zum Tode verurteilt worden war), aber auch Antikommunisten wie
Axel Springer, konservative Vereine wie die Gesellschaft für Menschenrechte,
der Verein des Mauermuseums am Checkpoint Charlie, aber auch der mehr links
ausgerichtete weltweit agierende Verein „amnesty international“, die sich
allesamt, aber unkoordiniert für mich erfolgreich eingesetzt hatten.
Bücher über die Haft im Nazi-Regime zu Friedenszeiten, die
ich von Kommunisten kenne (z.B. von Otto Gotsche, Karl Mundstock oder Fritz
Selbmann), haben mich, wenn ich deren Berichte mit meiner Haftsituation
verglich, vor Neid blass werden lassen. Ganz zu schweigen von Kommunisten, die
in der Weimarer Republik in Cottbus eingesperrt waren und sich dort zum
Schriftsteller entwickeln konnten wie Albert Hotopp, mit dessen Urenkel ich in
Verbindung stehe. Als KPD-Funktionär suchte Hotopp im „Vaterland der Werktätigen“ Schutz vor den Nazi-Häschern, brachte
es in Moskau sogar zum Direktor eines Fremdspracheninstituts, doch 1942 wurde
er von Stalins Henkersknechten unschuldig hingerichtet und erst vor wenigen
Jahren rehabilitiert.
Die Geschichte Ihres angeblich so humanen Sozialismus
wimmelt nur so von Grausamkeiten. Den Kern dieser Geschichte hat auch der
Ex-Kommunist Prof. Hermann Weber bloßgestellt: „Mehr als sechzig Prozent der KPD-Funktionäre, die vor dem Zugriff der
Gestapo in die Sowjetunion geflüchtet waren, sind von Stalins Schergen
ermordet worden oder im Gulag umgekommen. Von den Mitgliedern des Politbüros
der KPD hat Stalin mehr ermorden lassen als Hitler (...) Fünf Namen stehen auf
dem Blutkonto der Gestapo, sieben auf dem des Tscheka-Nachfolgers GPU. Von den
Familienangehörigen der Ermordeten sind mindestens 31 in der Sowjetunion
gewaltsam umgekommen.“
Der Blick zurück in die Geschichte offenbart auch: Dem
Ausschlüpfen der KPD aus der SPD im Jahr 1919 gehen bekanntlich zwei Jahrzehnte
politischer Auseinandersetzung voraus. Heute dürfte deutlich werden, dass es
eine Kontinuität der Beschwichtigungspolitik von Bebel bis heute gibt. Der
erste moderne Text eines Sozialdemokraten war 1899 Eduard Bernsteins Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die
Aufgaben der Sozialdemokratie“, der zum Stein des Anstoßes geworden war.
Bernstein entwarf die Grundzüge eines Reformprogramms, zu dem sich die SPD
erst nach den bitteren Lehren der beiden Weltkriege mit dem Godesberger
Programm 1959 offiziell durchringen konnte. Bernsteins Gegenspielerin war die
spätere Mitbegründerin der KPD: Rosa Luxemburg, die heute als Ikone der
Linkspartei gefeiert.
„Die kluge Jüdin“,
so der Journalist Rainer Bieling, „eine
der ersten deutschen Frauen mit Hochschulabschluss, warf dem weniger
brillanten, aber geistig beweglicheren Bernstein Verrat am Sozialismus vor und
heftete ihm das Etikett ‚Revisionist‘ an. Bei allem Respekt vor dieser
herausragenden sozialdemokratischen Intellektuellen: Mit ihrer Ausgrenzung des
Revisionismus zieht die Unterscheidung von wahrer Lehre und falschem Glauben
bereits um 1900 in den europäischen Sozialismus ein; die Weiche für die Züge in
die Lagerwelt des Archipels Gulag ist gestellt.“
Der Vergleich von Unterdrückungssystemen wie Bolschewismus
(Kommunismus, Sozialismus) und Nationalsozialismus, mit denen schon in den
sechziger Jahren die jüdische Philosophin Hannah Arendt ihre
Totalitarismus-Theorie begründete hatte, lässt sich nicht einfach
beiseiteschieben, wie Sie & Co. es gern möchten. Lange Zeit hatte auch im
Westen gegolten, dass es zwischen Nationalsozialismus und dem real
existierenden Sozialismus einen unüberbrückbaren Gegensatz gibt. Allzu viele
Idealisten und Naivlinge wollten im Ostblock noch an einen humanen Kern
glauben. Die Opfer des Regimes als Zeitzeugen waren wenig gefragt. Nach dem
Krieg war es ähnlich. Erst mit der Öffnung der Archive konnte das ganze Ausmaß
der Verbrechen der Stalin-Zeit mit seinen Millionen Toten beglaubigt werden.
