Erschienen in Ausgabe: No 117 (11/2015) | Letzte Änderung: 14.11.15 |
von Stefan Groß
Zuerst war es nur eine jener langweiligen Pressekonferenzen, wie sie aus dem DDR-Fernsehen bekannt war. Im Osten nicht Neues. Die meisten Journalisten hatten am frühen Abend des 9. November 1989 daher ihre
Kameras schon verpackt, die Pressekonferenz, über die das DDR-Fernsehen live berichtete, war beendet. Doch nach der Pressekonferenz ist vor der Pressekonferenz, dies konnte man an diesem Abend mit historischer Dimension lernen.(1)
Während Angela Merkel
in der Sauna war, fiel dann der Satz, der Geschichte schrieb. Der Akteur:
Günter Schabowski, der mit einem Fehler den Fall der Mauer beschleunigt. „Das
tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Und: „Die ständige
Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise
zu Berlin-West erfolgen,“ so stammelte der damals völlig verunsicherte
Politfunktionär auf Anfrage eines Journalisten. Nach dem Willen der SED sollte
aber die zwar vorgesehene Reiseregelung eben nicht „sofort und unverzüglich“ in
Kraft treten, sondern erst am 10. November und dann auch nach einem geregelten
Verfahren. Doch dank Schabowski, bewußt oder unbewußt – darüber gibt es auch
nach 25 Jahren Spekulationen, war Deutschland aus Versehen wiedervereinigt! Der
Rest ist Geschichte: Zehntausende Ost-Berliner und viele DDR-Bürger in der Nähe
der innerdeutschen Grenze verlangten, am gleichen Abend ohne Pass und Visum in
die Bundesrepublik gelassen zu werden. Das Ende der DDR war damit faktisch
gekommen, und damit viel schneller, als es im Politbüro geplant war.
Wem die Stunde schlägt – Nach der Wende war er ein Auslaufmodell
Wenn man glaubt, die Geschichte vergißt nichts, dann hat sie wohl Schabowski
vergessen, wenngleich – medial gesehen – seine Worte vom 9. November zu den
meist Ausgestrahltesten gezählt werden dürften, sie haben Fernsehgeschichte
geschrieben.
Doch nach seiner großen Stunde am 9. November fiel Schabowski als Mensch weitgehend aus
dem kollektiven Gedächtnis. Die neuen Protagonisten der Wiedervereinigung haben
ihn die letzten 25 Jahre einfach ignoriert. Für den langjährigen Chefredakteur
des „Neuen Deutschlands“ und den damaligen Berliner SED-Chef bedeutete das Ende
der DDR nicht nur das Ende seiner Karriere, sondern war der Beginn einer neuen
Zeitreise jenseits des Establishments. Während der andere große Initiator der
Deutschen Einheit, Michael Gorbatschow, mit seiner Politik von Glasnost und
Perestroika scheiterte und 1990 gepuscht wurde, aber immer noch im erlauchten
Kreis der Weltpolitiker (Kohl und Busch) aufgenommen und geradezu und zu Recht hofiert wurde, ist es um Schabowski immer einsamer
geworden. Auch für die damaligen Avantgardisten vom „Neuen Forum“ war er eine
persona non grata, für die ehemaligen Funktionäre der SED gar ein Verräter, der,
wie ich aus mehreren Gesprächen mit ihm erfuhr, um sein Leben fürchten musste.
Von Egon Krenz oder Hans Modrow wurde er geschmäht, und am 21. Januar 1990
verstieß ihn die sich inzwischen von der SED zur PDS umbenannte Staatspartei.
Modrow und Gysi wollten soviel von der DDR retten, wie zu diesem Zeitpunkt noch
zu retten war – mit Schabowski jedoch war das nicht mehr zu machen. Aber auch
auf der bundesdeutschen Seite war die Charmeoffensive gegenüber dem
„Grenzöffner“ bescheiden: Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher blieben
ihm gegenüber reserviert.
