Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 26.03.09 |
von Angela Merkel
Sehr geehrter Herr Kardinal Sterzinsky,
sehr geehrte Vertreter der Akademie,
liebe Freunde der Akademie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Begrüßung! Meist bin ich hier, um Vorträgen zu
lauschen. Heute darf ich selbst einen halten. Ich bin heute gern wieder hierher
gekommen – Sie haben eben schon deutlich gemacht, dass es nicht das erste Mal
ist –, weil diese Katholische Akademie ein Ort des Dialogs auf der Basis
unseres christlichen Verständnisses vom Menschen ist – in Berlin, aber auch
bundesweit bekannt, ein Ort, an dem nach nachvollziehbaren Antworten auf
grundlegende Fragen unseres gemeinsamen Zusammenlebens gesucht wird.
Natürlich stellt sich auch heute die Frage, die Sie
vielleicht von mir beantwortet haben möchten: Nach welchen Kriterien mache ich
Politik? – Diese Fragen stellen sich alle, die in der Politik sind. – Was ist
uns wichtig? Welche Grundsätze, Werte und Leitbilder können mir und anderen,
die Politik machen, Halt und Orientierung geben?
Ich glaube, dieses Jahr, das Jahr 2009, ist nun wahrlich
eines, in dem es genug Anlass gibt, auch nachzudenken, zurückzublicken,
vorauszuschauen. Vor 90Jahren wurde die erste deutsche Republik
gegründet. Wir haben neulich gerade daran gedacht, dass das allgemeine und
geheime Wahlrecht noch gar nicht so alt ist; das der Frauen wurde damals auch
eingeführt.
Vor 70 Jahren – am 1. September werden wir daran denken –
begann mit dem Überfall auf unsere polnischen Nachbarn der Zweite Weltkrieg. Im
Mai feiern wir den 60. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland. Am 9. November
erinnern wir uns an den Fall der Berliner Mauer und der Grenze vor 20 Jahren.
Das ist wirklich ein Jahr deutscher Jubiläen und Gedenktage.
Dies lässt uns innehalten. Ich glaube, es sollte uns auch dazu verleiten, uns
noch einmal bewusst zu werden, wie viel Dankbarkeit wir haben sollten und welch
unermessliches und auch alles andere als selbstverständliche Geschenk es ist,
dass wir heute, und das seit Jahrzehnten, in Frieden, Freiheit und Wohlstand
leben können – einige länger, andere weniger lang.
Dennoch ist es auch in einem solchen Jahr mitunter gar nicht
so einfach, einmal innezuhalten, denn die Ereignisse überstürzen sich im
Strudel des Alltags. Unsicherheiten sind nun in ganz besonderer Weise in diesem
Jahr zu uns und zu den meisten in der Welt gekommen – Unsicherheiten, die aus
dem Versagen des internationalen Finanzsystems entstanden sind, das die Welt,
und zwar in allen Teilen, in eine internationale Wirtschaftskrise gestürzt hat,
deren Folgen sich spürbar für immer mehr Menschen auch in unserem Land immer weiter
manifestieren. Ich brauche nur die Namen Opel, Märklin, Schiesser sowie viele
kleine mittelständische Firmen zu nennen, brauche nur die Umfragen zu erwähnen,
die Auskunft darüber geben, dass viele Menschen Angst und Sorge haben, um
darauf hinzuweisen, dass es ein großes Maß an Unsicherheit in dieser Zeit gibt.
Wir erleben seit Jahren Veränderungen, die tief greifend,
die lang angelegt sind. Ich möchte drei davon nennen, als Erstes die
demographische Veränderung in unserem Land. Wir werden – das wird sich im
nächsten Jahrzehnt in ganz besonderer Weise deutlich bemerkbar machen – auf der
einen Seite immer weniger Erwerbstätige haben, weil wir immer weniger Kinder
haben. Wir werden auf der anderen Seite die sehr erfreuliche Tatsache haben,
dass die Menschen durch die Möglichkeiten der Medizin, durch gesündere
Lebensweisen älter werden. Das heißt, die Alterspyramide unserer Bevölkerung
wird sich massiv verändern. Wir werden damit sicherlich ein Land in Europa
sein, das mit anderen europäischen Ländern vergleichbar ist. Weltweit spielt
sich aber auf vielen Kontinenten etwas anderes ab, nämlich dass die Zahl der
jungen Menschen – mit all ihren Hoffnungen und Erwartungen – sehr viel größer
wird.
Ein Zweites kann man nennen: Das ist, dass Deutschland in seinem
Bevölkerungsaufbau auch vielfältiger, kulturell vielfältiger geworden ist. Fast
ein Fünftel der Einwohner unseres Landes ist nicht in Deutschland geboren
worden oder hat Vorfahren, die nicht in Deutschland geboren worden sind. Wenn
man sich in den Ballungsgebieten der Bundesrepublik Deutschland, die die
industrielle Struktur unseres Landes tragen, umschaut, stellt man fest, dass
bei den unter 25-Jährigen dieser Prozentsatz heute schon bei 40 bis 50 Prozent
liegt. Das bringt mit sich, dass wir außer dem Christentum, außer dem Judentum
auch andere Religionen haben. So sind zum Beispiel die Muslime die zweitgrößte
Religionsgemeinschaft in Deutschland.
Wir haben drittens eine rasante Globalisierung, die ihren Ausdruck jetzt auch
in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise findet. Durch die
Globalisierung hat sich natürlich vieles mit Blick auf das, was Deutschland,
was die alte Bundesrepublik stark gemacht hat, nämlich die Soziale
Marktwirtschaft, verändert. Wenn es vor Jahrzehnten ein Gefühl der Sicherheit
gab, wenn man in einem Betrieb arbeitete, dem es gut ging, weil man wusste,
dass dann der Arbeitsplatz auch sicher ist, so ist das heute in Zeiten der
Globalisierung überhaupt nicht mehr gegeben. Es kann sein, dass es einem
Betrieb insgesamt wunderbar geht, aber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
in Deutschland beschäftigt sind, trotzdem von Entlassung bedroht sind. Das
heißt, auch hier sind alte Sicherheiten durch den äußeren Druck eines stärkeren
Wettbewerbs verloren gegangen; im Grunde genommen durch den Anspruch anderer,
auch erfolgreich zu leben. Dadurch hat sich die Welt verändert.
