Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt "Frankfurt - Weimar - Bonn - Berlin, Deutschlands Weg zur Demokratie" aus Anlass des 160. Jahrestages der ersten deutschen Verfassung
von Horst Köhler
Ich freue mich über diese Feier. Sie erinnert uns daran, wie tief unsere
freiheitliche Demokratie in der deutschen Geschichte wurzelt. Seit 1848 ist die
Forderung nach gleicher politischer Teilhabe, nach Grundrechten und nach
Rechtsstaatlichkeit in Deutschland nie mehr verstummt, bis alles das 1949 und
1989 erreicht war. Seit hier in der Paulskirche die "Verfassung des
deutschen Reiches" beschlossen wurde und tags darauf in Kraft trat, konnte
sich politische Herrschaft in Deutschland nie mehr nur auf Traditionen und Vorrechte
berufen - von da an musste sie sich verfassungsrechtlich und in allgemeinen
Wahlen rechtfertigen. Mit der Paulskirchenverfassung haben die Deutschen
zugleich einen eigenen guten Beitrag zur Freiheitsgeschichte des 19.
Jahrhunderts geschrieben. Auch wenn die Ideen von 1848 bei uns leider erst nach
dem Zweiten Weltkrieg ganz entfaltet und dauerhaft verwirklicht worden sind -
sie zählen zum Kern unserer demokratischen Tradition und unseres
Selbstverständnisses als Staatsnation. Darum spornt die Rückbesinnung auf das
damals Geleistete zugleich an, zu prüfen, wie es heute um unsere demokratische
Ordnung bestellt ist und vor welchen Aufgaben sie heute steht.
Die Revolution von 1848 hat ihre Vorgeschichte, sie hat ihre eigene
Geschichte, und sie ist selbst zur Vorgeschichte geworden für die hundert Jahre
zwischen 1849 und 1949.
Zur Vorgeschichte der Revolution gehört das nach dem Sieg über Napoleon
gegebene Versprechen der deutschen Fürsten, in ihren Staaten Verfassungen und
geordnete Mitsprache der Bürger zuzulassen. Dieses Versprechen haben viele von
ihnen gebrochen oder seine Erfüllung verschleppt und sogar rückgängig gemacht.
Stattdessen wurde jahrzehntelang die Meinungsfreiheit geknebelt, die Presse
zensiert und jede kritische Regung bespitzelt, kujoniert und bestraft.
Zehntausende Menschen wurden eingesperrt oder ins Exil getrieben. Es war kein
Trost, dass fast überall in Europa ähnliche Friedhofsruhe herrschte.
Aber die Bürger ließen sich auf Dauer weder mundtot machen noch unmündig
halten. Ihr Aufbruch bahnte sich auf vielen Wegen an, vor allem auch über eine
Leserevolution (Thomas Nipperdey). Die Buchproduktion stieg rasant, und die
Deutschen wurden zu einem Volk von Zeitungslesern. Die Nachrichtenpresse,
beschleunigt durch die eben erst entstandenen Telegrafenlinien, stiftete ein
neues Zeit- und Lebensgefühl, weniger gemächlich, mit weiterem Horizont und
mehr Sinn für Veränderung. Auch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn ließ die
Staaten und Regionen zusammenrücken. Das immer dichter werdende Schienennetz
schuf neue Umschlagplätze für Waren, Informationen und Meinungen und erzwang
für die nötigen Großinvestitionen neue Unternehmensformen wie die
Aktiengesellschaft.
Zugleich verschärften sich die sozialen Probleme. Deutschland lebte zwar
noch am Vorabend der industriellen Revolution, aber die Bevölkerung wuchs
sprunghaft, und auskömmliche Arbeit fehlte; die überlegene Konkurrenz der
britischen Textilindustrie stürzte die Weber und verwandte Berufsgruppen ins
Elend; die Ausbeutung von Frauen und Kindern als billigste Arbeitskräfte
drückte die Löhne der Männer; und viele Bauern, vor allem in Preußen, waren zu
Landarbeitern für adlige Großgrundbesitzer verarmt oder kämpften mit
Missernten, gerade in den Jahren vor der Revolution. Es herrschten also Unfreiheit,
ein rapider technischer und wirtschaftlicher Wandel und massenhaftes Elend, und
die Menschen machten für alles das nicht länger Gott oder die Natur
verantwortlich, sondern die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und
vor allem die Fürsten und ihren Anhang in Militär und Verwaltung.
