Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
Rainer M. Holm-Hadulla Leidenschaft Goethes Weg zur Kreativität. Eine Psychobiografie Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (September 2008) 266 Seiten, Taschenbuch ISBN-10: 3525404093 ISBN-13: 978-3525404096 Preis: 19,90 EURO
von Heike Geilen
"Nichts gibt uns
mehr Aufschluss über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von
uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so dass wir uns selbst nunmehr als
Gegenstand betrachten können" (Goethes Werk, Hamburger Ausgabe, Hrsg.
v. Erich Trunz)
Unzählige Biografien und Abhandlungen sind über ihn verfasst
worden. In der Schule gehören er und seine bedeutendsten Werke zum
Standardrepertoire des Deutschunterrichts. Und erst jüngst hat sich ein
bedeutender deutscher Schriftsteller in seinem Roman der letzen Liebe von ihm
angenommen. Die Rede ist von Johann Wolfgang von Goethe.
Der Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla nähert sich dem bedeutendsten
deutschen Dichter von einer ganz persönlichen Seite. Denn der Geheimrat war
nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Poet und ein einflussreicher
Politiker, sondern während seines ganzen Lebens ebenso ein Suchender, Irrender
und Leidender. "Goethes Leben war
steinig und von vielfältigen Krisen erschüttert.", beginnt der Autor
seine Psychobiografie.
Was Goethe dennoch zu einem Herausragenden werden ließ, war
offensichtlich seine besondere Fähigkeit, "seelische Leiden auszuhalten und zu kreativer Entwicklung zu nutzen."
Nun hat eine Beschäftigung mit ihm und seinen Werken -
geprägt durch den nicht immer optimal vermittelten Schulstoff - leider immer
etwas Trockenes und Verstaubtes an sich. Doch Rainer M. Holm-Hadulla hat ein
überaus interessantes und vor allem lesenswertes Buch geschrieben, das durchaus
allgemeingültigen Charakter aufweist. Auch wenn mittlerweile über 200 Jahre
vergangen sind, so kann es für den modernen Leser von heute gleichfalls überaus
inspirierend sein, zu erfahren, auf welche Art und Weise Goethe aus
Leidenschaften schöpferische Impulse gewann: "Menschen des 21. Jahrhunderts können in Goethes Leben und Werk wichtige
Anhaltspunkte für ihre eigene kreative Entwicklung und Lebenskunst finden.",
so der Autor, "Die psychologische
Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk ist deswegen so interessant, weil er
seine persönliche Entwicklung und seine Krisen in einzigartiger Weise
beschreiben konnte. Zudem hat er wirksame Bewältigungsstrategien von
psychischen Konflikten entwickelt, weswegen die Beschäftigung mit Goethes
Leidenschaften auch von lebenspraktischer Bedeutung ist."
Ein Akt des
Verstehens
In drei Teile hat Holm-Hadulla seine Psychobiografie
gegliedert.
Zunächst entwickelt der Autor allgemein bedeutsame
Einsichten bezüglich Goethes Leben und Werk, wobei er das Augenmerk auf dessen
leidenschaftliches Streben nach einem schöpferischen Leben legt, beginnend mit
seiner komplizierten Geburt am 28. August 1749, seinen Jugendjahren in
Frankfurt, seiner nicht ganz einfachen Studentenzeit in Leipzig, bis hin zu den
Weimarer Jahren, seiner Freundschaft mit Schiller, der Italienreise und letztendlich
Alter und Abschied. Die ihn umgebenden Frauen wie Gretchen, Käthchen Schönkopf,
Friederike Brion, Charlotte Buff, Frau von Stein, Christiane Vulpius, Marianne
Willemer oder Ulrike Levetzow erhalten dabei besondere Beachtung. Sie sind es
vor allem, die zum Projektionsschirm für Gefühle und Ideen werden. "Er spiegelt sich in ihnen, nimmt die
Empfindungen seiner Geliebten auf und kehrt bereichert zu sich zurück [oder]
zieht schöpferische Energie aus Enttäuschung und Zurückweisung".
Der zweite Teil des Buches befasst sich zunächst mit der
Darstellung von Goethes Auffassung des Lebens als schöpferische
Selbstverwirklichung, bevor der Autor dessen Leben und Werk unter den
Gesichtspunkten der modernen Kreativitätsforschung betrachtet, um im Anschluss
daran die Frage zu klären, ob Goethe - wie immer wieder behauptet wird -
psychisch krank oder gestört gewesen sei.
Teil 3 und zugleich "Schlussplädoyer" ist eine
zusammenfassende Interpretation von Goethes Gedicht "Vermächtnis."
Holm-Hadulla betrachtet zwar Goethes Weg unter
psychologischen Gesichtspunkten, legt den Akzent jedoch nicht auf eine
detektivische Suche nach Problemen und Störungen, sondern versucht, die
Umstände zu erforschen, die zu einem produktiven und kreativen Leben führten. Dies
ist ihm ausgezeichnet gelungen.
"Wir erfahren uns und die uns umgebende Welt im Akt
des Verstehens. Nur durch das Verstehen finden wir einen Halt in einer
chaotischen Welt von Eindrücken und Erlebnissen. Aus der verständnisvollen
Begegnung mit Personen, Erfahrungen und Texten entsteht etwas Neues, das den
Horizont erweitert und Orientierung verleiht. Verstehen ist dabei mehr als die
rein gedankliche Strukturierung von Erfahrungen. Es ist eine umfassende
Bewegung, die sinnliche und praktische Erlebnisse umgreift und in der Menschen
erst zu dem werden, was sie wirklich sind oder sein können."
Fazit:
Das beständige Ringen um die Lebendigkeit des eigenen Selbst
kann als Leitmotiv über Goethes gesamtem Leben stehen. Das Bedürfnis, äußere
Ereignisse in einen Zusammenhang mit seinen inneren Erfahrungen zu bringen, dürfte
wiederum der rote Faden sein, der jenes und sein Werk durchzieht.
Rainer M. Holm-Hadulla hat mit der vorliegenden
Psychobiografie ein interessantes, äußerst lesenswertes und
allgemeinverständliches, auf den Erkenntnissen der modernen Psychologie
basierendes Buch über den großen deutschen Dichter geschrieben, das durchaus allgemeingültige
Aussagekraft besitzt.
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