Das wirft natürlich eine Vielzahl von Fragen auf: Wie können wir unsere
sozialen Sicherungssysteme weiter zukunftsfest machen? Wie schaffen wir neue
Formen der Beschäftigung? Welche Formen der Beschäftigung haben eine Chance,
gemessen am Wettbewerb mit anderen Teilen der Welt? Wie helfen wir jungen
Eltern und Familien, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren? Wie kommen
wir weiter, dass wir wirklich eine Bildungsrepublik werden, dass wir dem
Anspruch, den wir haben, neue Dinge, kreative Dinge, innovative Dinge
herzustellen, auch wirklich gerecht werden? Wie können wir angesichts einer
rapide wachsenden Weltbevölkerung mit unseren Ressourcen so umgehen, dass nicht
nur wir unser Leben gut gestalten können, sondern dies auch für zukünftige
Generationen gilt?
So unterschiedlich die Herausforderungen und so verschieden auch die
Herangehensweisen sind – es ist klar, dass in jedem Fall eine Voraussetzung
gefunden werden muss. Sie lautet: Wer politisch handeln will, braucht
angesichts der Vielzahl der Fragen, die sich jeden Tag stellen, grundlegende
Überzeugungen und Leitlinien für das eigene Handeln.
Ich glaube, dass für jede Form dieser Überzeugungen, zu welchen auch immer man
kommt, die Frage sehr entscheidend ist: Welches Verständnis habe ich vom
Menschen? Ist es ein Verständnis, das Vertrauen ausstrahlt? Ist es ein
Verständnis, das durch Misstrauen geprägt ist? Ist es ein Verständnis, das den
Einzelnen im Blick hat? Ist es ein Verständnis, das den Einzelnen für nicht so
wichtig erachtet?
Ich will hier klar und deutlich sagen: Mein Verständnis, aus dem heraus ich
Politik mache, ist das Verständnis vom christlichen Bild des Menschen. Nun
stellt sich natürlich die Frage: Was heißt das? Ich möchte das aus meiner Sicht
so ausdrücken: Der Mensch ist von Gott geschaffen als sein Ebenbild. Jeder
Mensch ist damit ein einzigartiges Geschöpf, ein einzigartiges Geschöpf Gottes.
Seine Würde – das folgt unmittelbar daraus – ist unantastbar und sie ist auch
unteilbar.
Der Mensch als Geschöpf Gottes ist nach meiner festen Auffassung zur Freiheit
berufen, und zwar zu einer Freiheit, die ihm die Möglichkeit zu etwas gibt,
einer zu anderen Menschen gewandten Freiheit, und nicht zu einem
Freiheitsverständnis, das wir heute zunehmend antreffen, nämlich eine Freiheit
von etwas, von Bindung, von Pflichten, von dem Zugewandtsein zu anderen
Menschen. Aus diesem Geborensein zur Freiheit, zur Freiheit in Verantwortung,
resultiert natürlich auch der Wunsch, der sinnvolle Wunsch, dass Menschen ihre
Fähigkeiten und Fertigkeiten entfalten. Das ist ein in jedem Menschen auch
sichtbarer Wunsch.
Sie konnten in der früheren DDR gut beobachten, wie, wenn die freiheitlichen
Bedingungen nicht ausreichend gegeben waren, Menschen dann doch im Kleinen
immer wieder versucht haben, an ihre Grenzen zu gehen, um sich zu verwirklichen
– und sei es im Kleingarten beim Um-die-Wette-Züchten von Radieschen. Es ist
der natürliche Drang im Menschen, sich zu beweisen und sich auch zu
verwirklichen.
Der Auftrag Gottes an uns lautet ja: "Macht euch die Erde untertan!"
Bei diesem Ansatz, den die Menschen auch aufgenommen haben, wird doch immer
wieder schnell klar, dass wir in dem, was wir wollen, viele Fähigkeiten, viele
Fertigkeiten haben, aber auch ein Stück weit unvollkommen sind, dass wir, um es
in der biblischen Sprache zu sagen, Sünder sind. Wir begehen Sünden, wobei das
Gute am Christentum ist, dass es etwas wie Vergebung gibt. Es gibt Vergebung,
weil jeder Mensch von Gott angenommen ist. Deshalb ergibt sich für mich daraus
das Politikverständnis, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jeder Mensch
hat, endlich sind und dass wir umfangen sind von der Liebe Gottes; aber eben
umfangen und selbst, bei allen Fertigkeiten, nicht vollkommen.
Ich glaube, daraus resultieren zwei Dinge. Das eine ist, dass wir Ehrfurcht vor
Gott haben, und das andere, dass wir Gottvertrauen haben dürfen.
Ich habe einmal in einer Diskussion mit der Bischöfin Käßmann in Hannover eine
Frage-und-Antwort-Runde zu bewältigen gehabt, wie ich sie heute noch vor mir
habe. Ich bin damals immer mehr in die Bredouille gekommen bei der Frage: Woher
wissen Sie denn, dass es gut ausgeht und dass es richtig wird und dass das, was
Sie machen, auch wirklich so wird usw.? – Ich habe mich in der Beweisführung,
dass schon alles ein gutes Ende nehmen werde, immer weiter verstrickt. Und dann
sagte die Bischöfin: Manchmal ist es auch so, dass man ein Stück Gottvertrauen
braucht.– Da war ich erlöst. Und es war für mich völlig klar, wo die Ebene des
Politischen und Vorhersagbaren und des menschlichen Gestaltens endet und wo ein
Stück Glaube sein kann, was auch wie eine Erlösung sein kann; das ist etwas
sehr Zuversichtliches. Ich glaube, Christen können sehr zuversichtlich, sehr
optimistisch, sehr fröhlich auch ganz schwierige Dinge angehen, weil sie
glauben können.
Nun ist es ja so, dass in den vergangenen Jahrhunderten – auch stark bedingt
durch unsere politischen und staatlichen Ordnungen der Trennung von Kirche und
Staat – das permanente Vorhandensein des Glaubens zurückgegangen ist. Die
Rituale sind sozusagen stiller geworden, weshalb vielleicht auch die
öffentliche Wahrnehmung – was leitet uns eigentlich, was sind unsere Werte,
woraus nehmen wir unsere Kraft? – nicht mehr so gegeben ist, wie es früher war.
Aber daraus folgt auch, dass Glaube mehr ist als Wissensvermittlung. Glaube ist
immer etwas, was natürlich auch mit Wissen zusammenhängt. Wenn ich nie die
Bibel gelesen habe, wenn ich die biblischen Geschichten nicht kenne, kein
einziges christliches Lied kenne, dann ist es schwierig, sich unter Christen
auszutauschen. Aber das allein reicht natürlich nicht, sondern es muss ein
inneres Bekenntnis hinzukommen. Das ist im Übrigen ja auch die tiefere Ursache dafür,
warum in Berlin Unterschriften für eine bestimmte Art von Unterricht gesammelt
wurden. Das war weniger dem Aspekt der einfachen Faktenvermittlung geschuldet,
sondern kam aus der Überzeugung heraus, dass es eines Bekenntnisses bedarf.