Die aber setzten der Forderung nach Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit
bornierten Standesdünkel entgegen, militärische Gewalt und den Befehl, der
Untertan möge gefälligst an die Handlungen der Obrigkeit nicht "den
Maßstab seiner beschränkten Einsicht" anlegen.
In dieses Pulverfass fiel der Funke der Pariser Februarrevolution. Er löste
in den europäischen Hauptstädten eine Kette von Revolutionen aus. Europa
erlebte klimatisch den wärmsten März seit langem und politisch einen wahren
"Völkerfrühling". Es gab sogar eine Reihe großer europäischer
Friedenskongresse. Auf einem davon hat Victor Hugo 1849 das Wort von den
"Vereinigten Staaten von Europa" geprägt. Für einen Wimpernschlag der
Geschichte schien vielen selbst diese Vision in greifbare Nähe gerückt. Wir
sind da heute wieder kleinmütiger geworden.
Deutschland erlebte die Märztage als Fest der Freiheit. Überall bildeten
sich in Windeseile politische Clubs und Parteiungen; die Straßen und Plätze
gehörten den Bürgerversammlungen und Volksrednern; und die Stadträte und
Landtage wurden mit Petitionen für die langersehnte politische Neuordnung
überhäuft. Quer durch alle Schichten ergriffen die Menschen Partei für die
Revolution und forderten Freiheit, Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit.
Dabei kam es immer wieder zu blutigen Kämpfen. Auf einem revolutionären
Flugblatt hier in Frankfurt hieß es im März '48, es sei "bei Schlagdrauf
und Hilfdirselbst" gedruckt. Aber den Weg zu "Schlagdrauf und Hilfdirselbst"
ist nur eine Minderheit gegangen. Die große Mehrheit setzte auf gute Argumente
und auf Rechtlichkeit.
Das Herz dieses Vertrauens auf Rechtlichkeit und gute Argumente schlug in
der Paulskirche. Die deutsche Nationalversammlung hat unter schwierigsten
außen- und innenpolitischen Bedingungen ein Verfassungswerk geschaffen, das zu
den modernsten seiner Zeit zählte. An viele seiner Grundentscheidungen hat 100
Jahre später der Parlamentarische Rat für das Grundgesetz angeknüpft.
Der Paulskirche sind später mancherlei Vorwürfe gemacht worden: Sie sei ein
weltfremdes und doktrinäres Professorenparlament gewesen und habe die
politischen Prioritäten verkannt, als sie zuerst "die Grundrechte des
deutschen Volkes" beschloss und erst ein Vierteljahr später die Reichsverfassung.
Was die Weltfremdheit betrifft: Der Paulskirche und erst recht ihrem
Verfassungsausschuss gehörten ganz im Gegenteil viele Mitglieder an, die in
Verwaltung und Justiz besonders erfahren waren. Hinzu kamen beste Köpfe aus
Wissenschaft und Wirtschaft, und von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten
wird berichtet, sie hätten sich aus vergleichsweise einfachen Verhältnissen
hochgearbeitet - was auch nicht nach Weltfremdheit klingt. Was den angeblichen
Doktrinarismus anlangt: Da sprechen die Verhandlungsprotokolle und die
erreichten Kompromisse eine entschieden andere Sprache. Und die teilweise
Vorabverkündung der Grundrechte noch vor der Reichsverfassung hatte auch ihren
guten Sinn: Die Nationalversammlung setzte damit einen verbindlichen
Grundrechtsstandard für alle deutschen Einzelstaaten, der die bundesweite
Demokratisierung entschieden vorantrieb. Daraus kann zugleich die Überzeugung
abgelesen werden, gerade die Durchsetzung der Freiheit werde auch die Einheit
bringen.
