Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 08.10.11 |
von Hartmut Böhme
Vielleicht sind die Reservoirs der westlichen Kulturen erschöpft.
Der Motor des Fortschritts und der Ausdifferenzierung scheint ein
Auslaufmodell zu sein. Ideenverlassenheit, Welt- und Selbstfremdheit,
Traditionsverlust, „das Grauen“ (Joseph
Conrad) sind die Stichwörter der Moderne seit 1900. Zwar lauft alles auf hohem
Niveau weiter, doch scheint es keine substanziellen Ziele mehr zu geben,
sondern es gilt, Krisen zu managen, Misserfolge zu vermeiden, Konflikte
stillzustellen, Geld zu verdienen und sich irgendwie zu amüsieren (sofern all
das noch gelingt). Dies ist ein Zustand latenter Melancholie, eines verborgenen
Nihilismus nicht nur der Hoffnungslosen, sondern auch der tatkräftigen
Entscheider und glamourösen Eliten, die sich regelmäßig blamieren. Vielleicht
eine Abdankung, jedenfalls zermürbende Ambivalenzen bei gleichzeitig
entfesselter Dynamik ökonomischer Konkurrenz. Zu besichtigen ist eine eigentümliche
Ermüdung von Handlungsschwung inmitten eines historisch exorbitanten Niveaus
von Potenzialitat. Das schien die Stunde der wirtschaftlichen Hasardeure, für
welche moralische Maßstäbe und der Eigenwert der Kulturen kaum mehr zählen als
ein Kohlweißling, wie Gottfried Benn sich ausdrückte. Warum nicht ein Autodafé
der Wirtschaft? Warum nicht den Schwachsinn der Unterhaltungssendungen höhertreiben?
Warum nicht die Ressourcen der Nachgeborenen jetzt schon verbrennen? Der
Zynismus – und das war früher die Todsünde der Acedia, der Herzenskalte und
Gleichgültigkeit – ist angesichts des sprachlosen Leids der Armen und Hungernden
dieser Welt noch steigerungsfähig.
Literatur war von allem Anfang an der Versuch, Sprache und Haltung
zu gewinnen angesichts von Katastrophen und Schmerz, von Chaos und Krise. Mit
der Ilias und der Odyssee, mit Krieg also und Irrfahrt, war der
Rahmen vorgegeben. Im Theater dann die Tragödien fehlschlagender
Selbsterhaltung angesichts der Nemesis. Die neun Kreise der Hölle bei Dante:
Grand Tour durch die Zonen menschlicher Verworfenheiten. Das Wort Hamlets „The time is out of joint“ gilt für den ganzen
Shakespeare. Miltons Paradise
Lost. Frankfurt 1797: Goethes Schauder vor dem „beständigen Taumel von
Erwerben und Verzehren“, sein Rätseln, wie das im Kriege zerstörte Haus seines
Großvaters als „Schutthaufen“ doppelt so viel wert ist wie vor dem Krieg:
Spekulationsblase. Dem folgt Nietzsches Epochenresümee: „Ist nicht gerade die
Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit
Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde,
Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin… Seit
Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen – er rollt immer
schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende
Gefuhl seines Nichts‘?“
Und dann Robert Musils Roman des 20. Jahrhunderts: Der Mann
ohne Eigenschaften. Sein Protagonist Ulrich, der die Krise der europäischen
Kultur detektiert, ist hochprivilegiert, in drei Berufen – Offizier, Ingenieur,
Mathematiker – erfolgreich, attraktiv, energisch, von scharfer Intelligenz, ein
kühler Analytiker mit aufschäumenden Leidenschaften dann und wann. Dieser Mann
also nimmt „Urlaub vom Leben“, weil
kein Beruf und keine Frau, keine Karriere und kein Geld, keine Weltanschauung
und keine Moral, kein Sinn und keine Geschichte mehr überzeugt, nein,
schlimmer: Alles lässt ihn gleichgültig. Diagnostisch gesehen: eine depressive
Rückzugsposition. Wahrend Ulrich auf Positionen der Negation und der ironischen
Dekonstruktion verharrt, erscheinen ihm, auf der gesellschaftlichen Gegenseite,
alle Weltanschauungen und Sinnangebote unplausibel, die Handlungsmuster
konformistisch, zwanghaft und ritualisiert, die sozialen Hierarchien zufällig und
die Handlungsoptionen kontingent, die Regierungen unfähig, Administration und
Diplomatie zynisch, die Wissenschaftler als spießige Spezialisten, die ökonomischen
Eliten bestenfalls aufgeblasen und weltfremd. Indem Ulrich einen unbegrenzten Möglichkeitssinn
entfaltet, wird die stämmige Wirklichkeit in einen conjunctivus irrealis verwandelt.
