Erschienen in Ausgabe: No 125 (07/2016) | Letzte Änderung: 30.06.16 |
Über mehr als 500 Jahre lagen die Geschicke der Welt in den Händen unseres kleines Kontinents. Diese Zeit ist nun vorüber.
von Oliver Weber
Träfe ein gebildeter Europäer unserer Tage auf einen angesehenen Hellenen
des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, so würden sich beide wohl glänzend
verstehen. Sie wären Geistesverwandte der besonderen Art, Brüder über
Jahrtausende hinweg. Beide verbindet, auf abstrakte Art und Weise, eine
merkwürdige Zeitgenossenschaft. Sie erleben beide den allmählichen Rückzug
zivilisatorischer Gewissheiten, die schleichende politische Ohnmacht, den
Raubbau an ihrer kulturellen Basis, den Verfall ihrer Hochkultur.
Der Grieche – wohl am besten ein Athener – würde über den Niedergang des
attischen Seeimperiums klagen, das Chaos der makedonischen Herrschaft, die
Einfältigkeit der Römer, die nun den Ton angaben, den Bedeutungsverlust der
Akademeia, also derjenigen Schule, die einst Platon gründete und Aristoteles
hervorbrachte, die aber nun – wenn überhaupt – nur noch Skeptiker und Kyniker
produzierte; kurzum, den Rückzug der Hellenen aus der Weltgeschichte. Ihm wäre
mit dem heutigen Europäer die angsteinflößende Ahnung gemein, es sei langsam
vorbei mit der Hegemonie ihrer Kultur.
Neigt
sich das europäische Zeitalter dem Ende zu?
Doch was könnte der Europäer vorbringen, um seine Melancholie zu
rechtfertigen? Übertreibt er nicht? Neigt sich das europäische Zeitalter
wirklich dem Ende zu, wie er behauptet? Nun, wäre er einmal quer durch den
Kontinent gefahren, er hätte gute Argumente. Zuvörderst, Europa ist ein
schrecklich alter Kontinent. Die Geburtenrate ist niedriger als je zuvor, in
nur 15 Jahren wird die größte demographische Gruppe aus über 60-Jährigen
bestehen. Wenn man mit ansieht, wie ein ganzer Kontinent vergreist, schießen
einem schlagartig die Worte des Papstes in den Kopf: „Es gewinnt der
Gesamteindruck der Müdigkeit und der Alterung. Wie eine Großmutter, die nicht
mehr fruchtbar und lebendig ist."
Das
Abendland kann sich nicht selbst reproduzieren
Während anderswo die Geburten explodieren und den Planeten in regelmäßigen
Abständen weitere Millionen und Milliarden an Menschen bescheren, kann sich das
altgewordene Abendland nicht einmal mehr selbst reproduzieren. Sieht man es
aber auch sonst nicht überall? Wie andere Mächte beginnen die Europäer zu
übertrumpfen, ökonomisch die USA, China, Indien…? Die neueste Technik wird nicht
mehr in London, Paris oder Berlin produziert, sondern aus dem Silicon Valley
eingeschifft. Auch militärisch bedarf Europa dem Schutz seiner Filialkultur aus
Übersee, weil es aus eigener Kraft weder Selbstschutz noch
Peripherie-Stabilisierung aufbringen kann.
Der
umgreifende Kulturrelativismus
Eine Kultur wird aber auch dann dekadent, wenn ihre Träger vergessen, warum
man sie braucht. Der umgreifende Kulturrelativismus (Multikulturalismus ist
hier nur ein Synonym), die One-Earth-Ideologie, die Menschelei mit all ihren
Surrogaten, zeugen von achselzuckender Registrierung des eigenen Verschwindens.
Das Bildungssystem, einst mit humanistischem Gymnasium und europäischer
Universität an seiner Spitze, verkommt zu einer Massenproduktionsstätte
semi-akademischen Humankapitals. Es ist also nur Symptom, dass man mittlerweile
von Bachelor und Master spricht, statt von Magister und Diplom.