Die Grundrechte der Paulskirchenverfassung gelten mit Recht als ihr
wichtigster Beitrag zur deutschen Verfassungsentwicklung. Sie sollten die
einfache Gesetzgebung binden und tendenziell auch die Verwaltung und die
Gerichte, und sie sollten auf dem Klagewege durchsetzbar sein - alles das ist
uns heute vertraut, und die nach der Paulskirchenverfassung vorgesehene
Grundrechtsklage zum Reichsgericht lässt sich als eine Art Vorläufer der
heutigen Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht deuten.
Die Verfassungsväter sprachen bewusst von Grundrechten statt von Bürger-
oder Menschenrechten. Sie wollten Anklänge an ausländische Verfassungsbegriffe
vermeiden, weil sie eine den deutschen Zuständen möglichst angemessene Lösung
erstrebten. Darum verknüpften sie im Abschnitt über die Grundrechte ganz
Unterschiedliches: persönliche Freiheitsrechte wie die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit, politische und soziale Teilhaberechte wie gleiches
Bürgerrecht, den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern und den Anspruch auf
Schulunterricht, politische Grundentscheidungen wie die Aufhebung des
Adelsstands mit seinen Vorrechten und institutionelle Gewährleistungen wie die
Freiheit der Presse und die kommunale Selbstverwaltung. Alle Grundrechte
zusammengenommen und ein für damalige Verhältnisse bahnbrechend demokratisches
Wahlgesetz sollten die Interessen und die Kräfte der "Staatsgenossen"
am Gemeinwohl orientieren und sie zugleich allesamt davon profitieren lassen.
Es ging weniger um die Abwehr des Staates als vielmehr um seinen gemeinsamen Aufbau,
um die Teilhabe aller daran und um seine rechtsstaatliche Mäßigung. Der
einzelne Bürger wurde als Individuum und zugleich als Mitglied zahlreicher
Lebenskreise verstanden. In denen sollte er seine Freiheit leben, und vom guten
und tätigen Miteinander all dieser Lebenskreise und dem Widerspiel der
Grundrechtsausübung erwartete man sich die Läuterung der Egoismen und
Gruppeninteressen und im Ergebnis die Förderung des Allgemeinwohls. Das mag uns
im Rückblick idealistisch vorkommen, aber um einen vernünftigen Ausgleich
zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl ringen wir bis heute und werden wir
immer ringen.
Für dieses eher kooperative und staatsorientierte Verständnis der
Grundrechte hatten naturgemäß die örtlichen Gemeinschaften in den Gemeinden und
Städten besondere Bedeutung. Die waren damals meist noch klein und
überschaubar, man kannte einander und war vielfältig aufeinander angewiesen.
Die Paulskirchenverfassung gewährte den Gemeinden Selbstverwaltung, als
Freiraum für ihren eigenständigen Beitrag zum Staatsaufbau. Der Deutsche
Städtetag hat 2003 in seiner Schriftenreihe die Studie
"Städtefeindlichkeit in der deutschen Geschichte" veröffentlicht -
die Paulskirchenverfassung ist darin als leuchtende Ausnahme vermerkt.
Es ist faszinierend, wie stark die Abgeordneten für das staatliche
Aufbauwerk auf Bildung und auf den gleichen Zugang zu Bildungschancen setzten.
"Verfassung und Gesetz sind leere Worte für ein Volk ohne Bildung",
hieß es zur Begründung. Die Frankfurter Reichsverfassung schrieb ein flächendeckendes
öffentliches Schulwesen vor und machte die darin beschäftigten Lehrer zu
Staatsdienern - bis dahin hatten viele Volksschullehrer ihr Dasein nur durch
Nebentätigkeit als Küster, Gartenarbeiter oder Kleinhändler fristen können. Der
Besuch der Volksschulen und niederen Gewerbeschulen sollte kein Schulgeld mehr
kosten, und begabten Kindern armer Leute sollte auch auf den höheren Schulen
freier Unterricht gewährt werden. Dabei verstand man übrigens das gesamte
Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Universität als organisches Ganzes, und
es sollte mit unterschiedlichen Erziehungsmethoden experimentiert werden
dürfen. Das mutet ausgesprochen modern an. Fragt sich: Haben wir heute alles
verwirklicht, wonach die Achtundvierziger strebten, und entwickelt sich unser Bildungswesen
in die richtige Richtung?