Distanz- und Nähebezüge werden ebenso zum Einsturz gebracht wie Hierarchien von
Relevanz und Zielen, die das Handeln orientieren konnten. Der Mann ohne
Eigenschaften ist die strategische Universalisierung des Bartleby-Effekts: I would prefer not to. Die
Verwandlung ins grenzenlose Reich des Möglichen fuhrt zu einer systematischen
Verarmung der Wirklichkeit. Mit Freud zu sprechen, ist dies die Situation der
Hemmung. Diese Hemmung indes ist systemisch diffundiert, also ebenso ihm wie
der Gesellschaft zuzurechnen.
Das Zaudern und Zögern, das Aufschieben und Anhalten: Gerade dies
erzeugt einen ungeheuren Stau an Moglichkeiten, die sich nicht mehr in den
Fluss des Wirklichen zu transformieren vermögen, sondern eine Art
Paralleluniversum des bloß Denkbaren bilden. Dadurch aber verwandeln sich die Möglichkeiten
zu Inkompossibilitaten, die in wechselseitiger Blockierung nebeneinander
bestehen, ohne miteinander geordnete Relevanzhierarchien und Schrittfolgen
bilden zu können. Über die individuelle Signatur des Mannes ohne Eigenschaften
hinaus stauen sich die sozialen Handlungen und Weltanschauungen zu einem
allgemeinen Zustand der Gesellschaft, der sich explosiv im Ausbruch des Ersten
Weltkriegs entlädt. Ulrich ist eine Experimentalfigur, mittels derer die
generelle Anomie der Gesellschaft durchprobiert wird, bis sie in Gewalt und
Verbrechen kollabiert. Die Krise ist da.
Dürfen wir sagen, dass wir es nicht wissen konnten? Dass wir in
aller Unschuld überrascht worden sind? Dass die Krise, die viele Billionen Dollar
verbrannt hat und Millionen von Arbeitsplätzen kosten wird, über uns
hereingebrochen ist wie das Erdbeben von Lissabon 1755 über die ahnungslose
Bevolkerung? War alles Zufall oder alles System?
Carl von Clausewitz, der sich angesichts der unberechenbaren
Friktionen des Krieges und der ungeheuren Neuartigkeit der Napoleonischen
Spielzüge im großen „Kriegstheater“ ähnliche
Fragen stellte, schrieb an seine Braut Marie von Bruhl am 5. Oktober 1807: „Die
erhabensten Werke des bürgerlichen Zustandes, in wie viel Jahrhunderten sie
auch fortleben und wirken mögen, tragen das Prinzip ihrer eigenen Zerstörung in
sich.“ Die Einrichtungen, die Dauer und Sicherheit erzeugen sollen, tragen
nicht nur Keime, nein, sie tragen das „Prinzip“ ihrer Zerstörung in sich. Damit
erfasste Clausewitz bündig die Paradoxie der Moderne, mit deren Konsequenz wir
heute, als wäre es das erste Mal, konfrontiert sind. Doch seit zweihundert
Jahren ist sichtbar, dass die grandiose Entfaltung der Produktion, in deren
Gefolge auch die Systemsicherheiten – wie Rechtsordnung, Wohlfahrtsstaat, Arbeitsplatzgarantien,
stabile Erwerbsbiografien, sozialer Frieden – bezahlbar wurden, eine ebenso
grandiose Destruktion zur Kehrseite hat.
