Erschienen in Ausgabe: No 118 (12/2015) | Letzte Änderung: 01.12.15 |
von Karim Akerma
Mit dem Untertitel seines Buches „Das Ende der Megamaschine“
signalisiert Scheidler, was er vorgelegt hat: die „Geschichte einer
scheiternden Zivilisation“. In einer großartigen Synthese macht der Autor
plausibel, dass es – um das Scheitern abzuwenden – nicht etwa genügen würde,
den Neoliberalismus als eine Entgleisung des Kapitalismus in die Schranken zu
weisen. Scheidlers wohldokumentierte Analyse setzt tiefer an. Sie will zeigen,
dass wir das moderne kapitalistische Weltsystem als eine zukunftslose Gestalt
der Zivilisation begreifen müssen. Und das ist nicht alles. Mit seinem Buch
argumentiert Scheidler dafür, dass das, was wir Zivilisation nennen, bereits
eine entgleiste Form menschlichen Zusammenlebens ist. Scheidlers generelle
Zivilisationskritik – der erste Teil seines Buches –weist circa 5000 Jahre in die Vergangenheit;
seine im zweiten Teil entfaltete Kapitalismuskritik behandelt etwa die letzten
500 Jahre.
Die Grundlagen dessen, was wir Zivilisation nennen, wurden
Scheidler zufolge etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung im Übergang zur
Bronzezeit geschaffen, als frühe Staatswesen erstmals in der
Menschheitsgeschichte fähig gewesen seien, Zwangsgewalt über ihre Bewohner
auszuüben. Der Beginn der Bronzezeit wird zur Zäsur, weil die begehrte Bronze,
ungleich härter als Kupfer, nach außen „eine Epoche zunehmender physischer
Gewalt einläutete.“ So mussten die Mesopotamier Kupfer und Zinn zur Herstellung
von Bronze von weither importieren. Im Zuge dessen inaugurierten sie ein System
ungleicher Handelsbeziehungen zwischen sich selbst als Zentrum und einer
Peripherie. „Im Kleinen wurde hier bereits ein System erprobt, das heute auf
globaler Ebene operiert und auf einem Machtgefälle zwischen ‚hoch entwickelten‘
Zentren und ‚unterentwickelten‘ Peripherien beruht. Die Handelsrouten wiederum
erfordern militärischen Schutz – ein selbstverstärkender Prozess, bei dem die
Beschaffung von Rohstoffen immer mehr Waffen benötigt.“ Was wir gegenwärtig
miterleben ist nach Scheidler das Scheitern unserer bereits in der Bronzezeit
vorstrukturierten Zivilisation in ihrer aktuellen Gestalt des modernen
Weltsystems. Wer dem Autor an dieser Stelle zivilisatorische „Nestbeschmutzung“
vorwerfen möchte, muss sein Buch studiert haben und danach plausibel darlegen
können, dass die dem modernen Weltsystem inhärente Weise des Umgangs mit Mensch
und Natur eine Zukunft hat.
Für unser modernes Weltsystem gebraucht Scheidler im Titel
Lewis Mumfords Begriff „Megamaschine“, weil es sich um eine scheinbar wie eine
Maschine funktionierende gesellschaftliche Organisationsform handelt. Das
Wörtchen „scheinbar“ ist Scheidler wichtig: „Denn bei allen systemischen
Zwängen besteht die Maschinerie letztlich aus Menschen, die sie täglich neu
erschaffen“ und somit unter bestimmten Bedingungen zugunsten einer selbst
organisierten Demokratie auch beenden könnten. Weil das moderne Weltsystem
Raubbau an den Ressourcen betreibt, ohne die es nicht fortexistieren kann,
gehört Scheidler zu den Autoren, die diesem System nur mehr eine begrenzte
Zukunft bescheiden. Ähnlich wie etwa Immanuel Wallerstein, stellt sich für
Scheidler nur noch die Frage, wie dieses System enden wird und was nach ihm
kommt. Was ansteht, ist ihm zufolge „eine Transformation, die bis in die
Fundamente unserer Zivilisation reicht.“
In der Darstellung Scheidlers bedeutete der Eintritt in die
Zivilisation gerade nicht den Austritt aus der Barbarei, sondern ihren Beginn
im Vergleich zu den davorliegenden Jahrzehntausenden vergleichsweise egalitärer
Menschheitsgeschichte. So bestehe eines der „schmutzigsten Geheimnisse“ der
Zivilisation darin, dass sie auf der systematischen Einführung der Sklaverei
beruht. Und die primäre Funktion der in den Anfängen der Zivilisation
erfundenen Schrift habe darin bestanden, die Versklavung von Menschen zu
erleichtern.
