Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 07.11.16 |
von Michael Lausberg
In der letzten Zeit wurde die ohnehin angeschlagene
Demokratie in Ungarn weiter beschädigt. Die erzwungene Einstellung der
regierungskritischen Zeitung Népszabadság ist ein weiterer Schritt zur
Abschaffung der Pressefreiheit in Ungarn. Ministerpräsident Orban versucht weiterhin
mit seiner rechten Hetze gegen Immigranten und die Flüchtlingspolitik der EU
vor allem von den wachsenden sozialen Spannungen im eigenen Land abzulenken.
Am 23.10.
sprach der ungarische Premier Viktor Orban auf dem offiziellen Festakt vor dem
Budapester Parlament zu mehreren Tausend Anhängern seiner Fidesz-Partei
aufgrund des Aufstandes in Ungarn vor 60 Jahren. Diese mutierte zu einer
nationalistischen Hetztirade gegen Flüchtlinge und Muslime. Wie zahlreiche
andere ungarische Politiker stellte Orban die Revolution von 1956, die von
sowjetischen Truppen blutig unterdrückt wurde, als antikommunistischen Aufstand
„für Demokratie und Nation“ dar. In Wahrheit war er der tragisch gescheiterte
Versuch ungarischer Sozialisten, die herrschende stalinistische Bürokratie zu
stürzen und eine menschlichere sozialistische Gesellschaft zu errichten.
Mit
nationalistischem Pathos beschwor er den „Freiheitskampf der Ungarn“ und zog
eine Linie vom Kampf des christlichen Ungarns gegen die Osmanen zur „Invasion“
der Flüchtlinge im vergangenen Jahr. Passagenweise erinnerte die Ansprache an
die Propaganda des faschistischen Horthy-Regimes: „Wir haben uns für unsere
eigenen Kinder anstatt für Einwanderer entschieden. Wir sind für
Grenzverteidigung statt für erhobene Hände“.
Die
Europäische Union, der Ungarn seit 2004 angehört, griff Orban auch heftig an.
Er sei gegen ein Europa, das in „Lethargie und Illusionen gefangen ist“,
während Ungarn „den Weg des Mutes“ beschreite und sich den neuen
Herausforderungen stelle. Er warf der EU vor, sie werde von „verblendeten
Eliten“ geführt und verhalte sich wie einst die Sowjetunion: „Menschen, die
ihre Freiheit lieben, müssen Brüssel vor der Sowjetisierung bewahren; vor
Menschen, die uns sagen wollen, wie wir in unseren Ländern zu leben hätten“ (…)
Es gibt kein freies Europa ohne Nationalstaaten und die jahrtausendealten
christlichen Weisheiten.“
Einziger
ausländischer Staatschef auf der zentralen Gedenkveranstaltung war Polens
rechtskonservativer Präsident Andrzey Duda. Er sicherte Ungarn seine
Unterstützung in der Flüchtlingsfrage zu: „Ihr könnt auf Polen zählen, wir
stehen in den schwierigsten Zeiten zusammen“.
Orban hat
auch in Deutschland hochrangige Unterstützer. So lud ihn der bayrische
Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) am 17. Oktober ein, vor dem bayrischen
Landtag zum Ungarnaufstand zu sprechen. Dort bezeichnete Orban die Grenzöffnung
von 1989 und die heutige Abschottung der ungarischen Grenze gegen Flüchtlinge
als „zwei Seiten einer Medaille“. In beiden Fällen gehe es um den „Schutz der
Freiheit“. 1989 hätten die Ungarn die Grenzen für die Freiheit öffnen müssen,
heute müsse Ungarn die Grenzen schließen, um die Freiheit zu bewahren. Die
Grenzschließung für Flüchtlinge sei eine „Pflicht“. Am 25-10. sprach der
sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) in seiner Eigenschaft als
Bundesratspräsident auf einer Gedenkveranstaltung des ungarischen Parlaments.
Obwohl am
Sonntag ein riesiges Polizeiaufgebot den offiziellen Festakt in Budapest
schützte, gab es eine Gegendemonstration. Mehrere Hunderte Anhänger der
liberalen Opposition riefen „Diktator, Diktator“ und pfiffen Orban aus.