Weil unsere Welt vielfältiger geworden ist, ist es so wichtig, dass wir aus uns
heraus etwas haben, was wir selbst bekennen, um überhaupt in Toleranz mit
anderen über ihr Bekenntnis sprechen zu können. Dabei ist Toleranz nicht
fälschlicherweise als Beliebigkeit zu verstehen, sondern als innere Anerkennung
eines anderen, die immer auch das Bekenntnis der eigenen Überzeugung mit
beinhaltet.
Ich habe es angesprochen: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland heißt ja nichts anderes
als 60 Jahre Grundgesetz – ein Grundgesetz, das mit den Worten beginnt:
"Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…"
Glücklicherweise ist das Grundgesetz schon lange geschrieben. Ich hoffe, wir
würden es heute auch so schreiben. Auf jeden Fall haben die Väter und Mütter
des Grundgesetzes diesen Teil der Präambel für richtig und wichtig und als
konstitutiv für unser Land erachtet. Das ist ein Bekenntnis dazu, dass Politik
nicht allmächtig, sondern ein Versuch ist – Anstrengung, Engagement und
Leidenschaft für die Menschen, aber immer in Verantwortung vor Gott.
Deshalb ist es richtig und wichtig und für mich als Vorsitzende der Christlich
Demokratischen Union eben auch konstitutiv, dass wir in unserem Programm sagen:
Unser Verständnis in der Christlich Demokratischen Union vom Menschen wird
durch das "C" zum Ausdruck gebracht und beruft sich, wie es im
Programm heißt, auf das christliche Menschenbild in dem Sinne, wie ich es eben
in meiner Ausführung und Deutung darzustellen versucht habe.
Nun ist es so: Die Welt wäre einfach, wenn aus diesem christlichen Bild des
Menschen automatisch und ganz ohne jede Diskussion für alle, die sich dem
verpflichtet fühlen, die gleichen Handlungsanweisungen erwachsen würden. Nun
ist es aber auch so, dass Gott uns unterschiedlich geschaffen hat. Selten
kommen zwei oder drei in allen Lebensfragen zu genau dem gleichen Ergebnis,
obwohl sie den gleichen Punkt des Bekenntnisses haben. Das macht die Vielfalt
natürlich auch der irdischen Angelegenheiten, wenn ich das so sagen darf, und
der Überzeugungen und Meinungen aus. Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer
wieder auch über den Grundsatz, über den Ausgangspunkt unserer Orientierung
sprechen und uns einig sind, dass das christliche Menschenbild Raum zur
Gestaltung und Verwirklichung bewahrt und es vor Beliebigkeit genauso wie vor
menschenfeindlicher Ideologie schützt. Das möchte ich an einigen Beispielen
erläutern.
Das erste Beispiel ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Zeiten der
Globalisierung. Ich habe darüber gesprochen, was im Augenblick auf der Welt im
Gange ist: Exzesse auf Märkten haben Marktkräfte außer Kraft gesetzt, wie wir
sie aus der Sozialen Marktwirtschaft in geordneter Form kennen. Wir können das
Ganze nur wieder ins Lot bringen, indem wir nicht nur die Interessen Einzelner
betrachten, sondern zugleich lernen, im Interesse des Ganzen zu denken und zu
handeln. Genau das ist aber verletzt worden. Es sind individuelle Interessen
für absolut gesetzt worden, ohne, was unser freiheitliches Verständnis sein
sollte, in Bezug auf andere Menschen Freiheit zu etwas zu verwirklichen. Das
heißt, das Gemeinwohl ist partiell auf der Strecke geblieben.
Der Bundespräsident hat das heute in einer beeindruckenden Rede noch einmal
beschrieben und auch deutlich gemacht, dass unsere Gesellschaft nur eine
menschliche Gesellschaft sein kann, wenn das Gemeinwohl und der Zusammenhalt
der Gesellschaft einen festen Platz haben. Jeder Mensch ist einzigartig, aber
entfalten kann er sich nur in der Gemeinschaft. Jeder Mensch, der allein und
singulär glaubt, sein Heil darin zu suchen, sich selbst zu verwirklichen, wird
im Sinne des christlichen Menschenbildes jedenfalls jämmerlich scheitern.
Das hat ja auch Eingang in unser Grundgesetz gefunden, nämlich in Art. 14, in
dem ganz klar gesagt wird: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll
zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." – Auch wieder ein Artikel,
dem vielfältigste politische Diskussionen darüber folgen, was das denn nun im
Konkreten bedeutet. Aber dass es extreme Eigenverwirklichung bedeutet, dass es
jeden Blick in die Vergangenheit und Zukunft ausschließt und nur im Jetzt und
Heute maximale Gewinnoptimierung bedeutet, darf man ausschließen. Deshalb ist
Art. 14 ein wichtiger Artikel in unserem Grundgesetz.
Dieser Gedanke entstammt der katholischen Soziallehre und der evangelischen
Sozialethik. Dieser Gedanke ist hervorgebracht aus einem christlichen
Verständnis vom Menschen in einer Zeit, im 19. Jahrhundert, als die
Industrialisierung massive Ungerechtigkeiten zu Tage gefördert hat. Wir alle
haben dabei sicherlich auch den Aufstand der schlesischen Weber vor Augen.
Damals wurden die Erfindungen der Dampfmaschine und der Webstühle sozusagen
exzessiv genutzt, was letztlich die Menschen so verzweifeln ließ, dass sie sich
gegen diese unmenschliche Form des Verdrängungswettbewerbs erhoben. Daraus sind
auf einem langen Weg des Lernens und des Widersprücheüberwindens die
Sozialsysteme entstanden. Es hat dann im 20. Jahrhundert die schwere
Weltwirtschaftskrise gegeben. Wichtige Gedanken, die dann von Ludwig Erhard und
Konrad Adenauer umgesetzt wurden und der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde
liegen, entstammen genau den Lehren dieser 20er und 30er Jahre, die zum
Beispiel auch besagen, dass Selbstheilungskräfte der Märkte manchmal nicht
funktionieren und dann der Staat die Aufgabe hat, einzugreifen.