Unsere
Gesellschaft ist individualistisch und hedonistisch
Die Gesellschaft, die daraus hervorgeht, ist individualistisch-hedonistisch,
besteht nur noch aus Begeisterten des Selbst. Der dazu erfundene Begriff der
„Spaß-Kultur" ist ein derartiger Widerspruch in sich, dass man ihn kaum
ruhig ertragen kann, denn was sich hinter diesem Wörtchen verbirgt hat
vielleicht viel mit Spaß zu tun, aber nur sehr wenig mit Kultur. Auch politisch
zerreibt sich der Kontinent, mal aus Zerstrittenheit, mal aus EU-Übereifer,
nicht selten aus Lust am Untergang.
Welche
große Entwicklung hat Europa zuletzt aus eigener Kraft angestoßen?
Die Frage muss erlaubt sein: Welche weltgeschichtlich bedeutsame Entwicklung
hat Europa zuletzt aus eigener Kraft angestoßen? Welche Technik wurde weltweit
adaptiert? Welche naturwissenschaftliche Entdeckung stellte die conditio humana
ernstlich in Frage? Welcher europäische Philosoph wird neuerdings global
gelesen? Man gewinnt den Eindruck, das europäische Zeitalter hat – irgendwann
Ende des 19. Jahrhunderts – seinen Zenit überschritten.
Einen Vorteil mag es aber geben. Denn „die Dekadenz zeigt im Zerfall eine
letzte Ahnung, wie gross etwas war." (Hans Ulrich Bänziger) Was haben die
Europäer der Welt nicht alles geschenkt? Man denke nur daran, wie die kosmische
Wende den Planeten selbst an den rechten Platz rückte – Kopernikus darf man
nicht ohne Grund als Begründer der Neuzeit verstehen -, oder an die
scholastische Erkundung der Welt mitsamt der schöpferischen Wiederentdeckung
der Antike in der Renaissance, die vielen zivilisatorischen Errungenschaften,
sei es Freihandel und Marktwirtschaft, Hygiene, Medizin, Kulinarisches, die
großartige europäische Architektur oder der technische Fortschritt von der
Hochseeschifffahrt über die Dampfmaschine bis zur Elektrizität.
Die naturwissenschaftlichen Entdeckungen von Newton bis Einstein, die großen
Philosophen von Hobbes, Descartes und Leibniz über Locke, Hume, Rousseau, Kant
bis zu Hegel, Schopenhauer, Byron, Mill und Nietzsche, die schöpferischen
Poeten, Literaten, Musiker und Künstler, seien es Shakespeare oder Goethe,
Mozart oder Bach, Da Vinci oder Picasso – „Nie wieder werde ich solche Freunde
haben!" (Botho Strauß)
Die
alte Welt ist an Selbstmarginalisierung erkrankt
Das Abendland wird wohl, anders als bereits vor hundert Jahren postuliert,
nicht untergehen – dafür sind seine technologisch-sozialen Reserven zu groß.
Doch das was übrig bleibt, ist nur die Oberfläche der Oberfläche, die
wirtschaftliche Potenz einiger großer Nationen. Überall sonst ist die alte Welt
an Selbstmarginalisierung erkrankt, an Bedeutungsverlust der besonderen Art. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass man in der Mitte des Kontinents, dem Herzen,
das Ende am ehesten zu spüren bekommt, immerhin war Deutschland immer schon
Hauptschauplatz der europäischen Entwicklung, egal ob im dreißigjährigen oder
ersten Weltkrieg. Vielleicht verspürt man hier am ehesten den eigenen Verfall,
die Sottise der Dekadenz. So oder so kann man nur hoffen, die Nachfolger der
europäischen Zeit wissen das Erbe zu würdigen.
Der Text erschien zuerst auf "The European"
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