Auch Nietzsche hatte diese Paradoxie, derzufolge bürgerliche
Sekurität und destruktive Dynamik auf dem gleichen Baum der Moderne wachsen,
deutlich erkannt. Die Metapher der umzustürzenden Grenzsteine steht fur die „jetzige Zivilisation und Grossstadt-Bildung“, für
alle philiströsen Borniertheiten, moralischen Regime,
zivilisatorischen Ordnungen, für die „alten Pietäten“ und „egoistischen Besitztümer“, welche die „freien
Geister“ zerstören müssen, um die offenen Horizonte zu erreichen: Kreative
Zerstörung, um diese Formel von Alois Schumpeter aufzugreifen, bildet die
Grunddynamik des Nietzscheschen Denkens. Diese Formel erklart die Wucht des
destruktiven Impulses, der im Dienst der fessellos-schöpferischen Konstruktion
eines neuen Menschen und einer neuen Kultur steht. Dem „freigewordenen
Intellekt“, so heißt es in Über Wahrheit und Luge im aussermoralischen Sinn,
ist das „ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe [...] nur ein Gerüst
und ein Spielzeug fur seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt,
durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und
das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit
nicht braucht und dass er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen
geleitet wird“. Heute hört man hierbei das neoliberale Credo der selbst
ernannten Finanzvirtuosen mit. Man läge falsch, wenn man annähme, dass solche
freien Kombinationen und Destruktionen nur im Reich des Geistes – etwa als
Kulturkritik – vorkämen; sie bestimmen ebenso, wenn nicht zuerst die „außermoralische“
Sphäre der Ökonomie. Diese bevorzugt jene großen Virtuosen, deren schöpferische
und durch nichts limitierte Unternehmungen nur auf der Grundlage großartiger
Wertzerstörungen ihre Dynamik entfalten können.
Diese Paradoxie bezeichnet die Seite der „bösen“, boshaften und ironischen Kritik der
historischen Bestände ebenso wie die großen Unternehmer, deren ökonomische
Fantasie (mit mathematischem Kalkül bestens vereinbar) fortlaufend neue, nie da
gewesene Spekulationen, Ideen, Produkte in Umlauf setzt, um den
kapitalistischen Motor in Schwung zu halten. Immer war dabei klar: Gewaltige
und beflügelnde Aufschwünge sind nur um den Preis eines Absturzes zu haben. Die
langwellige Konjunktur hat sich als Chimäre erwiesen. Sie verdankte sich
zumeist einer vorausgegangenen Wertvernichtung, die nicht nur in Börsencrashs,
sondern ebenso gut in Kriegen bestehen kann. Wenn Nietzsche eine Epoche „von
Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“ herbeisehnt und wenn er sich als „Vorausverkünder
dieser ungeheuren Logik von Schrecken“, „einer Verdüsterung und
Sonnenfinsterniss“ versteht, dann hat er die Logik kapitalistischer Dynamik mit
beschrieben. Sie ist produktiv nur im Bann einer negativen Faszination durch
den Absturz, und sie ist destruktiv niemals per Zufall, sondern durch System.
Zerstörung ist die Voraussetzung einer neuen „Art Licht, Glück, Erleichterung,
Erheiterung, Ermutigung“ (Nietzsche). „Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss,
um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten,
heisst: gefährlich leben! Baut eure
Städte an den Vesuv!“ Ökonomisch heißt dies: Baut eure Unternehmungen auf den
Sand der Spekulation, nur hier, im Gebiet der ungesicherten Risiken, winkt der „Genuss
vom Dasein“. Was bei Nietzsche noch verkleidet war als schöpferische Zerstörung
überholter Denkmuster – „mit dem Hammer philosophieren!“ –, das ist eine Grundfigur
der Moderne und bestimmt längst auch Gesellschaft und Ökonomie.
Hier herrschen strenge, ebenso archaische wie höchst aktuelle
Gesetze. Wer nur empfangen kann, dem kann befohlen werden. Er bleibt in der
Schuld hängen, die ihn durch die (staatliche) Zuwendung getroffen hat; er wird
gesichts- und namenlos, er wird zum bloßen Ding, das passiv in den
Tauschverkehr eingespeist werden kann. Das ist die Welt von Hartz IV. Das
Haben, das Geben, das Einnehmen, die gesamte Zirkulation der Dinge und Güter,
umso mehr der spekulativen ökonomischen Werte sind hingegen vom Agon
beherrscht. Dies war es, was der Ökonom Schumpeter „kreative Zerstörung“ nannte. Er hatte damit den
paradoxen, den Wirtschaftsprozess regulierenden Zusammenhang gemeint, nach dem
die Zerstörung mit der Schaffung von (neuen) Strukturen in eins fällt, wie
umgekehrt jede Wertschöpfung Zerstörung impliziert. Dies scheint eine
grundlegende Paradoxie, die weit über die Okonomie hinaus soziale,
governmentale, politische und künstlerische Prozesse beherrscht.
