Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 27.03.09 |
von Peter Scholl-Latour
Schlimmer konnte es nicht kommen. Die weltweite Bankenkrise
wurde vor allein durch unsinnige Immobilienspekulationen in den USA ausgelöst,
aber allzu viele europäische Geldinstitute hatten sich daran beteiligt. Die
deutsche Finanzwelt zumal hatte mit unerschütterlichem Glauben auf die
amerikanischen Auswüchse des Turbo-Kapitalismus geblickt, der sich kaum noch
auf eigene Industrieproduktion, sondern auf das Erzielen von Rekordrenditen um
jeden Preis konzentrierte. »Der Markt regelt alles«, hieß es noch unlängst bei
jenen Börsen-Gurus, Analysten und Pseudo-Experten, die sich in den seriösesten
Gazetten als Künder unfehlbarer Urteile präsentierten. Es ist bezeichnend, dass
auch jene liberalen Politiker, die den Staat aus der Wirtschaft verdrängen und
ihm jede Regulierungsautorität absprechen wollten, heute nach riesigen
Milliardenzuschüssen rufen, die nur der Staat erbringen kann und die aus den
Steuergeldern des Durchschnittsbürgers stammen.
Die Ernüchterung ist grausam. Höchst konservative deutsche Blätter warten mit
überraschenden Titeln auf: »Wall Street in Trümmern« oder »Sterben an der Wall
Street«. Amerikanische Kommentatoren gehen weiter. Über den Zusammenbruch der
beiden Immobilien-Giganten Fannie Mae und Freddie Mac, bei denen der
öffentliche Haushalt mit enormen Summen einspringen muss, schreibt der
Präsident einer angesehenen Money-Management-Firma: »Der Mythos des freien
Marktes endete mit der staatlichen Übernahme von Fannie Mae und Freddie Mac.«
Zwangsläufig wendet sich Amerika einer Art »New Deal« zu, wie Franklin D.
Roosevelt ihn nach dem Crash von 1929 einleitete. Die Finanzthesen des
belächelten Predigers einer interventionistischen Politik sowie des »deficit
spending«, John Maynard Keynes, finden plötzlich wieder zahlreiche Befürworter.
Welche Auswirkungen diese katastrophale Entwicklung, die zahllose US-Bürger,
vor allem die bescheidenen Eigenheimbesitzer, trifft, auf den amerikanischen
Präsidentschaftswahlkampf haben wird, ist noch nicht zu ermessen. Der
Republikaner John McCain versucht verzweifelt, das Steuer herumzureißen, und
geißelt heute mit den Tönen eines Gewerkschafters die unersättliche Gier sowie
die Inkompetenz der Wall-Street-Banker. Ob ihm die Anwärterin auf den Posten
des Vizepräsidenten, Sarah Palin, die Gouverneurin von Alaska, die sich vor
allem durch das Abschießen von Elchen hervorgetan hat und sich selbst als einen
»pitbull with lipstick«, also als gefährlichen Terrier mit Lippenstift
bezeichnet, mit ihrem hemmungslosen Populismus und ihren ultranationalistischen
Parolen wirklich helfen kann, muss sich noch erweisen. Der demokratische
Hoffnungsträger Barack Obama, der diese Chance seiner Partei nützen könnte,
verharrt in einer seltsamen Passivität und scheint kaum noch fähig zu sein,
entscheidende Vorteile aus der für ihn extrem günstigen Situation zu schlagen.
Die Krise der Wall Street ist auch auf Europa übergeschwappt. Sie dürfte sich
nachhaltig auf die Rivalität zwischen Angela Merkel und ihrem Außenminister
Frank-Walter Steinmeier auswirken, deren Schlacht um die künftige
Kanzlerschaft bereits entbrannt ist. Die Bundeskanzlerin, die niemals zögert,
die russischen Autokraten oder die roten Mandarine von Peking ins Visier zu
nehmen, sie zu demokratischem und marktwirtschaftlichem Verhalten zu ermahnen,
hatte unlängst noch eine verstärkte ökonomische Bindung der Europäischen Union
an die USA gefordert. Solche Thesen stoßen heute auf resoluten Widerspruch.
Die Große Koalition von Berlin, die das liberale Reformprogramm Agenda 2010
ihrer rotgrünen Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder voll übernommen hat
und weiter ausbauen wollte, stößt auf den wütenden Protest in weiten Schichten
der eigenen Stammwählerschaft, ob es sich nun um Anhänger der CDU oder der SPD
handelt. Auch in Berlin wird hastig umdisponiert, und jene Christdemokraten,
die der Wirtschaft die Priorität vor dem Staat einräumen wollten, müssen ihre
Blamage eingestehen.
Der Gewinner dieser deutschen Malaise heißt Oskar Lafontaine, der in seiner
saarländischen Heimat bereits vorführt, wie seine fünfte Partei, »Die Linke«,
Einfluss und Stimmen gewinnen kann. Die Linke wird zwar von ihren Gegnern
weiterhin als Nachfolgepartei der kommunistischen Funktionäre der DDR
diffamiert, aber das ist sie längst nicht mehr. Gegen Lafontaine wird zur Stunde
in den deutschen Medien und politischen Versammlungen eine maßlose Kampagne
geführt. Gewiss hat der saarländische Linkssozialist, der als Vorsitzender der
SPD von Gerhard Schröder seinerzeit aus dem Amt gedrängt wurde, seine
Schwächen und seine Exzesse. Aber seine Warnrufe, seine Verdammung des
Turbo-Kapitalismus haben sich plötzlich als weitgehend berechtigt erwiesen.
Hass kommt auf bei den übrigen etablierten Parteien, wenn Lafontaine – im
Verbund mit seinem rednerisch hochbegabten Führungsgenossen Gregor Gysi – eine
gesellschaftliche Wende, die Einführung sozialistischer Reformen als absolute
Priorität einfordert.
Der Saarländer verfügt noch über zusätzliche Trümpfe. Er ist bislang der
einzige deutsche Politiker von Rang, der das Engagement der Bundeswehr in
Afghanistan und deren Teilnahme an dem globalen Kampf gegen den Terrorismus als
strategisch verhängnisvollen Irrweg anprangert. Sehr bald, wenn die Kämpfe am
Hindukusch sich auf Pakistan ausweiten sollten, könnte er auch mit seiner Polemik
gegen die unterwürfige Rolle der Bundesrepublik Deutschland in der NATO auf
wachsende Zustimmung stoßen.
(c) Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein-Buchverlage GmbH. Der Text ist
ein Auszug aus: Peter Scholl-Latour, Der Weg in den neuen kalten Krieg,
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008.
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