In dem 1997 erschienenen „Schwarzbuch des Kommunismus“ sprachen internationale
Historiker von einem „roten Holocaust“.
Nicht wenige Leute sitzen heute wie der ehemalige Anwalt der
linksextremen und mordenden Rote-Armee-Fraktion (RAF), Horst Mahler, einst
Duz-Freund von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und Ex-Minister Otto Schily,
als 79-jähriger im Gefängnis. Er wurde, nicht weil er handgreiflich geworden
war, sondern, weil er im Kopfe rechtsextrem wurde und den Holocaust der Nazis
leugnete, sukzessive zu insgesamt 12 Jahren verurteilt, vor allem wegen
„Volksverhetzung“ (§130 StGB).
Malte Herwig blickte im ZEITmagazin 33/2011 auf Mahlers
Biografie zurück, „die mehr Schubladen
hat als ein barocker Sekretär. Er war Mitglied der FDJ, dann einer schlagenden
Studentenverbindung, dann der SPD, dann des SPD-abtrünnigen Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS), dann der RAF. Zuletzt trat er in die NPD ein
und wieder aus, forderte die Wiederherstellung des Deutschen Reiches und
leugnete den Holocaust. Über allem, versichert Mahler, schwebe Hegel, dessen
Werke er in seiner Brandenburger Zelle wieder studiert. Und nein, einen
‚Dachschaden‘ habe er nicht. Mahler klopft auf ein dickes Gerichtsgutachten,
das er eigens mitgebracht hat und das ihm ‚keine Hinweise auf eine psychiatrische
Erkrankung‘ bescheinigt.“
Über Ihnen, Herr Halke und all Ihren Genossen, die man noch
heute als Claqueure des SED-Unrechtsregimes bezeichnen kann, schwebt noch
immer Marx, den Sie jedoch viel weniger studiert haben als Mahler seinen Hegel.
Würde man Sie & Co. mit denselben Maßstäben messen, dann müssten Sie ebenfalls
alle wegen „Volksverhetzung“ im Gefängnis sitzen. Es ist unglaublich, wie Sie
uns als Ihre ehemaligen Opfer noch nachträglich verhöhnen und beleidigen.
Jegliche Aufarbeitung, alle Opferberichte ignorieren Sie und verbreiten
„historische“ Ansichten, die noch immer der Ihnen einst beigebrachten
kommunistischen, also völlig unwissenschaftlichen, weil parteiideologischen
Geschichtsinterpretation entsprechen und vor allem der Rechtfertigung Ihrer
„Unschuld“ dienen sollen.
Stellen Sie sich doch nur einmal vor, in der „DDR“ hätte es
solche Komitees, Vereine samt Zeitschriften und Verlagen gegeben (freilich
illegal, weil legal gar nicht denkbar), die so hartnäckig wie Sie & Co.