Es ist übrigens sehr interessant – ich bin ja bekannterweise eher Physikerin
als Ökonomin –, dass die geistige Auseinandersetzung mit den Wirkungen der
damaligen Weltwirtschaftskrise im Grunde zwei Pfade genommen hat: Den Pfad, der
zum heutigen Modell der Sozialen Marktwirtschaft geführt hat, auf dem sehr klar
gesagt wurde, dass es darauf ankommt, den Staat zum Hüter der Ordnung zu
machen, und den Pfad, der damals eher im amerikanischen Raum – siehe Keynes –
sehr stark auf ein Gegensteuern gegen die Krise mit Einsatz von Geld und
Maßnahmen ausgerichtet war. Ich glaube, in unserer heutigen Krisenbewältigung
merken wir, dass wir genau eine Mischung aus diesen beiden Dingen tun.
Gerade wir in Deutschland mit unserer Sozialen Marktwirtschaft als
Erfahrungsgut aus katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik sind,
was die Ordnungskräfte des Staates anbelangt, sehr stark geprägt. Ich glaube,
das hat auch über viele Jahre den Erfolg möglich gemacht. So ist die Soziale
Marktwirtschaft im Grunde ein gutes Werk der Ökumene.
Ich habe mich viele Jahre lang, als ich sozusagen aktive Bundesbürgerin wurde,
immer wieder ein wenig gegrämt, dass heute in den Kirchen – sowohl in der
katholischen Kirche als auch in der evangelischen Kirche – zwar viel über die
Soziale Marktwirtschaft außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas und über
Fragen der Gerechtigkeit in Entwicklungsländern nachgedacht wird, aber nach
meiner Auffassung zu wenig darüber, wie denn der technologische Wandel und die
Globalisierung auch für uns heute Werte lebbar machen. Es sind jetzt erste
Ansätze dazu mit schlagkräftigen Titeln sichtbar. Ich brauche das hier nicht zu
wiederholen; ich mache ja keine Werbung, außer für Eigenes. Aber: Wir brauchen
hier eine breite Diskussion; ich meine das ganz ehrlich. Die Soziale
Marktwirtschaft ist nicht einfach irgendeine ökonomische Ordnung, sondern eine
gesellschaftliche Art, zu leben. Deshalb kann es auch die Politik und schon gar
nicht die Wirtschaft allein schaffen, diese Ordnung zu einer in der
Gesellschaft akzeptierten Ordnung zu machen. Deshalb habe ich den Wunsch, dass
sich die Kirchen an dieser Stelle so, wie sie es in den vergangenen Jahren
zunehmend gemacht haben, auch weiter– und angesichts der Krise manchmal
vielleicht noch lauter – einmischen.
Wir können sagen, dass aus der Perspektive des christlichen Verständnisses vom
Menschen jedes Gesellschaftsmodell abgelehnt werden muss, das Freiheit als
Bindungslosigkeit und als grenzenlos beschreibt. Das heißt, dass wir immer
wieder Verantwortung leben müssen. Daraus resultiert zum Beispiel etwas, was in
der praktischen Politik dann auch Ausdruck findet, was wir auch in dieser
Legislaturperiode wieder unterstützt haben, nämlich, dass das christliche
Menschenbild zur Quelle freiwilligen Engagements wird. Der Staat ist zwar Hüter
der Ordnung, aber wenn nur diese vom Staat verordnete Ordnung unser
menschliches Zusammenleben definieren würde, dann wäre es eine schreckliche
Gesellschaft. Das heißt also, die Quelle freiwilligen Engagements muss von
denen, die sich als Hüter der Ordnung verstehen, gestärkt und nicht geschwächt
werden.
Deshalb ist es eben so wichtig, dass das Ehrenamt einen Platz hat und gefördert
wird, weil es ein Land lebendig macht, menschlich macht – sei es in kulturellen
Vereinigungen, im Sport, in der Jugendarbeit, in der karitativen Arbeit oder in
vielen anderen Formen des Füreinanders von Menschen. Das Ehrenamt ist eine
Quelle dafür, dass wir keine kalte und bürokratische Gesellschaft sind, sondern
eine Gesellschaft, die ein menschliches Gesicht hat.
Das Wichtige ist, dass wir dafür Freiraum geben, dass wir es nicht
vorschreiben, dass wir nicht von irgendeiner imaginären Quelle aus sagen: So
und so möchten wir es gern haben. Ich habe in der früheren DDR erlebt, wie das
ist. Sport durfte man nur machen, wenn man gut und auf dem Weg zum
Olympiasieger war. Sonst waren die Geräte und Möglichkeiten schnell vergeben
und erschöpft. Man hatte sich so und so zu verhalten und wer nicht ins Schema
passte, wurde ausgegrenzt und irgendwie beiseite geschoben. Das darf nie
passieren.
Deshalb vertreten wir einen Gesellschaftsaufbau, demnach das, was vor Ort und
nahe am Menschen geregelt werden kann, dort geregelt werden soll und nicht auf
eine zentrale Ebene geschoben werden muss.
Das hat dazu geführt, dass wir zum Beispiel die Ordnung der Mitbestimmung
haben, dass Tarifparteien eine große Möglichkeit der Gestaltung haben. Das
führte zum politischen Streit: Was soll denn im Betrieb extra vereinbart werden
können oder muss alles zentral zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern
ausgehandelt werden?
Das bedeutet, dass wir die kommunale Verantwortung hoch schätzen– immer
aus dem Verständnis heraus: Je näher am Menschen, desto mehr Möglichkeit der
Gestaltung des Einzelnen, desto mehr Überschaubarkeit. Und nur, wenn es
notwendig ist, wird nach Berlin oder Brüssel delegiert. Ich glaube, wir sind
damit in Deutschland und auch in weiten Teilen Europas gut gefahren.
Das heißt auch: Wenn der Einzelne für sich sein Leben gestalten kann, dann
sollen ihm dafür die Möglichkeiten eröffnet werden. Nur dann, wenn er es nicht
kann oder in Not ist, greifen die Solidarität und die Hilfe der Gemeinschaft.
Aber wenn wir einmal so weit sind, dass wir Diskussionen führen, ob es sich
denn angesichts von Hartz-IV-Leistungen zum Beispiel noch lohnt, arbeiten zu
gehen, und ob man mit ein bisschen Schwarzarbeit dazu nicht vielleicht genauso
glücklich sein könnte, dann haben wir genau diesen Grundgedanken der Entfaltung
und des Wunsches jedes Menschen nach eigener Entfaltung vergessen.
Das ist eine Diskussion, die ich auch in meinen jüngeren Jahren, damals in der
DDR, oft geführt habe, weil wir ja wussten, dass der Staat an sich ein Staat
ist, in dem das Recht keinen richtigen Platz hatte. Deshalb wollte man ja
eigentlich nicht arbeiten, um die Existenz dieses Staates nicht immer weiter zu
perpetuieren. Auf der anderen Seite hatte man nur ein einziges Leben. Ich war
Physikerin, meine Nachbarn waren Ärzte. Für die Ärzte war klar, dass sie gut
arbeiten mussten, weil es ja um mein und anderer Leute Leben ging. Die Frage,
ob der Physiker so gut arbeiten sollte, wie er konnte, schien schon etwas
komplizierter zu sein. Ich habe mich dann mit dem EKG herausgeredet und mit
irgendeiner anderen Apparatur und habe gesagt: Ich muss auch ordentlich
arbeiten. Aber es war nicht ganz so offensichtlich zu rechtfertigen.