Teilweise kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Regierungsanhängern und
Protestierenden. Zu dem Protest aufgerufen hatte die Partei Együtt (Gemeinsam),
ein Spaltungsprodukt der jahrelang regierenden Sozialistischen Partei (MSZP).
Orban
versucht mit seiner rechten Hetze gegen Immigranten und die Flüchtlingspolitik
der EU vor allem von den wachsenden sozialen Spannungen im eigenen Land
abzulenken. Die UNICEF hatte bereits im letzten Jahr festgestellt, dass in
keinem anderen europäischen Land die Kinderarmut derart hoch ist. Jedes dritte
Kind in Ungarn lebe in gesundheitsgefährdenden Umständen, meldete das
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. 36 Prozent der ungarischen Bevölkerung
gelten nach EU-Maßstäben als arm, das sind 3,5 Millionen Menschen.
Einstellung einer regierungskritischen Zeitung
Die
erzwungene Einstellung der regierungskritischen Zeitung Népszabadság am 8.10. war ein weiterer Schritt zur Abschaffung
der Pressefreiheit und zum Aufbau autoritärer Strukturen in Ungarn. DieRegierung von Viktor Orban hat damit eine der
letzten Zeitungen zum Schweigen gebracht, die nicht ihre Linie vertrat.
Die
Mediaworks AG, die die Népszabadság
verlegte, begründete die Einstellung offiziell mit den angeblich hohen
finanziellen Verlusten der Tageszeitung. In einer Mitteilung erklärte sie, alle
Aktivitäten der Redaktion seien vorläufig suspendiert worden, weil die Zeitung
trotz aller Sparbemühungen nicht rentabel geworden sei und in den vergangenen
zehn Jahren 74 Prozent ihrer Auflage verloren habe.
Doch die
handstreichartige Einstellung der Zeitung und deren politischen Hintergründe
deuten darauf hin, dass sie auf Druck aus höchsten Regierungskreisen erfolgte.
Mitglieder der Redaktion schrieben auf der Facebook-Seite des Blattes, auf die
sie weiterhin Zugriff hatten, von einem „Putsch“. Der stellvertretende
Chefredakteur Márton Gergely sagte dem österreichischen Standard, die
Redaktion sei aufgrund eines geplanten Umzugs in eine „fast perfekte Falle
getappt“. Ihre Mitglieder hätten „noch selbst all ihre Sachen zum Abtransport
in Schachteln gepackt“, bevor sie vom Stillegungsbeschluss überrascht wurden.
Népszabadság hatte
teilweise ausführlich über Skandale und Affären von Mitgliedern und Vertrauten
der Regierung berichtet. So befasste sie sich in jüngster Zeit mit dem
Korruptionsverdacht gegen den von der Regierungspartei Fidesz installierten
Chef der Zentralbank György Matolcsy.
Népszabadság, übersetzt Volksfreiheit, war die auflagenstärkste
Tageszeitung Ungarns. Sie war 1956 als Nachfolgerin der Szabad Nep, des Zentralorgans der stalinistischen Arbeiterpartei
Ungarns, gegründet worden. Als „oppositionell“ gilt Népszabadság erst, seit die MSZP, die das Land seit der Wende
mit einer Unterbrechung von vier Jahren fast zwei Jahrzehnte regiert hatte,
aufgrund ihrer neoliberalen Politik und mehrerer Korruptionsskandale
vollständig aus der Regierung ausschied. Nun schwang sich Orban zum starken
Mann des Landes auf.
Orbans autoritäres Mediengesetz
Um seine
Herrschaft zu sichern, brachte Orban die Medien systematisch unter seine
Kontrolle. Bereits Ende 2010, unmittelbar nach ihrer Regierungsübernahme,
brachte Fidesz die öffentlich-rechtlichen Medien mithilfe eines neuen
Mediengesetzes unter seinen Einfluss. Über einen staatlichen Medienrat, der aus
Parteigängern und Vertrauten von Regierungschef Orban besteht, übt die seither
eine weitgehende Kontrolle über Zeitungen, Fernsehen und Internetpublikationen
aus. Der Medienrat verfügt über eine große Palette autoritärer Befugnisse, die
von Zensur über die Vorgabe von Inhalten bis zur Verhängung ruinöser
Geldstrafen reicht.
