Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 30.09.16 |
von Oliver Weber
„Wir
sind freie Bürger – keine Untertanen!“ Die Worte klingen nicht wie eine
wissenschaftlich-korrekte Tatsachenbehauptung. Der Spruch tönt laut,
pathetisch, auffordernd – als stünde sein Verkünder plötzlich wutentbrannt auf
einer Anhöhe in der Mitte einer Menschenmenge, unerwartet und wild entschlossen
seine Botschaft zum revolutionären Programm zu erheben. Doch statt
unbeeindruckt weiter zu gehen, bilden sich um ihn herum Gruppen, Zuhörer, die
erst vorsichtig nicken, dann begeistert zujubeln. Sie glauben dem Unbekannten
nicht nur, sie sehen ihn als einen der Ihren, der endlich einfordert, was
Selbstverständlichkeit sein sollte. „Endlich sagt es mal einer!“ ruft einer aus
der Menge, „so kann es nicht weitergehen“ gellt es zurück. Ehe man sich
versieht, greift der Zorn um sich, das Selbstvertrauen der Masse wächst, der
Protest ward geboren.
Man
muss und darf diese einfache Parole nicht für eine angebrachte
Realitätsbeschreibung halten. Sie ist falsch, theoretisch wie praktisch – und
gefährlich noch hinzu. Und dennoch prangert sie in großer Schrift über dem
Parteiprogramm der „Alternative für Deutschland“. Einer Schrift, zu deren
Tendenz und Inhalt sich nun rund 140.000 Bürger in Mecklenburg-Vorpommern
bekannt haben, mehr als zum Programm der 70 Jahre alten Volkpartei CDU. Das ist
ein Paukenschlag der nicht nur bis nach Berlin hallt, er wird Resonanz finden
in Warschau, Paris, London, ja sogar Washington. Nicht zuletzt, weil auch dort
seit geraumer Zeit ähnliche Töne zu vernehmen sind. Das Timbre ist hier wie
allerorten aufwallender Zorn, der sich zum politischen Protest kanalisiert –
egal ob sein Medium den Namen Trump, Brexit, Front National oder eben AfD
trägt.
Die
AfD trägt die vermeintliche „Alternative“ im Namen und formuliert sie als
Aufstand gegen ein diffus umrissenes Establishment. Sie wünscht
Entscheidungsfreiheit abseits der gegebenen Politik, propagiert eine neue
Selbstherrschaft und konkretisiert diese Forderung in der Ablehnung der
Euro-Rettungspolitik, der Einwanderungspolitik und weiterer eher konsensual
behandelter Debattenthemen. Sie möchte, um in ihrem wütend-brutalen Duktus zu
bleiben, aus „Untertanen“ wieder „freie Bürger“ machen, die es anders machen, als bisher Usus. Die
latente Unzufriedenheit mit der politischen Klasse steigert sich in diesen
Tagen zu aufständischen Widerworten – mitnichten nur am rechten Rand.
Wer
den Kritikern der neuen rechtpopulistischen Zornbewegung in allen Reihen
zuhört, erkennt parallele Argumentationsmuster: Die AfD sei eine
„Protestpartei“ mit antidemokratischen Zügen, deren Kapital sich auf die die
kritisch-distanzierte Politikverdrossenheit der letzten Dekaden beläuft. Man
müsse sie nicht als politischen Konkurrenten dulden, sondern deren Wähler
„zurückgewinnen“, „wieder mitnehmen“ oder „ihre Sorgen ernst nehmen“. Doch
diese Betrachtungsweise politischer Prozesse fußt auf einem dysfunktionalem
Demokratiebegriff popperianischer Machart. Laut dem „Volksherrschaft“ nicht
denkbar, nicht möglich ist und sich das Wesen der Demokratie allein auf die
Abwählbarkeit der Regierung beziehe. Bürgerliche Einmischung abseits der Norm
gilt hier als Regierungskritik, nicht als Wille zur Selbstherrschaft.
Doch
wenn Karl Popper damit auch in der Praxis recht haben mag, er vergisst den
abstrakten Wert des Volksherrschaftsbegriffs. Er mag den Realitäten nicht
standhalten, ist aber der nicht austauschbare Gründungs- und Erhaltungsmythos
republikanischer Herrschaft. Das Staatsvolk muss nicht Gesetze erlassen und der
Verwaltung Befehle erteilen, aber es muss sich immer als Souverän aller
staatlichen Prozesse sehen können, als Selbstherrscher, auch über seine
Wahrnehmung der „Realität“. Auch deswegen laufen die Reaktionen der etablierten
politischen Kräfte derart ins Leere: Es nützt nichts der AfD vorzuhalten sie
sei „irrational“, übersehe also etwa den demografischen Zwang zu hoher
Einwanderung oder ignoriere die Chancen eines immer enger integrierten Europas.
