Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 29.03.09 |
von Karim Akerma
„Also, lieber
Herbert, nachdem wir uns an Tafelspitz und Wiener Schnitzeln gestärkt haben,
gehen wir zur Ästhetik über.“
Beißender
philosophischer Humor: Wie man die Moral mit Löffeln fressen kann. Fortsetzung
eines Gesprächs mit Herbert Marcuse unter Einbindung Adornos
Verfechter einer zeitgemäßen und solidarischen
Ernährungsweise sind gut beraten, Vertreter der Kritischen Theorie wie Marcuse
oder Adorno nicht zu Hausgöttern oder Urtheoretikern der vegetarischen Sache zu
machen. 1977 führte Jürgen Habermas mit Herbert Marcuse und anderen eine Reihe
von Gesprächen, die aufgezeichnet und im Suhrkamp Verlag publiziert wurden.
Auszug aus einem Gespräch, an dem Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Heinz
Lubasz und Tilman Spengler teilnahmen:
HABERMAS „Wir kreiseln. Ich finde, wir sollten zur
ästhetischen Theorie übergehen...
SPENGLER Ich schlage vor, etwas zu essen.
HABERMAS Ja.
MARCUSE Das gehört auch zur Ästhetik.
LUBASZ Erst das Essen, dann die Moral...
SPENGLER Und dann die Ästhetik. Das ist eine ganz neue Definition
von Geschichte.
[Essenspause]
HABERMAS Also, lieber Herbert, nachdem wir uns an Tafelspitz
und Wiener Schnitzeln gestärkt haben, gehen wir zur Ästhetik über.
MARCUSE Freut mich.“[1]
1969 hatte Marcuse eine spezifische politische Praxis
gefordert, „den Bruch mit dem Wohlvertrauten, den routinierten Weisen des
Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge, so dass der Organismus für
die potentiellen Formen einer nicht-aggressiven, nicht ausbeuterischen Welt
empfänglich werden kann.“[2] Warum
konnte Marcuse, der im „Versuch über die Befreiung“ formulierte: „Die Große
Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, nicht den Versuch zu einer kleinen
Weigerung unternehmen und auf sein aus einem Kalb bereitetes Wiener Schnitzel
verzichten? Oder sollte es sich so zugetragen haben, dass er keines aß und gar
versuchte, der illustren Tischrunde das Fleisch madig zu machen? Mit Sicherheit
hätte Habermas – 1977 bereits an der Schwelle zum kommunikativen Handeln
stehend[3] –
diesenfalls die Gesprächsrunde nach der Essenspause mit anderen Worten
eröffnet, etwa so: Also, lieber Herbert, nachdem Sie versucht haben, uns die
Wiener Schnitzel im Munde madig zu machen, kommen wir jetzt auf eine
klärungsbedürftige Textstelle in Ihrem Buch „Konterrevolution und Revolte von
1972 zu sprechen, ich zitiere:
„Wird menschliche Aneignung der Natur jemals die Gewalt,
Grausamkeit und Brutalität beenden können, die mit dem täglichen Opfer
tierischen Lebens für die physische Reproduktion des Menschengeschlechtes
gesetzt sind? Sich zur Natur ‚um ihrer selbst willen’ verhalten, hört sich gut
an, aber wenn Tiere oder Pflanzen verspeist werden, ist das sicher kein
Verhalten zu ihnen um ihrer selbst willen. Das Ende dieses Krieges, der
vollkommene Frieden in der belebten Welt – diese Idee gehört zum orphischen
Mythos, aber zu keiner vorstellbaren geschichtlichen Realität. Angesichts des
Leids, das Menschen von Menschen zugefügt wird, erscheint es unverantwortlich
‚verfrüht’, sich für universellen Vegetarismus oder synthetische Nahrungsmittel
einzusetzen; angesichts der gegenwärtigen Welt hat menschliche Solidarität unter Menschen unbedingten Vorrang. Und
doch ist keine freie Gesellschaft vorstellbar, zu deren ‚regulativen Ideen der