ihre so quasireligiösen wie reaktionären Weltanschauungen und hanebüchenen
Geschichtsbilder unters Volk gebracht hätten. Deren Vertreter wären wohl kaum
noch lebend aus Ihren Zuchthäusern herausgekommen. Aber Sie & Co. spielen
sich noch immer auf, als hätten Sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Unverhohlen
dürfen Sie unbestraft auf den Web-Seiten Ihrer Vereine über unsere Ausstellung
behaupten: „Geschichtliche Zusammenhänge
werden falsch oder missverständlich dargestellt, indem die Geschichte der BRD
ausgeblendet wird und die Umstände des Kalten Krieges verschwiegen werden.“
Mit diesem Blödsinn – Entschuldigung! – wollen Sie unsere
Dauerausstellung in Ihrem ehemaligen Zuchthaus kritisieren? Als ob wir mit
diesen Themen überhaupt etwas am Hut gehabt hätten. Unsere Ausstellung geht –
hauptsächlich aus der Perspektive der Opfer – sowohl auf die Verhältnisse des
Jugend- und Frauengefängnisses sowie späteren Frauenzuchthauses im NS-Regime
als auch auf die Verhältnisse in der SBZ und „DDR“ ein. Lediglich auf der Wandleiste
skizzieren wir historische Ereignisse und Fakten, damit der Besucher das von
uns Ausgestellte besser in der Zeitschiene einordnen kann. Kein ernst zu
nehmender Historiker kann diese Zeitereignisse, wie wir sie kurz dargestellt
haben, als falsch abstempeln. Freilich, erweitern und differenzieren ließe
sich auf allen Ebenen vieles. Aber unsere Ausstellung hat den Titel: „Karierte Wolken - politische Haft im
Zuchthaus Cottbus 1933 – 1989“. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Sie
und Ihre Genossen behaupten jedoch: „Mit
Falschaussagen und Unterlassungen wird den Besuchern suggeriert, dass die DDR
eine ebenso unmenschliche Diktatur war wie Nazideutschland.“
Abgesehen davon, dass nirgendwo in der Ausstellung so etwas
definitiv behauptet wird, wobei sich freilich Ähnlichkeiten förmlich
aufdrängen (daran sind wohl immer die Opfer schuld?), kann ich für mich nur
sagen, dass darüber das Urteil der Geschichte noch nicht gefällt ist. Dazu
fehlt wahrscheinlich noch eine gewisse historische Distanz, andererseits
gibt es auch unter den Opfern verschiedene Erfahrungen und demzufolge
Meinungen. Diese traurigen Kapitel deutscher Diktatur-Geschichte müssen vor
allem empirisch noch viel genauer untersucht werden.
Für mich (wenn es gestattet ist, meine Meinung dazu sagen zu
dürfen) war die rote Diktatur im Vergleich zu der kurzen Friedenszeit (!) in
der braunen Diktatur nach meinem jetzigen Erkenntnisstand von allem Anfang an
bis in die Mitte der 70er Jahre (die ich ja noch selber darin erlebte),
brutaler, verlogener und auch tödlicher, denn mir sind keine Fälle bekannt,
dass ein Zivilist, der Deutschland zwischen 1933 und 1945 verlassen wollte,
jemals an einer deutschen Reichsgrenze erschossen worden ist oder dass man
Bauern, Hotelbesitzer oder Fabrikanten usw. so brutal enteignet und kriminalisiert
hat. Aber wie gesagt, da muss einiges noch genau bewiesen und erforscht werden.
Auf alle Fälle wirft die Tatsache, dass die nach der Nazi-Katastrophe auf
deutschem Boden installierte rote Diktatur, die fast alles nachahmte, was
Tscheka, Gestapo und Blutrichter Freisler schon grausam vorexerziert hatten,
eine noch totalitärere Alltags-Diktatur hervorbrachte, die Frage auf, wieso
noch heute relativ viele ältere Menschen an ihr „ostalgisch“ hängen, die selber gar nicht besonders privilegiert
waren. Schuldgefühle? Oder zulange uniformiert gelebt, um sich eingestehen zu
können, dass es im falschen Leben kein richtiges gab? Aber darüber wird
geforscht, das muss ich mir jetzt nicht beantworten.
Selbst die Kommunistin Giselle Guillemot, die als aktives
Mitglied der französischen Resistance während des Krieges im Frauenzuchthaus
Cottbus landete, empfand die Verhältnisse hier, verglichen mit 14 weiteren
Gefängnissen und Lagern, die sie kennenlernen musste, als eine Art „Erholungsheim“.