Paradox sind bereits die archaischen Akte der Zerstörung von
Reichtum im Potlatch: Zerstörung ist das Medium der Produktion der sozialen
Ordnung, der Hierarchien, der Macht, aber auch der symbolischen Ordnung. Zerstört
jedoch wird hier nicht fremder Reichtum, sondern eigener: bis hin zu „wahren Verwüstungen“ (Marcel Mauss). Seinen
Reichtum kann der Gebende „nur dadurch beweisen, dass er ihn ausgibt, verteilt
und damit die anderen demütigt, sie ‚in den Schatten seines Namens‘ stellt“
(Maurice Godelier). Verausgabung und Zerstörung sind die machtvollen Gesten,
durch welche die alle und alles in die Zirkulation ziehende Ordnung der Ökonomie
konstituiert wird. Man erkennt sofort, dass eine Kultur, die nur so operieren würde.
sehr rasch kollabieren würde.
Die Frage ist, ob eine Zivilisation überleben kann, bei der die
Verausgabung von Werten nicht mehr wie früher den eigenen, sondern den Reichtum
anderer trifft. Denn das ist das schaurig Faszinierende der gegenwärtigen
Krise: Es werden schwindelerregende ökonomische Werte erzeugt, die schlagartig –
irgendwann, man weiß nur nicht, wann – vernichtet werden müssen. Aber es sind
nicht die Werte derer, die sie besitzen, um in einem gewaltigen Potlatch ihre
unanfechtbare Superiorität zu erweisen. Sondern es haften die Gesellschaften
insgesamt. In ihnen, im Volk, rumort indes eine untergründige Angst vor Abstieg
und Verlust, Trennung und Untergang, wenn es nicht gelingt, valide und mobil zu
bleiben und auf den Wellen der Zirkulation zu reiten, womöglich in der
narzisstischen Grandiosität der Futuristen. Dass Letzteres nicht gelingen kann,
haben wir schmerzlich erfahren.
Seit der Aufklärung gehört es zum
Selbstverständnis moderner Gesellschaften, dass die Rationalisierung der Welt
Gewissheiten generiert, welche die Ordnungen des menschlichen Lebenszyklus, der
Natur, der Staaten und der Gesellschaft stabilisieren sollen. Die kognitiven
Ordnungen und governmentalen Regimes, welche die Transformation traditionaler
in funktional ausdifferenzierte Gesellschaften antrieben, erhöhten jedoch nicht
nur den Standard inner- und zwischenstaatlicher Sicherungssysteme, sondern
gleichzeitig die Kontingenz. Diese Kontingenz wurde erst langsam als
unhintergehbare Bedingung der
Modernisierung erkannt. Kontingenz meint, dass Angst und Gefahr,
Katastrophe und Unglück, Biografie und Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit
nicht mehr durch unverfügbare Ordnungen gerahmt sind. Diese Rahmenlosigkeit –
Georg Lukács nennt sie „transzendentale
Obdachlosigkeit“, Anthony Giddens spricht von „Entbettung“ – gilt mit
unerbittlicher Konsequenz. Im Ergebnis führte dies für Staat und Gesellschaft,
aber auch für die Individuen zu massiven Überlastungen. Moderne Gesellschaften
müssen ihre Identität auf permanenten und riskanten Wandel, auf Bewegung, Zerstörung
und Wachstum einstellen. Unsicherheit ist ihre Entwicklungsvoraussetzung. Aber
der Innovationsdruck in Kombination mit der Enttraditionalisierung bedeutet fur
immer mehr Menschen nur noch Stress und Schmerz. Und so erwächst aus dem
Modernisierungsmodus des risikohaften Möglichkeitsdenkens eine wachsende
Nachfrage nach spezifischen Bewältigungsformen dieser Verunsicherungsprozesse.