Vernunft’ nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen
den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern.“[4]
Was hätte es Marcuse, den weltberühmten, einflussreichen und
gefeierten Denker von Großer Weigerung und Befreiung verschlagen, sich schon im
Hier und Jetzt für den Vegetarismus auszusprechen und ihn zu kommunizieren –
„als Kunst der Zubereitung (Kochkunst!)“[5] die
Trennung von Ästhetik und wirklicher Ethik aufzuheben? Wo wir vor einem
Entweder-Oder stehen, hat die Solidarität mit Menschen Vorrang vor der
gepeinigten Kreatur. Doch dieses Entweder-Oder existiert nicht, oder wenn, dann
nur als carnivore Ausrede Marcuses. Gerade der Verzicht auf Fleisch bedeutet
Solidarität mit Menschen. Wer kein Fleisch isst, votiert nicht allein für
weniger Leid, das Tieren von Menschen zugefügt wird, sondern auch für weniger
menschliches Leid: Fräßen die Milliarden Schlachttiere nicht all das kostbare
Getreide, das auf eigens gerodeten riesigen Waldflächen angebaut wird, könnten
weltweit weitaus mehr Menschen satt werden. Sattsam bekannt war dies schon zu
Lebzeiten Marcuses. Peter Singer veröffentlichte sein „Animal Liberation“
bereits 1975. Wer sich vegetarisch ernährt, verhält sich solidarisch mit den
Armen und Hungernden der Gegenwart und künftigen Generationen. Gleichsam um der
Marcuseschen Idee vorzubauen, für das vegetarische Kochen sei es noch zu früh,
enthält Singers Buch das Kapitel „Cooking for Liberated People“. Die Moral
kommt folglich nicht erst nach dem Essen, sondern löffelweise bereits beim
Verspeisen köstlicher vegetarischer Gerichte. Tatsächlich kann man die Moral
mit Löffeln fressen! Marcuses Aufschiebung des Vegetarismus ist, ethisch
gesehen, unsolidarisch und konterrevolutionär.
Gehen wir – nachdem wir uns von den Wiener Schnitzeln
abgewendet und zwei Schriften Marcuses zugewendet haben –, wie von Habermas
nach der Mittagspause vorgeschlagen, nun wirklich zur Ästhetik über, nämlich zu
derjenigen Adornos. Marcuse zitiert ihn in „Konterrevolution und Revolte“, um
seiner „Idee der Befreiung der Natur“[6]
Ausdruck zu verleihen. Die Natur, mutmaßt Marcuse, komme einem solchen
Unternehmen entgegen, in ihr sei „blinde Freiheit“ und von dieser Blindheit sei
sie zu erlösen. Mit Adornos von Marcuse zitierten Worten gehe es darum, der
Natur zu helfen, „ihre Augen aufzuschlagen“; „auf der armen Erde ihr zu dem zu
helfen, wohin sie vielleicht möchte.“[7]
Wie es scheint, hatte Marcuse, als er Adorno zitierte, den
Braten noch gar nicht gerochen. In einer musikalischen Schrift zu Alban Berg
charakterisiert Adorno Horkheimer und sich selbst einmal so: „Wenn ich von Max
und mir sagen darf, unser ‚Standpunkt’ sei der marxistische etwa so, wie der
Braten der Standpunkt des Essers ist, so lässt ganz gewiss etwas Ähnliches sich
von Bergs Verhältnis zur décadence und ‚Spätromantik’, zum süchtigen und
todessüchtigen Subjektivismus sagen.“[8]
Adorno und Horkheimer mögen den Marxismus, aber nachdem sie ihn sich
einverleibt haben, bleibt nichts Erkennbares von ihm übrig. Bei Adorno sind es
denn freilich keine Wiener Schnitzel, die zum Wein verspeist werden, sondern:
„Nicht wegzudenken aus dem Bilde Bergs ist eine Art sinnlicher Kultur, wie man
sie etwa auch in Paris findet, ein sehr subtiler Sinn für gutes Essen und vor
allem auch Wein. Ihm danke ich die Kenntnis des damals vorzüglichen, wenngleich