Um auch die
privaten Medien vollständig zu beherrschen, verabschiedete die Regierung 2014
ein Gesetz über eine sogenannte Werbesteuer für Medien, mit dem sie kritische
Medien gezielt in den Ruin treiben kann. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die
Regierung auch direkt auf die Einstellung von Népszabadság hinwirkte.
Das Blatt
gehörte zuletzt der 2014 gegründeten Medienholding Mediaworks, die in Ungarn
über 60 Medienprodukte vertreibt. Mediaworks wiederum wird von der
österreichischen Investmentfirma Vienna Capital Partners (VCP) kontrolliert,
deren Besitzer Heinrich Pecina Geschäftspartner des bekannten ungarischen
Medienmoguls Zoltàn Speder ist. Vor kurzem erwarb Mediaworks den ungarischen
Verlag Pannon Lapok Társasága, dessen Übernahme ihr bisher aus
wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagt worden war. Kenner der
Medienlandschaft sind überzeugt, dass die Regierung grünes Licht für die
Übernahme gab, um im Gegenzug die Einstellung von Népszabadság zu erwirken.
In einem
Fernsehinterview deutete der stellvertretende Fidesz-Vorsitzende Szilárd Németh
unverblümt an, dass die Schließung politisch erwünscht war. Es sei höchste
Zeit, dass die Zeitung geschlossen worden sei, sagte Nemeth. Sie habe sich
immer noch wie ihre kommunistische Vorgängerin Szabad Nép verhalten.
Ende letzter
Woche wurde bekannt, dass auch die als linksliberal geltende ungarische
Tageszeitung Nepszava verkauft
worden ist. Obwohl es noch keine öffentlichen Erklärungen dazu gibt, gilt es
als wahrscheinlich, dass der neue Eigentümer, die Schweizer Gruppe Marquard
Media, die in Ungarn vor allem Lifestyle-Zeitschriften herausgibt, die Zeitung
nicht wie bisher weiterführen wird.
Mittlerweile
befinden sich fast alle Medien unter dem Einfluss der Regierung. Eine jüngst
von Democracy Reporting International erstellte Aufstellung zeigt, dass der
staatliche Sender M1 während der Kampagne für das Flüchtlingsreferendum, das
schließlich an der hohen Zahl von Enthaltungen scheiterte, in 95 Prozent seiner
Sendungen die Position der Regierung unterstützte.
Unmittelbar
nach Bekanntwerden der Einstellung von Népszabadság
demonstrierten in Budapest Tausende dagegen. Auch die Europäische Union äußerte
Kritik, ohne dass dies praktische Folgen gehabt hätte. Der Präsident des
EU-Parlamentes, Martin Schulz, twitterte: „Die plötzliche Einstellung der Népszabadságstellt eine
beängstigende Präzedenz dar. Ich stehe in Solidarität mit den Ungarn, die heute
protestieren.“
Flüchtlingsreferendum mit sehr hohen Zustimmungsraten
Mit Hilfe seiner Medienmacht
trommelte Orban auch für sein Referendum zur Verteilung von Flüchtlingen
innerhalb der EU. Das vor kurzem durchgeführte Referendum war zwar ungültig,
bedeutete aber eine Zustimmung zu Orbans Politik der Flüchtlingsabwehr. Laut
Angaben der ungarischen Wahlbehörde nahmen an der Abstimmung am Sonntag nur
39,9 Prozent statt der erforderlichen 50 Prozent der 8,3 Millionen
Wahlberechtigten teil. Nach Auszählung fast aller abgegebenen Stimmen votierten
98,3 Prozent für die Position der rechten Fidesz-Regierung und gegen von der EU
vorgegebene Flüchtlingskontingente.
Auch bei einem Erfolg hätte das Referendum keine
unmittelbaren juristischen Auswirkungen gehabt. Hintergrund war ein
EU-Beschluss aus dem letzten Jahr, wonach einmalig 160.000 Flüchtlinge auf die
Mitgliedsstaaten verteilt werden sollen, 1300 davon nach Ungarn. Die Regierung
Orban hat zusammen mit der slowakischen Regierung gegen die EU-Quote vor dem
Europäischen Gerichtshof geklagt, jedoch offiziell erklärt, den Ausgang
abzuwarten und die rechtskräftige Entscheidung zu akzeptieren.