Auch die letzte Überlebende der Weißen Rose (Hamburger Zweig), Traute Lafrenz,
hat zweimal in Briefen betont, dass Cottbus ein „ordentlich geführtes Gefängnis“ war. All das können wohl die späteren
„DDR“-Häftlinge der 80er Jahre in der Mehrzahl nicht behaupten. Freilich ist
das immer auch eine subjektive Angelegenheit, wie man etwas, was man erlebt
hat, einschätzt und bewertet. Aber da helfen Vergleiche, vor allem die mit der
Nazizeit und die mit der demokratischen Gegenwart, an die sich noch immer kaum
jemand heranwagt. Und natürlich gab es unter uns Häftlinge, vor allem Funktionshäftlinge,
die nichts Schikanöses zu berichten wissen, aber wie schon angedeutet, das ist
eine radikale Minderheit unter unseren Haftkameraden.
Ich saß, um wenigstens ein, nämlich mein Beispiel
anzuführen, wie ein gefangenes Raubtier in Ihren schmutzigen, kalten und
feuchten Kellerzellen, als die Welt 1975 in Helsinki Entspannung feierte.
Diktator Honecker saß damals friedlich neben Bundeskanzler Schmidt und gab anschließend
die schönsten Versprechen ab, was viele anschließend dazu ermunterte, die nun
endlich versprochenen Menschenrechte z. B. auf Reisefreiheit einzufordern, um
daraufhin bald in den Stasi-Gefängnissen zu landen. So auch der Riesaer Arzt
Dr. Karl-Heinz Nitschke, der im Juni 1976, also drei Jahre nach mir, eine „Petition zur vollen Erlangung der
Menschenrechte“ aufsetzte, in der er sich ebenso auf die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte und die Verfassung der „DDR“ berief, aber sich
auch auf die KSZE-Schlussakte berufen konnte, die es ja 1973, als ich unsere
„Resolution“ schrieb, noch nicht gab. Innerhalb weniger Wochen unterschrieben
79 Ausreisewillige Dr. Nitschkes „Petition“. Doch wer das Regime an seine
eigenen Versprechen und internationalen Verpflichtungen erinnern wollte, zählte
schnell zu den Staatsfeinden der ach-so-friedliebenden „DDR“-Regierung. Das
alles könnten Sie, werter Herr Halke, in meinem im MRZ ausliegenden Buch „Ich will hier raus“ nachlesen.
Nachdem Dr. Nitschke im August 1976 verhaftet worden war,
kamen die Stasi-Häscher bis hoch zum Minister und Polizistenmörder Erich Mielke
ins Rotieren, denn das hat den ersten Massenwiderstand von
Ausreiseantragstellern in Fahrt gebracht. Die Stasi-Akten belegen gut, dass dem
Fall Nitschke eine besondere propagandistische Bedeutung zukommen sollte. Das
MfS arbeitete eigens dafür einen Prozessvorschlag aus. Handlungsstränge und
dessen Finale werden so detailliert geschildert, dass das Ziel dieser
Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dresden eindeutig vorgegeben ist: Anklage
und Urteil sollen eine große abschreckende Wirkung bei allen ausreisewilligen
und systemkritischen DDR-Bürgern hervorrufen. Das Urteil steht also, wie es
üblich war, längst vor dem Gerichtstermin fest: Dr. Nitschke müsse zu acht bis
zehn Jahren Haft verurteilt werden. Selbst eine Pressemeldung, die der
Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst nach dem Prozess verbreiten sollte, wurde
von der Stasi vorgefertigt. Überschrift: „Subversives
Element verurteilt“. Tja, alles wurde bedacht, nur an den eigenen Untergang
glaubte damals noch keiner.