Nach vielem Nachdenken bin ich dazu gekommen – auch angesichts der vielen
Menschen, die über die Zeit hinweg Mut und Kraft verloren hatten –, dass ich im
Wesentlichen für mich gut arbeite, um weiter lebendig, aktiv und kreativ zu
sein. Aber das war eine sehr persönliche Entscheidung. Deshalb würde ich mich
niemals, wenn ich die Wahl hätte, das gleiche Einkommen mit Arbeit oder ohne
Arbeit zu bekommen, dafür entscheiden, es mir vom Staat zu nehmen. Aber wir
müssen dafür eintreten und den Menschen Lust und Freude daran vermitteln, dass
Leistung etwas ist, was dem Menschen immanent ist und was ihn auch zu Neuem und
Höherem anspornt und was ihn vor allen Dingen immer wieder an die eigenen
Grenzen bringt.
In der DDR konnte man es sich einfach machen, indem man gesagt hat: Weil der
Staat so ist, können wir auch keine guten Leistungen vollbringen. Das stimmte
zum Teil. Die Computer waren miserabel. Aber man wird natürlich auch luschig,
wenn man einen Staat hat, mit dem man sich entschuldigen kann.
Mit der Deutschen Einheit und der Freiheit fiel die Entschuldigung weg.
Plötzlich musste man sehen, dass nicht jeder, auch wenn man in der DDR Physiker
war, plötzlich den Nobelpreis bekommen hat, obwohl wir alle besser waren, als
wir sein konnten. Dieses An-die-Grenzen-Gehen ist für mich eines der
wunderschönsten Dinge, die auch für mich aus dem christlichen Bild vom Menschen
kommen – sich bewähren, sich einbringen, sich anstrengen, sich mühen für etwas,
was mich auch an meine Grenzen bringt.
Wir müssen natürlich – das ist meine feste Überzeugung – diese Prinzipien nicht
nur aus individueller Überzeugung vertreten. Denn es sind Grundprinzipien eines
dauerhaften Zusammenhalts einer Gesellschaft in Freiheit, Gerechtigkeit und
Solidarität. Wenn diese Grundprinzipien aufgegeben werden, dann wird der
Zusammenhalt der Gesellschaft infrage gestellt. Deshalb geht es da nicht um
irgendetwas, sondern es geht um die Gesellschaft als Ganzes.
Wo lernen wir Solidarität? Wo erleben wir Zuneigung? Natürlich in der Familie.
Deshalb heißt es nicht von ungefähr: Die Familie ist die Keimzelle der
Gesellschaft.
Damit bin ich bei meinem zweiten Feld, das mit der Aktualität des christlichen
Menschenbildes zusammenhängt, nämlich der Familienpolitik. Sie war und ist
Punkt vieler Auseinandersetzungen, Debatten und manchmal, wie ich finde, auch
ein bisschen von Verdächtigungen in unserer Gesellschaft.
Die Zahl der Eheschließungen geht zurück. Die Zahl der Alleinerziehenden
steigt. Die Geburtenrate in Deutschland gehört, obwohl wir einige
Hoffnungsschimmer haben, zu den niedrigsten Europas. Das ist der Befund über
unsere Gesellschaft.
Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie soll man denn aus dem christlichen
Menschenbild heraus auf diese Situation reagieren? Ich sage dazu aus voller
Überzeugung: Ehe und Familie kommt ein besonderer Stellenwert zu, und zwar
genau der, der im Grundgesetz verankert ist. Ich werde mich, solange ich politisch
tätig bin, mit aller Kraft dagegen wehren, dass genau an dieser Stelle
angesetzt und das zur Disposition gestellt wird.
Die CDU hat es in ihrem Grundsatzprogramm so festgelegt: "Familie ist
überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft
Verantwortung tragen." – Das ist ein sehr anderer Satz als der Satz: "Familie
ist, wo Kinder sind."
Dauerhaft Verantwortung übernehmen– das resultiert aus Bindungen, die
nicht zur Disposition stehen. Meine Eltern bleiben immer meine Eltern, meine Kinder
bleiben immer meine Kinder. Das wiederum– diese Bindung, die einfach
vorhanden ist– führt natürlich auch dazu, dass Werte in Familien gelebt
werden können, vermittelt werden können, weitergegeben werden können, die kein
Staat und keine Gesellschaft so gut weitergeben kann.
Trotz dieses Leitbildes haben wir natürlich die sehr schwierige Frage
miteinander zu diskutieren: Wie stehen wir zu gelebten Gemeinschaften, die
nicht dem Prinzip der Ehe und daraus resultierenden Familien entsprechen? Da
würde ich von Respekt sprechen. So machen wir es auch in unserem
Grundsatzprogramm. Respekt ist nicht Gleichstellung; auch das muss man sagen.
Hier gibt es manchmal schwierige Diskussionen. Von Respekt spreche ich aber
auch, weil ich davon ausgehe – das ist wieder meine Überzeugung aus dem christlichen
Menschenbild heraus –, dass Menschen eingegangene dauerhafte Beziehungen ja
nicht mutwillig zerstören, sondern dass hinter Beziehungen oder Situationen zum
Beispiel von Alleinerziehenden auch vieles steckt, was mit Unglück, mit
Unzufriedenheit, mit Unvollkommenheit erlebt wird. Ich finde es manchmal sehr
hart, wie dann geurteilt wird, weil, wie ich am Anfang schon gesagt habe, Teil
des Lebens auch Misslingen dessen sein kann, was ich mir als Traum, als Ideal
vorgestellt habe. Ich finde es aber wichtig, dass wir trotz dieser Situation,
trotz der vielen, die vielleicht das, was sie sich erträumt und gewünscht
haben, nicht geschafft haben, an unserem Leitbild von Ehe und Familie
festhalten, weil sonst, wenn dieses Leitbild nicht mehr existiert, auch der
Anspruch nicht mehr besteht und die entsprechenden Anstrengungen gar nicht mehr
unternommen werden.