Um seinen Lesern den aktiven Abschied vom Bisherigen zu
erleichtern – denn wem schwindelt nicht beim Gedanken an eine erforderliche
Abschiednahme von den Grundlagen der Zivilisation!? –, übt Scheidler mit ihnen
einen besonderen Blick auf die zurückliegenden 500 bis 5000 Jahre ein, den wir
hier den „Blick für negativ kommunizierende Röhren“ nennen und an einigen
Beispielen demonstrieren wollen. Das Prinzip negativ kommunizierender Röhren
kann als Analogon zu einem biophysikalischen Phänomen illustriert werden:
Höchstorganisierte Systeme – Organismen – verbreiten zur Aufrechterhaltung
ihrer systemeigenen Ordnung in ihrer Umwelt stoffwechselnd Unordnung. Sie
existieren gleichsam auf Kosten ihrer Umwelt. Scheidler dokumentiert, inwiefern
es sich mit Weltsystemen analog verhält:
Antike
Bewundern wir das Verwaltungswesen, das Schulsystem, den
Marmor oder die Architektur des hochorganisierten hellenistisch-römischen
Weltsystems, so dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass der gepriesenen
Organisation und Kultur ein hohes Maß an Destruktivität und Unmenschlichkeit
nicht nur in den römischen Kolonien korrespondiert, sondern auch im Zentrum des
römischen Imperiums. Das römische Weltreich wurde zum Imperium, weil es das
griechische System aus Münzprägung/Geldwirtschaft, Sklaverei und
Kriegswirtschaft/Militarismus perfektionierte. Wie Scheidler geltend macht, gab
es Zeiten, in denen drei Viertel des römischen Staatshaushalts für
Militärausgaben aufgewendet wurden.
Luzide römische Antike versus dunkles christliches
Mittelalter
Häufig wird vorschnell die lichte und heidnische römische
Antike einem christlich strukturierten dunklen Mittelalter gegenübergestellt.
Scheidler korrigiert diese Sichtweise unter Verweis darauf, dass das römische
Imperium eine riesige Militärmaschine war, die etwa Jerusalem derart nachhaltig
zerstörte, dass man sich die Niederschrift der Johannes-Apokalypse als Reaktion
darauf vorstellen kann. Die „kulturelle Blüte“ Roms kommuniziert über
unsichtbare marktlogische Röhren negativ mit der ungeordneten Peripherie und
den Vasallenstaaten. Im Zentrum des römischen Reiches feierte man die Pax
Augusta, während die römischen Truppen in der Peripherie des Reiches für ihre
destruktive Praxis der verbrannten Erde bekannt waren. Wer römische Theater
oder Schulen als zivilisatorische Errungenschaften preist, dürfe nicht darüber
schweigen, dass Rom seit dem späten 2. vorchristlichen Jahrhundert im
Mittelmeerraum fast ununterbrochen Krieg führte und Hunderttausende Soldaten
unter Sold hatte.
Münzgeld
Das Fehlen oder der Niedergang von Münzgeldwirtschaft wird
in herkömmlicher Geschichtsschreibung gern als zivilisatorische Inferiorität
verbucht. Scheidlers Darstellung legt ein erweitertes Verständnis nahe:
Münzgeld wurde zumeist deshalb eingeführt, um Söldner – die ersten Lohnarbeiter
der Geschichte – bezahlen zu können. Die – erzwungenen – Umstellungen antiker
und frühneuzeitlicher Steuersysteme von Naturalien auf Münzen kam die
betroffenen Bevölkerungen im mehrfachen Wortsinne jedes Mal teuer zu stehen.