Um mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten zu
mobilisieren, stützte sich Orbans Regierungspartei Fidesz auf ihren gesamten
Apparat. Gemeindebedienstete und Ministerialbeamte wurden verpflichtet nach
einer vorgegebenen Liste Wahlberechtigte anzurufen und zur Teilnahme am
„vaterländischen Akt“ zu überreden. Ärmeren Gemeinden wurde die Streichung der
Sozialhilfen angedroht, sollte das Referendum scheitern und Ungarn die
Flüchtlingsquoten erfüllen müssen.
Das ungarische Referendum ist der widerwärtige
Höhepunkt einer politischen Kampagne, die Orbán bereits seit längerem führt.
Die ungarische Regierung ist Vorreiter in der EU, wenn es darum geht,
Flüchtlinge, die vor den verheerenden Folgen von Krieg und Zerstörung fliehen,
abzuwehren. Dazu hat Orban einen Zaun an der Grenze zu Serbien errichten lassen
und die Asylgesetzgebung drastisch verschärft. Amnesty International und Human
Rights Watch machen regelmäßig auf massive Menschenrechtsverletzungen der
Flüchtlinge in Ungarn und im Grenzgebiet aufmerksam.
Gegenwärtig
baut Ungarn einen neuen Zaun an der Grenze zu Serbien, um Flüchtlinge auf der
so genannten Balkanroute am Grenzübertritt zu hindern. Ungarische Medien
berichteten, es würden momentan verschiedene Bauarten getestet, bevor der
endgültige Bau in Kürze beginnt. Im letzten Jahr hatte Ungarn damit begonnen,
175 Kilometer lange Stacheldrahtzäune an der Grenze zu Serbien und Kroatien zu
installieren.
Kommentar zum Text von Michael Lausberg: „Ungarn: Nationalismus und
Autoritatismus auf dem Vormarsch“ Der Aussage ist zu widersprechen, die da lautet: „In Wahrheit war er
[der Aufstand] der tragisch gescheiterte Versuch ungarischer
Sozialisten, die herrschende stalinistische Bürokratie zu stürzen und
eine menschlichere sozialistische Gesellschaft zu errichten.“Vielleicht
verwechselt Herr Lausberg die ungarische Revolution von 1956 mit dem
Prager Frühling von 1968, auf den diese Interpretation zuträfe.In
Budapest protestierten aber am 23.10.1956 Studenten (und nicht die
Partei) gegen die Besatzung („Rote Armee nach Hause“), das Regime
(„Weder Rákosi noch Horthy“) und das Wirtschaftssystem. Ich verweise nur
auf die 14 Punkte der Studenten, zu lesen auf S. 127f. von Peter
Gosztonys „Der Ungarische Volksaufstand in Augenzeugenberichten“,
Düsseldorf 1967, und in unzähligen anderen Publikationen. Außerdem hat
mein Vater die Revolution miterlebt.Wenn
Herr Lausberg meint, die Revolution von 1956 sei nicht
antikommunistisch, demokratisch und national gewesen (nur um Orbán und
„zahlreichen anderen ungarischen Politikern“ nicht recht zu geben), so
kann er das persönlich zwar glauben, doch diese offenkundig historisch
sachlich falsche Behauptung sollte er nicht unkommentiert in TABULA RASA
publizieren dürfen.Nochmals
und deutlich: Herr Lausberg kann seine Orbánophobie austoben wie er
will, aber ein Herausgeber muss sachlich eindeutig falsche Behauptungen,
wenn sie schon die redaktionelle Kontrolle umgangen haben und gedruckt
werden, m. E. wenigstens kommentieren, wenn er nicht Desinformation
fördern will. Ich muss sagen, dass ich sprachlos war, dass anno 2016 die
ungarischen Ereignisse von 1956 von einem deutschen Historiker als
„sozialistisch“ gedeutet werden. Ist das jetzt auch schon
„postfaktisch“?
Prof. Adorján Kovács
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