Um vor dem Westen den Schein zu wahren, hatte sich die „DDR“
in Helsinki verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten, nach denen sich
jeder Bürger seinen Wohnort frei aussuchen kann. Doch Honeckers Unterschrift
war keinen Pfifferling wert. Er wusste ja, dass die Schlussakte kein völkerrechtlich
verbindlicher Vertrag war. Und er traute seinem „Schild und Schwert der Partei“ zu, mit aufsässigen Bürgern
geräuschlos fertig zu werden. Doch die Lage zwischen 1974 und 1976 war brenzlig,
denn schon 404 Ärzten, Medizin-Studenten und weitere Fachkräften des
Gesundheitswesens war die Flucht in den Westen gelungen, viele Ausreise- oder
Fluchtwillige saßen in den Gefängnissen, um die 60 Ärzte damals allein in
Cottbus.
Das nur zur Erinnerung an jene Zeit, in der ich in Ihrer
edlen „Strafvollzugseinrichtung“ inhaftiert war. Ihr heutiger Parteiführer,
wenn ich das mal vermuten darf (falls Sie zu dem moderateren Flügel der
Ewiggestrigen gehören sollten), also der Herr Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, hat
ja einmal in einem Interview gesagt, die DDR gelte nicht automatisch als
Unrechtsstaat, nur weil sie kein Rechtsstaat gewesen sei. Was ist denn Ihre
Meinung dazu? Bestimmt war für Sie die „DDR“ ein Rechtsstaat. Denn das
Herumgeeiere von Herrn Dr. Gysi klingt doch ziemlich lächerlich – oder? Er
strich Honorare von Mandanten ein, denen er bei politischen Prozessen überhaupt
nicht helfen konnte, weil, wie schon angedeutet, die Urteile bereits feststanden,
wenn das MfS ihre Untersuchungen in ihren eigenen Haftanstalten abgeschlossen
hatte. Der ganze Gerichtsprozess war deshalb von vornherein eine einzige Farce.
In einem solchen „Schmierentheater“ verdienten sich Richter, Staatsanwälte und
Rechtsanwälte ihren Lebensunterhalt, und anschließend Sie.
25 Jahre sind schon vergangen, als noch Diktatoren und deren
Lakaien behaupten konnten, dass es nur eine einzige wissenschaftliche
Weltanschauung gäbe, nämlich die des Marxismus-Leninismus. Damit man nicht ins
Zweifeln kommen konnte, sperrte man das gesamte Volk hinter Mauern, Stacheldraht,
Todesautomaten und Selbstschussanlagen ein, bewacht von Grenzern, die jeden
Morgen zu Todesschützen vergattert wurden, damit sich der dumme Michel nicht
mit eigenen Augen die Welt anschauen konnte, um nicht zu einer anderen
Welt-Anschauung gelangen zu sollen. Wer es dennoch versuchte, kam zumeist im
Zuchthaus Cottbus an, die Frauen im Zuchthaus Hoheneck. Der Menschenhandel mit
dem Klassenfeind brachte der „DDR“ immerhin 3,4 Milliarden Westmark ein.
Hingerichtet ohne Gerichtsbeschluss wurde man bis zum Ende der „DDR“. Der
21-jährige Chris Gueffroywar
bekanntlich 1989 das vorletzte Todesopfer an der Berliner Mauer und das letzte
Opfer, das durch gezielten Schusswaffeneinsatz um sein junges Leben gebracht
wurde. Gueffroys Freund, Christian Gaudian, der bei diesem Fluchtversuch durch
Schüsse schwer verletzt wurde, bekam, kaum wieder auf den Beinen stehend, vom
Stadtbezirksgericht Pankow wegen „versuchten
ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ noch eine Freiheitsstrafe
von drei Jahren aufgebrummt. So viel zum Stichwort „Humanismus“ in der „DDR“.
Auch im Zuchthaus Waldheim habe ich während meiner ersten
Inhaftierung 1972 einen Häftling gesehen, der sich auf einem Brett mit vier
Rollen fortbewegte, weil ihm beim Fluchtversuch durch eine Mine beide Beine
abgefetzt worden waren. Dennoch musste er anschließend im Gefängnis weiter büßen.