Wir haben uns gefragt: Was heißt denn nun freiheitliche Entfaltung der eigenen
Persönlichkeit, inklusive der Kinder, in der Familie? Dazu hat die CDU im
Übrigen seit Mitte der achtziger Jahre gesagt: Wir trauen den Menschen zu, dass
sie entscheiden können, wie sie als Familie leben wollen. Und deshalb haben wir
die Wahlfreiheit als einen Begriff eingeführt. Jeder Mensch soll wählen können,
wie er sein Leben gestaltet. Das ist ein hehrer Anspruch. Ich glaube, wir sind
uns einig, dass Wahlfreiheit auch Wahlmöglichkeit voraussetzt. Genau darum ist
es in dieser Legislaturperiode sehr stark gegangen: Haben wir eigentlich hinreichende
Wahlmöglichkeiten? Ich sage: Nein. Wollen wir eigentlich die Wahlfreiheit?
Stand hinter dem Wort der Wahlfreiheit immer die wirkliche Wahlfreiheit oder
doch die Hoffnung einer bestimmten Entscheidung, dass man sich so und so
entscheidet? Wer darf denn sagen, was richtig und was nicht richtig ist?
Ich war zu Beginn meiner politischen Laufbahn von 1991 bis 1994
Frauenministerin. Ich habe nie wie damals so erbitterte Diskussionen zwischen
Frauen mit unterschiedlichsten Lebensmodellen darüber gehört, wer die bessere
Mutter oder wer die schlechtere Mutter sei, wer sich nicht kümmere, wer es sich
leisten könne, zu Hause zu bleiben und wer es sich nicht leisten könne. Ich bin
zum Schluss zu der Überzeugung gekommen: Hauptsache, die Kinder haben glückliche
Eltern.
Da ich den Menschen zutraue, dass sie das irgendwie hinkriegen, sich so zu
entscheiden, dass sie glücklich sind, haben wir uns jetzt entschieden, dass wir
mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren brauchen, weil keine
hinreichenden Wahlmöglichkeiten bestehen. Wir haben aber gleichzeitig gesagt,
weil wir ja die Wahlfreiheit wollen: Wenn wir das geschafft haben, soll es auch
ein Betreuungsgeld für die Eltern geben, die sich dafür entscheiden, dass ein
Elternteil einige Jahre zu Hause bleibt.
Meine herzliche Bitte an diesem Punkt ist nur, dass wir uns das Leben nicht
schwerer machen, als es ist, sondern auch in unserem Vertrauen in die
Entscheidungsfähigkeit von Eltern sagen: Sie werden versuchen, das Richtige für
sich herauszufinden.
Nun weiß ich nicht, wie ich in diesem Kreise hier damit ankomme, wenn ich sage,
dass die Väter ein bisschen mehr Anreiz dafür bekommen, sich auch um ihre
Kinderchen zu kümmern, was, wie ich finde, auch eine schöne Erfahrung ist.
Vergangene Generationen haben im Wesentlichen erst im Großvaterdasein erlebt,
wie viel Spaß es mit den Babys macht. Heutige Generationen erleben das bereits
im Vatersein. Ich glaube, es hat unserer Gesellschaft nicht geschadet, zumal
die männlichen Bezugspersonen sowieso im frühkindlichen Alter relativ rar sind.
Manch einer lernt ja erst auf dem Gymnasium im Physikunterricht den ersten
Lehrer kennen und ist bis dahin sozusagen im Wesentlichen mit Frauen
aufgewachsen.
Eine der schwierigsten politischen Diskussionen wird über die materielle
Anerkennung der Familien geführt. Ich bin auch dafür, dass man den Familien
materielle Anerkennung direkt zukommen lässt. Und ich glaube, dass wir das
durch Sachleistungen besser verwalten könnten. Aber wir dürfen niemals der
Gefahr erliegen, zu meinen, dass Familienpolitik mit materiellen Leistungen
ausgeschöpft werden könnte.
Wir könnten einen Mindestlohn einführen und sagen: Elternsein ist 24 Stunden
mal den Mindestlohn wert; und das muss jetzt irgendwie an Familien gezahlt
werden. – Es wird nicht das ergeben, was wir von Eltern an Liebe, Zuneigung und
Bindungskraft erwarten. Deshalb sehe ich solche Versuche, das Elterndasein
sozusagen mit Geld aufzurechnen, mit äußerster Skepsis. Ich glaube nicht, dass
daraus die Entscheidung für Kinder erwächst. Die Entscheidung für Kinder
erwächst aus einem positiven, optimistischen Blick in die Zukunft und aus einer
Gesellschaft, die Kinder als etwas Liebenswertes, als etwas
Selbstverständliches begreift und nicht als etwas, was man möglichst an den
Rand drängen muss.
Deshalb ist Familienpolitik viel mehr als nur Politik zur Gestaltung
materieller Bedingungen für Familien, auch wenn sie natürlich auch vorhanden
sein müssen. Familienpolitik ist auch permanente Arbeit mit allen Gruppen in
dieser Gesellschaft – auch dahingehend, dass man ein schlechtes Gewissen haben
muss, wenn Kinder in keiner guten Lebenssituation sind. Der überhandnehmenden
Perversion von Klagen gegen Kinderspielplätze und Ähnlichem, die mit
Lärmemissionsquellen wie Baustellen verglichen werden, muss in unserer
Gesellschaft ein Ende bereitet werden. Da ich auch Bundesumweltministerin war
und die Lärmschutzverordnung deshalb sehr gut kenne, sage ich: Kinderlärm und
Lärmschutzverordnung haben nichts miteinander zu tun, meine Damen und Herren.
Wir müssen auch sagen, dass viel Trauriges mit Kindern passiert. Wir beraten
morgen im Kabinett darüber, wie man Internetseiten mit Kinderpornografie
sperren kann. Dazu wird die Bundesfamilienministerin vortragen; sie hat uns
auch heute davon berichtet. Was da in unserer Gesellschaft, teilweise im
Verborgenen und schwer entdeckbar, geschieht, kann uns alle nur umtreiben. Wir
müssen versuchen, dagegen anzugehen. Dennoch: Prävention ist immer der beste
Ratgeber. Denn vieles werden wir mit Gesetzen allein nicht schaffen.
Wir müssen uns deshalb als Verantwortungsgemeinschaft begreifen. Der
Zusammenhalt unserer Gesellschaft und ein gesellschaftsfreundliches Klima sind
wichtig für das Gemeinwohl. Deshalb auch einige Worte zur Integrationspolitik.
Wir haben diese Politik aus unterschiedlichen Gründen bei uns lange Zeit
vernachlässigt.