Vor diesem Horizont wird etwa der Rückgang der Geldwirtschaft im frühen
Mittelalter nicht einfach nur als zivilisatorischer Rückschritt lesbar, sondern
er könnte zugleich – im Sinne des Theorems negativ kommunizierender Röhren –
ein Indikator für einen Rückgang struktureller Gewalt
sein, die, wie Scheidler belegt, stets mit der Einführung von Münzgeld
einhergeht, das sich zu keiner Zeit und an keinem Ort naturwüchsig aus einer
harmlosen Tauschlogik entwickelt habe, sondern jedes Mal von einer als Feind
wahrgenommenen Staatlichkeit der Bevölkerung oktroyiert wurde. Wird das
Darniederliegen der Münzwirtschaft nach dem Ende des römischen Imperiums häufig
als zivilisatorischer Rückschritt bedauert, so präsentiert Scheidler eine
alternative Sichtweise: Der Mangel an Edelmetallen im Mittelalter bedeutete,
dass man nicht mehr genügend Münzen prägen konnte, mit denen man stehende Heere
hätte bezahlen und Kriege führen können. Während gemeinhin im Übergang zum
Mittelalter ein zivilisatorischer Rückschritt gesehen wird, beleuchtet
Scheidler, dass die Verfügungsgewalt über Land und Menschen abnahm.
Neuzeit
Das Anheben der Neuzeit führte die Menschen laut Scheidler
nicht etwa aus einem dunklen Mittelalter ans Licht. Gipfelnd im millionenfachen
Mord an den Einwohnern Amerikas und den im 30-jährigen Krieg Hingemordeten war
der „Übergang zur Neuzeit… weit mehr als das Mittelalter von Monstrositäten
geprägt.“ Selbst die Hexenprozesse seien weniger ein Kapitel des Mittelalters,
sondern vielmehr der Neuzeit. Als Beispiel für die negativ kommunizierenden
Röhren der Marktlogik des modernen Weltsystems führen wir aus Scheidlers
Zivilisationskritik seinen Blick auf Amsterdam als das blühende Zentrum des
modernen Weltsystems zu Zeiten niederländischer Hegemonie an: Während
Feingeister unter den Aktionären der Niederländischen Ostindien-Kompanie die
Vorzüge dieses oder jenes Malers erörterten, korrespondierte dem „Goldenen
Zeitalter“ der Niederlande eine von der Kompanie inaugurierte Periode der
Finsternis mit Massakern in Indonesien. Allgemein gilt: „Der Aufstieg der
europäischen Zivilisation war gekoppelt an die Barbarei auf der anderen Seite
des Globus.“
Als den gemeinsamen Nenner aller bisherigen Weltsysteme legt
Scheidler ein unheilvolles Konglomerat aus Metallurgie,
Münzprägung/Geldwirtschaft und Kriegswirtschaft bloß. Wobei der metallurgische
Komplex jedes Mal als die Bedingung der Möglichkeit von Rüstungsindustrie und
Geldwirtschaft fungiere. Vor diesem Hintergrund stünde zu erwarten, dass aus
der im aktuellen Weltsystem unter US-Hegemonie endgültig scheiternden
Zivilisation nur dann ein zukunftsträchtiges Miteinander hervorgehen kann, wenn
es nicht nur Alternativen zur aktuellen Energieproduktion, Landwirtschaft und
Ernährung gibt, sondern auch zum Geld. Autoren, die auf der Suche nach einer
alternativen Gesellschaft gedanklich Hand ans Geld legen, sind rar. Zumindest
andeutungsweise lässt jedoch auch Scheidler erkennen, dass die herrschende
Marktlogik mit ihren externalisierten horrenden Unkosten nur beendet werden
kann, wenn es künftig geldlos zugeht. In diesem und anderen Punkten
kommuniziert Scheidlers „Ende der Megamaschine“ unterschwellig positiv mit dem
Kapitalismuskritiker Robert Kurz.
Scheidlers Verdienst besteht zum einen darin, weniger
bekannte Einsichten von Denkern wie Immanuel Wallerstein und zahlreichen
anderen in einer meisterhaften Synthese zu einem Handbuch der Zivilisations-
und Kapitalismuskritik zusammengeführt zu haben. Zweitens dokumentiert
Scheidler, wie die jedesmalige Achse bisheriger Imperien – der metallurgische
Komplex – im heutigen Weltsystem in Gestalt von Bergbau, Kohle-, Öl- und
Gasförderung als destruktivster und weltbeherrschender Wirtschaftssektor
fungiert und sich ganze Staaten gefügig macht. Dem setzt Scheidler die Idee
eines „Ausstiegs von unten“ entgegen: Neue Wege der Selbstorganisation könnten
letztlich zu einer gemäß solidarischen-ökologischen Prinzipien strukturierten
„Ökonomie der Befreiung“ zusammenfinden; mit dem Traum, „dass solche Strukturen
eines Tages das gesamte Wirtschaftssystem transformieren können.“
Fabian Scheidler
Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden
Zivilisation
Promedia Verlag 2015
271 S.
ISBN 978-3-85371-384-6
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