Bildung und Wissenschaft sollten dem politischen Aufstieg Deutschlands
dienen, und politische Bildung der guten Steuerung des Landes: Die Pressezensur
wurde kategorisch abgeschafft, weil eine freie Presse als unerlässlich für die
politische Freiheit verstanden wurde. Damit nicht genug: Auch sämtliche
Konzessionen und Sonderlasten bei Druckerzeugnissen wurden verboten, um die
Tagespresse nicht "in die Hand der Reichen zu legen" und um die
Versorgung der ländlichen Gebiete und der einfachen Leute mit preiswerten
Zeitungen und Büchern zu erleichtern. Es gehe darum, so hieß es in den
Beratungen, "die geistige und politische Bildung (...) und Freiheit des
Volkes zu fördern". Auch damit bewies die Paulskirche Weitsicht.
Die Nationalversammlung nahm sich nicht nur mit der Schulfreiheit der
sozialen Gerechtigkeit an. Am meisten tat dafür die Abschaffung der drückenden
Adelsvorrechte. Schon allein das feudale Jagdprivileg auf fremdem Boden
gefährdete die Lebensgrundlagen der Bauern durch ungeheure Ernteschäden. Die
Unteilbarkeit des Großgrundbesitzes wurde als eine der Hauptursachen des
ländlichen Pauperismus betrachtet und beseitigt - das ländliche Proletariat
sollte sich endlich mit Fleiß und Sparsamkeit Grundeigentum erwerben
können. Und die auf dem Grund und Boden haftenden Abgaben und
Leistungspflichten wie etwa der sogenannte "Zehnte" wurden gegen
Entschädigung der meist adligen Nutznießer endgültig abgelöst. Auch die Steuer-
und Gerichtsprivilegien des Adels wurden abgeschafft.
Die Paulskirche hat darüber hinaus in Zusammenhang mit den Regelungen über
die Berufsfreiheit und Steuergerechtigkeit schon intensiv über Arbeitsschutz
und Wettbewerbsrecht, über soziale Grundrechte und über eine staatliche
Konjunktur- und Beschäftigungspolitik debattiert. Auch das war wegweisend, und
bei der Beratung einer gesetzlichen Gewerbeordnung wurde aus der Mitte des
Parlaments heraus sogar ein Entwurf erarbeitet, der ein frühes Modell für
betriebliche Mitbestimmung enthielt, das wenig später in der Textilindustrie
mit großem Erfolg praktiziert worden ist - leider ohne nachhaltig Schule zu
machen. Auch diese Anfänge unseres sozialen Bundesstaates und der Sozialen
Marktwirtschaft verdienen, im Gedächtnis und in Ehren gehalten zu werden.
Allerdings, die Paulskirchenverfassung war auch ein Kind ihrer Zeit. Von der
politischen Gleichberechtigung der Frauen zum Beispiel weiß sie noch nichts.
Sie sah auch noch keine parlamentarische Demokratie vor, also die Abhängigkeit
der Regierung von der Wahl oder der Bestätigung durch das Parlament.
Stattdessen sollte das Staatsoberhaupt, der Kaiser, die Regierung ernennen und
jederzeit das Parlament auflösen dürfen, während dieses die Regierung nicht
stürzen konnte, sondern lediglich Gesetzgebungsbefugnisse und das Budgetrecht
hatte.
Die Frankfurter Reichsverfassung war auch da Ausdruck eines
Gesamtkompromisses der damaligen großen politischen Strömungen des Landes. Sie
entsprach zugleich gewiss dem Willen des Volkes. Drei Viertel der deutschen
Staaten haben sie anerkannt, und sie ist die bisher einzige deutsche
Verfassung, für deren Geltung breite Bevölkerungskreise gekämpft haben. Dieser
Kampf gegen Wien und Berlin war von Anfang an aussichtslos. Dennoch bleibt die
Frage: Welche Entwicklung Deutschland wohl unter der Paulskirchenverfassung
genommen hätte?