Wenn wir einmal an die Zuwanderung in das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert denken,
wenn wir daran denken, was uns mit denen gelungen ist, die als Deutsche, aber
als Heimatvertriebene und Flüchtlinge zu uns kamen, dann stellen wir fest, dass
wir riesige Integrationsleistungen vollbracht haben. Wenn man sich das vor
Augen führt – über 15 Millionen Menschen in einem zerstörten
Nachkriegsdeutschland mit Zuweisungen für zu enge Wohnungen, in denen schon
Familien lebten; Zusammenleben über Jahre; Ressentiments und deshalb keine
Eheschließung zwischen Alteingesessenen und Vertriebenen –, dann kann man sich
das heute gar nicht mehr vorstellen. Das alles haben wir aber geschafft; das
war eine riesige Integrationsleistung.
Die Aufgabe lautet nun: Integration der vielen Aussiedler und Spätaussiedler
und derjenigen, die über viele Jahre als Asylbewerber oder als Gastarbeiter der
ersten Stunde und als ihre Folgegenerationen zu uns gekommen sind. Einige haben
gesagt: Kulturelle Vielfalt ist doch toll; hier die einen, dort die anderen,
das ist eigentlich chic. Die CDU hat gesagt: Gastarbeiter? – Wie das Wort
"Gast" schon besagt: Eigentlich komisch, dass sie immer noch da sind.
– So haben wir uns auf gut Deutsch gesagt jahre- und jahrzehntelang in die
Tasche gelogen.
Integration setzt die Bereitschaft derer voraus, die hier dauerhaft leben
wollen. Das haben wir immer ganz schnell ausgesprochen. Ich sage aus meinem
christlichen Menschenbild heraus: Integration erfordert auch die Offenheit derer,
die hier schon lange leben. – Wenn man selbst einmal in der Fremde war, dann
weiß man, dass das nicht immer einfach ist. – Auf diesem Weg sind wir in dieser
Legislaturperiode vorangegangen.
Es ist noch einfach, zu verstehen, dass man Sprachkenntnisse braucht, um seinen
Lehrer besser zu verstehen, um in der Schule lernen zu können. Das haben
inzwischen alle erkannt. Daran arbeiten wir auch. Wenn man allerdings
betrachtet, wie groß die Unterschiede schon im dritten Lebensjahr sind, dann
stellt sich die Frage der frühkindlichen Betreuung an manchen Stellen ganz
anders und ganz neu.
Auf meiner Bildungsreise haben mir Kindergärtnerinnen gesagt: Tja, wenn ein
Kind im dritten Lebensjahr aus einer türkischstämmigen Familie, in der die
Eltern nicht mehr so gut Türkisch und auch nicht gut Deutsch sprechen, in die
Kindertagesstätte kommt, dann wendet sich jedes deutsche Kind, das die ersten
drei Lebensjahre verzweifelt damit verbracht hat, ordentlich die deutsche
Sprache zu lernen, ziemlich selbstbewusst ab und sagt: Von dir – also dem Kind
mit Migrationshintergrund – lerne ich nichts. – Das heißt, schon bei Kindern im
dritten Lebensjahr haben wir bei der Integration erhebliche Schwierigkeiten.
Und wenn Integration erst in der Schule beginnt, ist vieles noch viel, viel
schwieriger.
Wir bieten Sprachkurse für Eltern an, werben dafür und sind sehr froh, dass
gerade Frauen und Mütter diese Sprachkurse nutzen – ich habe mir so etwas
selbst angeschaut –, damit sie in die Öffentlichkeit, in die Gesellschaft
gehen, ihre Kinder begleiten und damit auch in unsere Gesellschaft
hineinwachsen können. Wir wissen, dass Integration für Mädchen und junge Frauen
eine zentrale Rolle spielt, um auch an allen Angeboten unseres Bildungssystems teilhaben
zu können. Insofern ist das Integrationsthema ein wesentliches.
Wir führen einen gesellschaftlichen Dialog mit zugewanderten Muslimen. – Ich
habe gesagt, dass sie die zweitstärkste Religionsgemeinschaft neben den
Christen sind, wobei ich voraussetze, dass evangelische und katholische
Christen zusammengezählt werden; ich weiß nicht, ob ich das darf. – Hier haben
wir einen gesellschaftlichen Dialog zu führen, dem wir uns noch nicht in
ausreichendem Maße gestellt haben. Wir wissen von Kirchen, die in diesen Dialog
eingetreten sind. Das ist nicht einfach. Da kann man mit großem Respekt und in
großer Toleranz miteinander sprechen, gelangt aber immer wieder an Punkte, die
man nicht wegwischen darf.
Deshalb hat sich Wolfgang Schäuble als Innenminister diesen Dialog mit dem
Islam zur Aufgabe gemacht und eine deutsche Islamkonferenz ins Leben gerufen,
die viele Handlungsempfehlungen erarbeitet hat. Ich habe durch Beobachtung und
zum Teil auch durch Teilnahme an diesem Prozess gesehen, dass dort schnell viele
Emotionen hochkommen, schnell ein Tisch auch wieder halb leer ist, weil mancher
Teilnehmer mehr Emotionen aufzubieten als Lust zu diskutieren hat.
Ich sage aber, dass es als Integrationsvoraussetzung unabdingbar ist, es in
unserem Land wenigstens ernsthaft miteinander zu versuchen, wenn wir das
Zusammenleben der Religionen gestalten und große Vorträge darüber halten
wollen, wie das auf der Welt funktionieren soll.
Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir das können, kommen sofort unsere
Schwächen zum Vorschein. Ich habe gesagt: Christliches Menschenbild ist mehr
als nur rationales Wissen. Es ist inneres Bekenntnis. Einer unserer Nachteile
in vielen Diskussionen ist, dass wir für unsere Überzeugung oft weit weniger
leidenschaftlich eintreten.
Das kann man dadurch kaschieren, dass man sagt: Kompromisse findet man sowieso
nur, wenn wir alle schön rational miteinander umgehen, weshalb klar ist, dass
wir uns nicht alttestamentarisch verhalten und auch die andere Wange hinhalten,
um uns noch einmal darauf schlagen zu lassen. Ohne innere Überzeugung ist das
nicht einfach. Zwar melden wir uns mit den Menschenrechten, der Unteilbarkeit
und der Unantastbarkeit der Würde schnell zu Wort, aber wenn es konkret wird,
geht die gesellschaftliche Diskussion sofort wieder los, zum Beispiel: Soll man
nun den Dalai Lama im Bundeskanzleramt empfangen oder nicht? Auf diese Frage
gab es unterschiedliche Antworten. Über das Ja aus diesem Saal freue ich mich.