überaus schwarzgelben Restaurants Weide in Speising, mit den berühmten
Krebspastetchen...“[9]
Präsentieren wir die von Marcuse zitierte Stelle aus der
„Ästhetischen Theorie“ Adornos nochmals; in ihrem Kontext: „Technik, die, nach
einem letztlich der bürgerlichen Sexualmoral entlehnten Schema, Natur soll
geschändet haben, wäre unter veränderten Produktionsverhältnissen[10]
ebenso fähig, ihr beizustehen und auf der armen Erde ihr zu dem zu helfen,
wohin sie vielleicht möchte.“ Hier liegt die große Weigerung nicht nur der
Denker Adorno oder Marcuse vor, sondern wohl der meisten Philosophen:
Einzusehen, dass Kalb und Krebschen vielleicht an alle möglichen Orte wollen,
nur nicht in Schlachthäuser oder siedendes Wasser, wo ihre Augen geschlossen
werden. Adornos Formulierung, wir hätten auf veränderte gesellschaftliche
Produktionsverhältnisse zu warten, unterstellt einen Schicksalszusammenhang,
den es so nicht gibt. Eine Revolution an den Herden, Kochkunst im Eingedenken
der Kreatur, ist hinreichend.
Philosophie ereignet sich, wie Adorno in seiner „Negativen
Dialektik“ formuliert, dann, wenn geistige Erfahrung einen vorgängig
eingenommenen Standpunkt ebenso verschwinden lässt, wie der Esser den Braten[11].
Möge es so Marcuses Standpunkt ergehen, für die Forderung nach weltweitem
Vegetarismus sei es noch zu früh und ebenso Adornos Position offenkundiger
Distanzlosigkeit zum Verspeisen empfindender Wesen.
[1] Jürgen Habermas, Silvia
Bovenschen u.a. (Hg.): Gespräche mit Herbert Marcuse, Suhrkamp Verlag, Ff/M
1978, S. 39
[2] Marcuse, Versuch über die
Befreiung, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1969, S. 19
[3] In Habermas’ Buch „Zur
Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ von 1976 heißt es: „Die innere
Natur wird in dem Maße kommunikativ verflüssigt und transparent gemacht, wie
Bedürfnisse über ästhetische Ausdrucksformen sprachfähig erhalten oder aus
ihrer paläosymbolischen Vorsprachlichkeit erlöst werden können.“ (Suhrkamp
Verlag, Ff/M 1976, S. 88) Die Berufung auf das Theorem, der Mensch sei von
Natur aus Fleischfresser, hätte bei einem solcherart reflektierenden Denker
kein Verständnis gefunden.
[4] Marcuse, Konterrevolution
und Revolte, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1973, S. 83
[5] Marcuse, Versuch über die
Befreiung, S. 54
[6] Marcuse, Konterrevolution
und Revolte, S. 80
[7] Adorno, Ästhetische
Theorie, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1973, S. 107. Zitat in Marcuse, Konterrevolution
und Revolte, S. 81. Der Satzteil „... ihre Augen aufzuschlagen...“ findet sich
in Adornos ästhetischer Theorie nicht. Allenfalls: „Was Natur vergebens möchte,
vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf.“ (A.a.O., S. 104)
[8] Adorno, Im Gedächtnis an
Alban Berg, Gesammelte Schriften Bd. 18, Suhrkamp Verlag, Ff/M 2008, S. 499
[9] Ebd., S. 502
[10] Mit Habermas möchte man
gegen dieses Warten auf die neuen Produktivkräfte vorbringen: „Die Gattung
lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden
Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die
Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen
Bewusstseins.“ Habermas, a.a.O., S. 162f
[11] Vgl. Adorno, Negative
Dialektik, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1966, S. 41
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