Wir wissen nur, welchen Weg Deutschland ohne sie genommen hat, wie das
Scheitern der Revolution zur Vorgeschichte der folgenden hundert Jahre wurde.
Das kann hier nur holzschnittartig gezeigt werden, aber gezeigt werden muss es.
Zwar, die Paulskirchenverfassung vergaß sich nicht mehr, sie wurde in manchen
deutschen Staaten selbst nach der ausdrücklichen Aufhebung der Grundrechte
durch den Deutschen Bund noch verteidigt, zum Beispiel indem ihre Ziele auf der
landesgesetzlichen Ebene weiterverfolgt wurden. Auch haben viele, die an den
Beratungen der Paulskirche teilgenommen hatten, später wieder politische
Verantwortung übernommen und ihr Gedankengut weitergetragen. Aber das war nur
ein schwacher Abglanz. Denn die Reaktion unterdrückte erneut massiv die
Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit, sie trieb Abertausende ins Exil
(Baden, Mecklenburg und Württemberg sollen damals fünf Prozent ihrer
Bevölkerung verloren haben!), sie führte statt des gleichen Wahlrechts das
Dreiklassenwahlrecht ein, sie behinderte mit ihren geretteten Privilegien in
der Gesetzgebung die Modernisierung und Liberalisierung nach Kräften, und sie
stellte die Rekrutierung des hohen staatlichen Führungspersonals um von
Adelsvorrecht auf Parteipatronage und auf neue Netzwerkerei der alten Cliquen.
Die Grundrechte der Frankfurter Reichsverfassung hatten keine Gelegenheit,
Deutschland mit ihrer unmittelbaren Geltung zu durchdringen und freiheitlich zu
prägen. Vielleicht wäre es ein anderes Land geworden? Stattdessen wurden die
Bürger aus der Politik abgedrängt. Bismarck borgte für die Verfassung des
Norddeutschen Bundes und für die Reichsverfassung von 1871 kräftig bei der
Paulskirche, aber er schwächte dabei die demokratische Dimension und die Rechte
des Parlaments und stärkte die Fürstensouveränität. "Mussamerikaner"
wie Friedrich Hecker und Carl Schurz fühlten sich denn auch bei späteren
Besuchen nicht mehr wohl hier. Die Einheit sei ja nur der Körper, meinte
Hecker, dieser aber entbehre noch seiner Seele, der Freiheit. Und Schurz fand,
nun sei zwar die Einheit gewonnen, aber die Freiheit sei vertagt. Die
siegreichen Feldzüge von 1864, 1866 und 1870/71 verliehen dem Militär und
seinen Führern einen Nimbus und eine Selbstgefälligkeit, die massiv zur
Militarisierung der ganzen Gesellschaft beitrugen. Und wenn schon in der
Paulskirche außenpolitisch so nationalistisch dahergeredet worden war, dass
Robert Blum warnte, da könne man ja gleich "der ganzen Welt den Krieg
erklären", dann gewöhnten sich die Bürger und ihre Abgeordneten nach 1871
erst recht nicht an selbstbewusste Bescheidenheit. Die deutschen Hochfeste und
Hausgötter hießen nun Sedanstag und Flottenprogramm und Platz an der Sonne. Den
politischen Parteien im Reichstag blieb es verwehrt, Regierungsverantwortung
einzuüben. Während die Fraktionen und Parteien, die sich in der Paulskirche zu
bilden begonnen hatten, noch den heilsamen Zwang zum Kompromiss empfanden und
beherzigten, pflegten die Reichstagsparteien mehr ihre ideologischen Grundsätze
und gegenseitigen Vorurteile. Zur parlamentarischen Demokratie wurde das
Deutsche Reich erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs, und das erwies sich als
Danaergeschenk, denn die alten Eliten traten ab, ohne Verantwortung für die
Katastrophe zu übernehmen, und bezichtigten anschließend die demokratischen
Parteien und Männer wie Ebert und Erzberger des Verrats. Die Deutschen hatten
nun eine Demokratie, aber mittlerweile mangelte es - anders als 1848! - an
Demokraten, und in der Weimarer Verfassung schuf man sich mit dem
Reichspräsidenten einen mächtigen Ersatzmonarchen. Wirklich, das Scheitern der
Paulskirchenverfassung hat einen langen Schatten geworfen!