Wie steht es mit dem Verhältnis von wirtschaftlichem Erfolg zu wirtschaftlicher
Zusammenarbeit, von der Rettung von Arbeitsplätzen bei uns und zum Bekenntnis
zu Menschenrechten? Wie ist das, wenn wir Erdöl und Erdgas brauchen? Schauen
wir dann in Sachen Menschenrechten ein bisschen weg oder nicht? Wie verhält es
sich mit den Handelspartnern? Ich sage: Gerade jetzt, in der Krise und in den
nächsten Jahren, werden wir sehr hart auf die Probe gestellt, wenn es darum
geht, ob wir die Menschenrechte wahren, damit es uns allen gut geht und wir uns
um alle gleichermaßen kümmern.
Im Übrigen ist das christliche Menschenbild nicht für die Grenzen Deutschlands
oder der Europäischen Union geschaffen, sondern es gilt für jeden Menschen auf
der Welt. Ich denke, dass wir schon ein wenig irritiert sein werden, wenn die
Chinesen und Inder sich ebenfalls prächtig entwickeln, plötzlich Kupfer und
Erdöl kaufen, durch die höhere Nachfrage die Preise steigen und wir davon
betroffen werden. Die Wahrung der Menschenrechte ist unser Wunsch, unsere
Pflicht und unsere Überzeugung. Dafür müssen wir eintreten. Deshalb müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass es, wenn andere geschickter, intelligenter und
fleißiger sind, dann auch sein kann, dass sie ein bisschen besser leben. Wenn
sie fröhlicher sind, kommen sie vielleicht noch besser über die Runden. Wenn
sie sich weniger streiten, vergeuden sie auch weniger Zeit.
Das alles wird uns in der Globalisierung begegnen. Das ist auch in der Krise
wichtig. Gemeinsam haben wir in der Koalition entschieden, 50 Milliarden Euro
für unsere Konjunktur und 100 Millionen Euro für die Weltbank auszuschütten.
Die Frage ist diskutiert worden, ob man der Weltbank in einer solchen Situation
auch noch Geld geben muss, wenn wir doch schon so hohe Schulden haben, was
schwierig und schlimm ist, weil es auch nicht dem Gebot der Nachhaltigkeit
entspricht. Ich glaube, dass wir in diesen Zeiten Zeichen setzen müssen, dass
uns nicht nur das eigene Hemd wichtig ist, sondern auch andere Menschen auf
dieser Welt, die es mindestens genauso schwer haben.
Zum Respekt der eigenen Werte, die in das individuelle Leben eingreifen –
vielleicht kommen wir in der Diskussion noch dazu –, zum Anfang des Lebens:
Meine Fraktion kämpft in dieser Legislaturperiode seit vielen Monaten dafür,
dass noch etwas zum Thema Spätabtreibungen entschieden wird, nämlich die
Einführung einer Pflicht zur Beratung, damit hier diese unhaltbaren Zustände
beseitigt werden können. Es ist schwer; wir sind noch nicht erfolgreich
gewesen.
Was bedeutet "Sterben in Würde"? Diese Frage wird angesichts der
medizinischen Möglichkeiten immer stärker im Mittelpunkt stehen. Wir sind gegen
aktive Sterbehilfe. Aber es gibt auch Fragen wie: Wie sieht eine
Patientenverfügung aus, was kann man damit machen, wie viel kann man festlegen,
wie gerichtsfest muss das sein? Hier können die Antworten sehr unterschiedlich
ausfallen.
Wir haben es uns mit dem Thema embryonale Stammzellenforschung nicht leicht
gemacht. Das ist auch ein Thema, das mit den Kirchen sehr kontrovers diskutiert
wurde. Es ist immer von dem Willen geprägt – jedenfalls in der Christlich
Demokratischen Union –, aus dem christlichen Menschenbild heraus eine
verantwortbare Antwort zu finden. Ich sehe einige skeptische Blicke, aber nicht
vom Kardinal.
Wir beachten in Deutschland die Trennung von Kirche und Staat. Trotzdem haben wir
– das finde ich sehr, sehr gut – eine sehr rege Diskussion – ich will nicht
sagen: Einmischung, aber eine Meinungsbildung auch immer in Bezug auf die
Kirchen – über alle wesentlichen ethischen Fragen. Das ist nicht in jedem Land
so. Es gibt als sehr katholisch bzw. sehr christlich geltende Länder, in denen
solche Diskussionen völlig getrennt verlaufen. Hier ein Gesetz und dort die
Aussagen im kirchlichen Raum. Ich finde es gut, dass wir es uns – angefangen
bei der Frage von Krieg und Frieden bis hin zu den Asylbewerbern und den Umgang
mit ihnen – nie so leicht gemacht haben, dass wir nicht miteinander
diskutieren, sondern sehen, dass es unser Leben manchmal auch ein bisschen
spannender gemacht hat.
An diesen drei Bereichen – Wirtschafts- und Sozialpolitik,
Verantwortungsgemeinschaft Familie und Zusammenarbeit in unserer
Gesellschaft– sehen wir die Größe der Aufgabe. Ich habe den gesamten
globalen Bereich und die Nachhaltigkeit, die Ressourcenknappheit angesprochen.
Ich habe darüber gesprochen, dass der Auftrag "Macht euch die Erde
untertan" mit Sicherheit nicht darauf gemünzt sein kann, nur für eine
Generation, sondern auch für viele nach uns zu gelten.
Wir sehen die Größe der Aufgabe. Und die Aufgabe wird wahrlich nicht kleiner,
wenn man versucht, die Antworten auf der Grundlage des christlichen
Menschenbildes oder Verständnisses vom Menschen zu bewältigen. Aus meiner Sicht
wird es aber lohnender. Was kann es denn Lohnenderes geben, als sich für jeden
einzelnen Menschen einzusetzen, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu achten
und genau darin ihre einzigartige Würde zu erkennen? Was kann es Lohnenderes
geben, als immer wieder darum zu ringen, jedem Menschen seine Chancen auf
Entfaltung zu geben? Was kann es Lohnenderes geben – oftmals sicher nicht ganz
vollkommen –, sich für die Würde des ungeborenen Lebens wie des geborenen
Lebens, für einen Anfang und ein Ende des Lebens in Würde einzusetzen?
Deshalb sage ich: Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen ist etwas,
was sehr lohnenswert ist, sich dafür einzusetzen, was ich auch als das
Außergewöhnliche meiner Arbeit verstehe. Die Tatsache, die ich am Anfang
erwähnt habe, dass ich ein Stück Ehrfurcht vor Gott und auch Gottvertrauen
habe, macht die Sache für mich leichter. Das heißt aber nicht, dass man sich
nicht jeden Tag mühen und anstrengen muss. Ich hoffe, das ist nicht nur
protestantisch.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
©-Vermerk: REGIERUNGonline (www.bundesregierung.de)
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