Die Demokratie ist nicht mit der vermeintlichen „Wahrheit“ im Bunde, die
Experten und Politiker Tag ein Tag aus predigen.
Im
Brexit wie in den Umfragehöhen und Wahlerfolgen der AfD darf man also auch den
laut vorgetragenen Widerspruch zum vorherrschenden Fortschritts- und
Demokratiebewusstsein erkennen. Nicht umsonst lautete einer der populärsten
Sätze in der Brexit-Debatte: „Die Menschen in diesem Land haben genug von
Experten!“ Den Zornigen geht es um die reizvolle Möglichkeit den Beweis dafür
anzutreten, „dass es in der Geschichte offene Situationen gibt, dass die
Artikulation eines entschiedenen Willens Tatsachen schaffen kann, die in den
welthistorischen Ablaufplänen der Manager des Projekts der Aufklärung nicht
vorgesehen sind“, schreibt Patrick Bahners zum Thema im Merkur. Die Aufgebrachten betreten mit ihrem Protest das „Labor
alternativhistorischer Alchemie“ und fordern Selbstherrschaft wo
Alternativlosigkeit und Expertokratie herrschen.
Auch
die neuere Demokratietheorie leistet Schützenhilfe, wenn plötzlich weite Teile
der Bevölkerung Mitmischung und Entscheidungsfreiheit fordern. In einem erst
kürzlich erschienenen Buch beruft sich Richard Tuck auf die von Thomas Hobbes
vorgenommene Unterscheidung zwischen der mit administrativen Aufgaben betrauten
Staatsregierung und dem identitätsstiftenden Souverän. Dieser könne zweitweise
schlafen und den Geschäftsführern das Feld überlassen, doch von Zeit zu Zeit
müsse er wieder aufstehen, um seine Souveränität zu bekräftigen. In Demokratien
ist de jure das Staatsvolk der Souverän – und vielleicht ist es gerade erwacht,
um sich noch etwas schlaftrunken, aber entschlossen wieder bemerkbar zu machen.
Dass
der Souverän sich an vielen Stellen zornig, pöbelnd, wütend und brutal
bemerkbar macht, mag unerfreulich, aber kein Zufall sein. Peter Sloterdijk
bezeichnete in seinem zeitdiagnostischen Werk „Zorn und Zeit“ einmal die
Empörung als „den Stoff, aus dem Republiken gemacht sind“. Der Urmythos
altabendländischer Demokratietradition, die Lucretia-Legende,
handelt von der Geburt der res publica
aus dem Geiste des Zorns. Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs,
Tarquinius Superbus junior, war auf die Reize der jungen römischen Dame
Lucretia aufmerksam geworden. Als der Thronerbe sie schließlich erpresst und
vergewaltigt, hält die junge Schönheit nicht still, sondern ruft ihre
Verwandten zusammen, um ihnen von der königlichen Entehrung zu berichten, und
erdolcht sich schließlich vor den Augen der Versammelten. Eine beispiellose
Welle der Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der
Römer in eine revolutionäre Menge. Die Monarchie wird gestürzt, an ihre Stelle
tritt eine frisch geborene, noch vom Zorn erregte Republik.
Auch wenn sich dieser Zorn bisweilen eher in
blinder Wut und brutalen Ressentiments äußert, darf man den erwachenden
Souverän deswegen nicht in das moralische Abseits stellen. Vielmehr muss seinen
aufkeimenden Zorn ernst nehmen und in ressentimentferne,
demokratisch-pluralistische Bahnen lenken. Es geht darum in der
Re-Politisierung des Staatsvolks endlich wieder das zu sehen, was es abseits
seiner radikalen Auswürfe darstellt: Das Auferstehen des Souveräns aus
jahrzehntelanger politischer Lethargie. Dies Aufbegehren ist nicht zu fürchten.
Man muss den ausbrechenden Zorn der Bürger nur als Wille zu republikanischer
Selbstherrschaft begreifen – trotz aller rechtspopulistischer
Widerwärtigkeiten. Man kommt nicht daran vorbei, das Verwalten zu beenden und
endlich wieder mit dem Denken zu beginnen. Der Bruch mit dem vorherrschenden
Fortschrittsdogma und seiner expertokratischen Ummantelung liegt auf der Hand.
Statt es zu betrauern, gilt es, wie Jürgen Habermas nach dem Brexit forderte,
„wieder in Alternativen zu denken“. Das ist nicht mehr und nicht weniger als
die Wiederbelebung der Republik.
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