Die in der Moderne aufgebauten Einrichtungen der Sekurität
generierten ein Lebensgefühl, das nicht mehr in religiöser Selbstvergewisserung,
sondern in rationalisierten, also ökonomisch verrechneten Garantien wurzelte.
Diese wurden freilich erkauft mit dem Bewusstsein um die Zufälligkeit des
eigenen Handelns und um die Unzuverlässigkeit der staatlichen Institutionen: An
die Stelle religiöser Heilsgarantien trat ein Risikomanagement, das der Staat für
die Gesellschaft und der Bürger für sein Lebensskript zu entwickeln hatte.
Genau diese Strategien und Versprechen brechen heute zusammen. Dies führt zu
einer befremdlichen Diagnose: Die Moderne stellt die Erweiterung des Möglichkeitsraums
auf Dauer, während die Mentalitaten nicht in gleicher Weise mitgewachsen sind.
Angesichts der schwindelnden und geschwindelten Möglichkeiten, die oft nur noch
schrecken, verbreiten sich misstrauische, ungläubige und depressive Stimmungen.
Dies ist die Vertigo-Moderne, der wir soeben beiwohnen.
In traditionalen Gesellschaften war die Religion die zentrale
Institution fur Sinnstiftung. Ökonomie war Heilsökonomie: für die Tröstung bei
innerweltlichen wie metaphysischen Ängsten und Katastrophen, für die Bewältigung
des allgegenwärtigen Todes und für die Vermittlung von „Geborgenheit“ im Schoß einer Zeit, die jeden
Einzelnen in das Heilshandeln Gottes zwischen Ursprungsereignis und Endgericht
einhegte. Die metaphysische Rahmenlosigkeit der Moderne hat zwar die Spielräume
der Kontingenz und damit die Räume selbst regulierter Gestaltung ständig
anwachsen lassen. Doch zugleich damit wurde den Instanzen, die diesen Prozess
vorantrieben, die Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, die
Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den psychophysischen Stress in einer
Wettbewerbsgesellschaft nicht nur zu beruhigen, sondern in planbare Lebensläufe
und in wohlfahrtsstaatliche Garantien zu transformieren. Heute aber sind weder
Lebensläufe planbar, noch ist auf staatliche Fürsorgemaßnahmen Verlass.
Erwartungsüberlastung auf der einen, Erwartungsenttäuschung auf der anderen
Seite erzeugen eine Art Lähmung des für die Moderne unerlässlichen Möglichkeitssinns.
Der Effekt ist: Die risikoaffine Dynamik der Moderne ist eigentümlich mit
risikoaversen Mentalitäten verkoppelt.
Die Moderne hat anhaltende Schwierigkeiten damit, die Prozesse ständiger
Verflüssigung und Veränderung, der Innovation und des Experimentierens
auszubalancieren durch Mechanismen der sozialen und politischen Stabilitat oder
durch zeitübergreifende Sinnsicherung und Traditionsbildung. Das Risikomaß, das
einen Vorsprung im
Wettbewerb verspricht, ist nicht beliebig zu erhöhen, wenn es
keinen Gegenhalt in Stabilitätsmechanismen auf individueller wie
gesellschaftlicher Ebene gibt. Das bedeutet: Risiko und Sicherheit sind nicht
nur komplementär, sondern auch proportional. Wächst das Risiko, muss Sicherheit
mitwachsen; werden bestimmte Niveaus von Sicherheit unterschritten, lässt die
Risikobereitschaft nach. Dann geht nichts mehr.
Dass all dies und noch viel mehr möglich ist und doch so wenig
geht, zeigt das Ausmaß eines Strukturproblems, das darin besteht, dass nach dem
Krieg die deutsche Bevölkerung mit „fürsorglichen“ Sicherheitsmaßnahmen zur Loyalitat mit der schwach
verankerten Demokratie motiviert werden sollte. Dabei wurden die Erwartungen an
staatlich garantierte Sicherheitsstandards maßlos erhöht, und die Fähigkeiten
zu verantwortlicher Selbstsorge und Risikobereitschaft blieben unterentwickelt.