Erst der „größte Feind der Menschheit“ und
schlimmste „Kriegstreiber“ Franz Josef
Strauß, der bekanntlich mit seinen zwei Milliardenkrediten die „DDR“ vor dem
finanziellen Zusammenbruch bewahrte, haben wir es zu verdanken, dass
anschließend die Todesautomaten und Minen an den Grenzen abgebaut werden
mussten. Natürlich können Sie sich, werter Herr Halke, weiterhin im Kreise
Ihrer Genossen zynisch darüber hinwegtrösten, dass man doch wusste, dass an
der Grenze geschossen wurde. Ja, damit wollen sich alle ehemals
Verantwortlichen und weiterhin Uneinsichtigen vor Einsichten schützen.
Wenn Sie wirklich unvoreingenommen um neue Erkenntnisse
bemüht wären, also auch mit uns ins Gespräch kommen möchten (was Sie aber strikt
ablehnen, wie ich weiß), dann kann ich Ihnen bestens den 700-Seiten
Dokumentarroman von Raimund August empfehlen, der soeben unter dem Titel „Auf der anderen Seite der Schwelle“ im
Engelsdorfer Verlag Leipzig erschienen ist. Hier wird das Zuchthaus Cottbus aus
der Perspektive von politischen Häftlingen der 50er Jahre detailgetreu beschrieben:
„Was sie unter den Verhältnissen dieser
Zeit, teilweise schlimmer behandelt als Tiere, zu erleben und zu erdulden
hatten, scheint in diesem Buch auf. Ebenso werden die die haarsträubenden
politischen Urteile anderer Gefangener dem Leser vor Augen geführt. Gezeigt
wird auch, wie deprivative Gefährdungen in abstrahierten Begriffen von Zeit,
Raum, Individualismus, Kollektivismus und Freiheit bekämpft werden...“
(Klapptext)
Freilich, diese 50er Jahre haben Sie noch nicht in Ihrer
Uniform zu verantworten gehabt, Sie können sich deshalb leichter einbilden,
dass es in Ihrer Zeit viel humaner zuging. Aber das täuscht, denn manches wurde
besser, anderes dafür noch schlimmer. Und so ging das bis zum Ende dieses
Staates, der schon von allem Anfang an, wie jede Diktatur, den Keim des unfruchtbaren
Fäulnistodes in sich trug. Schon der jüdische Philosoph Sir Popper erkannte: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten,
produziert stets die Hölle.“
Als man dann in der Gorbatschow-Zeit immer mehr Menschen aus
familiären Gründen in den Westen reisen ließ bzw. lassen musste, um überhaupt
noch auf Kredite aus dem Westen hoffen zu können, stiegen die Ausreiseanträge
zu einem Tsunami an und die Parteiaustritte glichen einer Massenbewegung,
die sich dann bald überall auf den Straßen manifestierte. Alles Lüge oder gar
Einbildung? Oder alles schon wieder verdrängt?
In einem Ihrer Netzwerke, das sich prahlerisch Ostdeutsches
Kuratorium von Verbänden e.V. nennt, stand am 25. Juni 2014: „Auf der Tafel ‚Kinder haften für ihre
Eltern‘ werden ‚Zwangsadoptionen‘ behauptet, die es in der DDR nie gegeben hat.
Deshalb fehlen auch in der Ausstellung dafür Belege.“
Hier haben wir den peinlichen Fall einer glatten Lüge oder
einer totalen Ignoranz. Erstens stellen wir selber den Fall Margot Rothert aus,
weil er sich im Zusammenhang mit der Inhaftierung dieser Frau innerhalb des
Zuchthausgeländes in Cottbus (in dem 1993 abgerissenen UHA-Gebäude der Kripo)
abspielte, und zweitens gibt es „DDR“-weit über 5.000 Fälle, die erst zum Teil
aufgeklärt worden sind. Jeder, der auf diesem Gebiet mitreden will, sollte
zuvor mit Katrin Behr reden, die innerhalb der Union der Opferverbände
kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) auf dem ehemaligen Gelände der
Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg eine Beratungsstelle für Betroffene von
Zwangsadoptionen unterhält. Und sie weiß selber, wovon sie spricht, weil sie
selber eine Betroffene ist (Siehe auch ihr Buch: „Entrissen – Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm“). So viel
nur zur vorgetäuschten Kenntnislosigkeit und dem nicht nachvollziehbaren
Verhalten Ihrer Genossen.