Schabowskis späte Einsicht
Doch der ehemals kalte Krieger hatte seine Lektionen gelernt. Er war der
einzige ehemalige SED-Funktionär, der sich offen gegen das DDR-Unrecht, das
Stasi-Regime und die Mauertoten bekannte. Zu spät sicherlich. Aber für
Schabowski begann nun jenseits von Kadavergehorsam und Parteidisziplin ein
neuer Lebensabschnitt. Ohne Unterstützer und ohne Privilegien begab er sich auf
Lesereisen – oft gemeinsam mit Dissidenten des DDR-Regimes, die für ihre
Meinungsäußerungen von der Stasi verhaftet wurden. Diese Lesereisen von Täter
und Opfer zeigten auf eindrucksvolle Weise, dass sich der ehemalige Hardliner
seiner Vergangenheit stellte.
Für die Morde an der Berliner Mauer musste er
sich 1995 verantworten. Aber im Gegensatz zu den Mitangeklagten räumte er seine
Mitverantwortung ein. „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser
Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der
Mauer Getöteten. Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“ Von drei
Jahren Haft wegen Totschlags hatte Schabowski nur ein Jahr seiner Strafe im
offenen Vollzug abzusitzen. Wie sehr er sich politischgewandelt hatte, zeigt
sein späteres Engagement für die CDU, die Akzeptanz des christlichen Glaubens,
dem er zuvor kritisch gegenüberstand, und 2001 die Warnung an den damals Regierenden
Bürgermeister Klaus Wowereit vor einer Koalition mit der PDS.
Schabowski stammte aus einfachen Verhältnissen. Geboren
1929 in Pommern qualifizierte er sich im sächsischen Leipzig und auf der
Parteihochschule der KPdSU in Moskau, gehörte zum engsten Zirkel um den
damaligen Parteichef Erich Honecker und wurde 1984 Vollmitglied des
SED-Politbüros. Als Ziehsohn Honeckers vertrat er aber nicht immer und
unbedingt dessen strikten Parteistalinismus und die DDR-Planwirtschaft.
Schabowski galt intern als Kritiker, eher der leisen Art, bemühte sich aber,
wirtschaftliche Reformen anzustoßen, um die von ihm deutlich erkannte
wirtschaftliche Schwäche der DDR, die Misere des Systems, auszubügeln. Gegen
Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke warb Schabowski daher um den jüngeren
SED-Kronprinz Egon Krenz, mit dem Ziel, Honecker abzulösen.
Die letzten Lebensjahre hatte er bescheiden in einer Plattenbauwohnung in der
Wilhelmstraße in Berlin gelebt. Nach mehreren Herzinfarkten und Schlaganfällen
ist er im Alter von 86 Jahren am 1. November 2015 in einem Pflegheim
verstorben. Mit seiner DDR-Vergangenheit hatte er immer wieder gehadert und
sich dazu in einem Interviewband 2009 geäußert. „Wir haben fast alles falsch
gemacht – Die letzten Tage der DDR. Günter Schabowski im Gespräch mit Frank
Sieren“. Ich selbst habe ihn als einen Menschen in Erinnerung, der offen
für Diskussionen, der keineswegs ein Betonkopf war, sondern eher sensibel,
ausgeglichen und den besseren Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Er war ein
DDR-Intellektueller, der leider die längste Zeit seines Lebens auf der falschen
Seite stand.
Dass Schabowski kein politischer Ignorant war, belegt zuletzt
seine Leidenschaft für den bekanntesten Roman von Arthur Koestler: „Sonnenfinsternis“.
Das Buch, das in der Zeit der Stalinschen Säuberungen in den 1930er Jahren
spielt und die Unterwerfung und Selbstverleugnung alter Revolutionäre zum Thema
hat, die „Verbrechen“ gestanden, die sie gar nicht begangen hatten, hatte
Schabowski schon früh beeindruckt. Vielleicht hat er in den letzten Jahren der
DDR nicht nur nicht mehr an den Sieg von Kommunismus und Planwirtschaft geglaubt,
sondern sich von einem Regime verabschiedet, das menschenunwürdig agiert. Mit Schabowski ist nun auch ein Stück innerdeutsche Geschichte
mit gestorben und hat einen ihrer Protagonisten verloren.
(1) Die DDR-Nachrichtenagentur ADN hatte Schabowskis Text schon 19.04 Uhr verbreitet. 19.30 kam er dann in der Ost-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" im DDR-Fernsehen. Um 20.00 Uhr wurde er in der "Tagesschau" mit der Meldung "DDR
öffnet Grenze" gesendet.
Bundesarchiv, Bild 183-1989-1109-030 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0
Pressekonferenz mit Günter Schabowski am 9.November 1989
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