Durchaus sind dies langfristige Erschwernisse beim Umbau des Sozialstaates. Es
sind Hintergründe der depressiven Abwehr gegen den Strukturwandel der
Gesellschaft in einer globalisierten Welt.
Die Frage nach Sicherheit und Risiko ist eine Schlüsselfrage
moderner Gesellschaften (Herfried Münkler). Der Zwang zu Beobachtung, Forschung
und Reflexion hat sich angesichts des jüngsten Finanzcrashs dramatisch erhöht.
Unklar aber ist, wer die neuen Eliten bilden könnte, nachdem die alten blamiert
sind. So kann man auf der einen Seite, insbesondere bei den
Globalisierungsgewinnern, eine Zunahme sozialexperimentellen und spielerischen
Möglichkeitsbewusstseins mit extremer Risikobereitschaft identifizieren, während
auf der anderen Seite Konformismus, larvierte Wut und Depression oder als Amüsement
getarnte Langeweile grassieren. Von beiden Seiten ist nichts zu erwarten, zumal
Risikokompetenz und Sicherheitsbedürfhis asymmetrisch verteilt sind. Sie
differenzieren sich zu Stilen des Lebens aus – und reißen die Gesellschaft noch
stärker auseinander, nicht nur ökonomisch, sondern auch mental, soziokulturell
und lebensweltlich. Denn es gab in der Lage, in der – bis zum Jahr 2006 – alles
möglich war und für die einen nichts mehr ging, während für die anderen alles
bestens lief, Verlierer und Gewinner des Modernisierungsspiels. Es ist
unabweisbar, dass moderne Gesellschaften den Risiko-Habitus belohnen, während für
diejenigen Ängstlichen und Gehemmten, fur die durchaus einiges möglich wäre,
gar nichts mehr geht außer der illusionären Teilhabe am Medienstumpfsinn à la Deutschland
sucht den Superstar. Die Banker und Börsenmakler aber sind, in Nietzsches
Sinne, die Nihilisten unserer Tage, die ihr Schäfchen längst im Trocknen haben,
wenn die Träume der Schafherde sich in Nichts auflösen. Gut so: Denn der space
of flows war überdehnt; lassen wir ihn abstürzen, wälzen wir die Kosten auf
die Schafe ab, die ihr Fell verloren haben. Die modernen Nihilisten sind, mit
Umberto Eco zu sprechen, die „Apokalyptiker“,
für die der Untergang zum Risiko gehört, das heute jeder einzugehen hat, der
mitspielen will. In dieser Welt, in der es strukturell keine Moral geben darf,
interessiert nicht die Frage danach, welches Unglück global angerichtet wird,
sondern nur die Frage, wann der richtige Zeitpunkt zum Ausstieg gekommen ist.
Den kennen die „Integrierten“ nie. Ihnen, die auf Stabilitat und Ruhe setzten
und durch Sicherheitshypertrophien ungewollt zur Vermehrung der Risiken
beitrugen, bleibt nur die oft genug scheinheilige Empörung, dass die Welt, auf
die sie bauten, „schlecht“ ist und die Masters of the Universe Kriminelle sind.
Gerade mit dieser vom Schauder faszinierten Mentalitat stützen sie den
apokalyptischen Diskurs, von dem der Risiko-Thrill der anderen seine Renditen
bezieht.
Die Standardposition der Moderne, nämlich
Fortschritt durch Erhöhung von Sicherheit zu stabilisieren, ist infrage
gestellt. Es ist unwahrscheinlich, dass Antworten auf die beschriebenen
Problemzonen nur politologisch, soziologisch und ökonomisch gefunden werden können.
Gefragt sind ebenso historische, auch kultur- und religionshistorische
Forschungen, welche die Tiefendimension der Sicherheitsparadoxien und Risikodilemmata
der Moderne erforschen. Dies könnte auch ein Beitrag zur Unvermeidlichkeit der
Geisteswissenschaften sein.
Der Abdruck des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung
von Professor Dr. Hartmut Böhme und „Die Zeit“. Literaturmagazin der ZEIT (ZEIT-Literatur), Nr. 12 (März 2009), S. 30/31 u. 35.
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