Und das Gleiche ließe sich zur „Zwangsarbeit“ anführen. Das
Thema wurde, wenn auch erst spät, mittlerweile durch mehrere wissenschaftliche
Publikationen ziemlich gut aufgearbeitet. Man muss sich nur etwas Mühe geben,
die Entwicklungen zu verfolgen, bevor man sich anmaßt, unqualifizierte
Anschuldigungen von sich zu geben.
Selbst wenn Sie, werter Herr Halke, zu den wenigen
„Erziehern“ gehört haben sollten, in dessen Uniform noch ein „Mensch“ steckte
und über den Häftlinge nur Gutes oder wenigstens nichts Schlechtes zu berichten
wissen, dann wären Sie nach dem Schriftsteller Erich Loest allein schon „durch die Wahrnehmung einer Funktion
mitschuldig geworden“. Genau nach diesem Maß urteilten zum Beispiel sogenannte
„Volksrichter“ (die zum Teil in Sechswochenlehrgängen zum „Richter“ ausgebildet
worden waren) in den berüchtigten Waldheim-Prozessen. Wahrlich kein Ruhmesblatt
Ihres Staates! Außerdem müssten wir Sie einmal mit Manfred Lehmann konfrontieren,
der sich sogar auf verschiedenen Demonstrationen in Berlin oder Potsdam als
ehemaliger Cottbus-Häftling über Ihre brutalen Erziehungsmethoden beschwerte,
indem er Sie auf einem Schild, das er öfters hochhielt, öffentlich kenntlich
machte.
Ich habe persönlich keine Rachegefühle in mir, was aber
nicht bedeutet, dass ich mich in irgendeiner Weise dem Denken und
Sprachgebrauch meiner Gegner anpassen würde, die mich einst als Feind
behandelten. Ich bin aus meiner christlichen Verantwortung heraus gern bereit,
mit jedem Gegner auf menschliche Weise - hart aber fair - zu streiten. Außerdem
kann ich jedem Menschen vergeben, der sich zu seiner Mitschuld bekennt, selbst
wenn sie wie Günter Schabowski zu den höchsten Bonzen der „DDR“ gehörten.
Ihm ging zwar einiges verloren, aber was er gewann, als der ideologische Reifen
um sein Gehirn sich lockerte und gar platzte, das war, wie er selber sagte, eine
„unvergleichbare Erlösung“. Er erlebte also eine Art Menschwerdung, die er auch
in meinem Freundeskreis ehemals inhaftierter „Staatsfeinde“ auslebte, wo er sowohl
zur Aufklärung über die SED-Diktatur beitrug als auch mit uns an einem christlichen
Abendmahl teilnahm.
Es ist nie zu spät, ein normaler Mensch zu werden, meint mit
freundlichem Gruß
Siegmar Faust
[1]
Marx, Dt. Ideologie, MEW 3, 33
[2]
Dt. Ideologie/Organisation der Arbeit
[3] Gottfried
Wilhelm Leibnitz (1646-1716) behauptete einst, in der besten aller möglichen
Welten zu leben, in der alles zum Besten verlaufen würde. Auf viel trivialere
Weise behaupteten das SED-Funktionäre ebenfalls, denn sie fühlten sich ja der
gesamten Menschheit „eine Epoche voraus“. Selbstbewusst und verlogen schrieben
sie in ihre Verfassung: „Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für
immer beseitigt. Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes Eigen. Das
sozialistische Prinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner
Leistung‘ wird verwirklicht.“
[4] Bogdan Musial: „Stalins Beutezug. Die Plünderung
Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht“, 3. Aufl. 2013
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