Umso höher sollten wir zu schätzen wissen, was seit 1949 erreicht worden
ist. In unserer freiheitlichen Demokratie und in der alle Lebensbereiche
prägenden Geltung der Grundrechte sind die zentralen Bestrebungen von 1848
verwirklicht. Zugleich gewinnt unser Grundgesetz durch den Bezug auf die
Paulskirchenverfassung eine historische Tiefendimension, die umso beeindruckender
ist, weil wir ja wissen, dass die Verfassungsväter von 1849 auch ihrerseits an
viele freiheitliche Traditionen und Bestrebungen der deutschen Geschichte
angeknüpft haben. Und wahr ist auch: Alles das haben, bewusst oder unbewusst,
die Menschen in der DDR mitgewählt, mitgewollt, als sie der Einheit
Deutschlands in einer friedlichen Revolution Bahn brachen.
Wir sollten die Erinnerung an diese Vorgeschichte unserer Freiheit viel
stärker pflegen. Warum sind bei uns so wenige Straßen und Plätze nach den
Männern von 1848 benannt, nach Beseler und Gagern und Simson und Welcker, nach
Kinkel und Dahlmann und Unruh und Blum? Wann wird das Leben von Carl Schurz
verfilmt, das doch spannender war als mancher Roman? Und wann destilliert
jemand aus den damaligen Denkschriften, Verhandlungsprotokollen und
Flugblättern eine Quellensammlung, die sich den amerikanischen Federalist
Papers und Antifederalist Papers zur Seite stellen lässt?
Wir sollten auch ruhig einmal versuchen, unsere Verfassungswirklichkeit durch
die Augen der Achtundvierziger zu betrachten: Was würden sie zur Lage der
Kommunen und der kommunalen Selbstverwaltung sagen, zur Qualität von Presse,
Rundfunk und Fernsehen und zum Stand der politischen Bildung? Würden sie beim
Blick auf das Bund-Länder-Verhältnis womöglich auf viel stärkere
Kompetenzentflechtung drängen? Würden sie uns angesichts mancher Blockaden im
Bundesrat daran erinnern, dass die Paulskirchenverfassung den Vertretern der
Bundesstaaten ein freies Mandat gab wie das im amerikanischen Senat?
Die Beschäftigung mit der Revolution vor hundertundsechzig Jahren schärft
auch den Blick für die Herausforderungen, vor denen unsere Demokratie heute
steht. Damals drängten die Menschen zur demokratischen Teilhabe. Sie erwarteten
sich davon eine durchgreifende Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Heute
wächst in Deutschland politisches Desinteresse, es wächst Verdrossenheit
darüber, wie langsam und undurchschaubar unser Staatswesen funktioniert,
Enttäuschung darüber, wie wenig unmittelbaren Einfluss darauf die Bürger und
Wähler zu haben scheinen, und Skepsis, ob die einzelstaatliche Demokratie
große, grenzüberschreitende Herausforderungen überhaupt noch in den Griff
bekommt oder die Steuerung längst abgegeben hat an inter- und supranationale Wirtschaftsinteressen
und Großbürokratien.
Dabei stehen wir doch vor ähnlich drängenden Aufgaben wie jenen, für die
damals der Ruf nach Demokratie erscholl: Damals ging es darum, gegen
unverdiente Vorherrschaft gleiche Bürgerrechte zu ermöglichen, die industrielle
Revolution sozial zu gestalten und die staatliche Einheit zu erreichen. Heute
geht es darum, die europäische Einigung zu vollenden, eine ökologische
industrielle Revolution auszulösen und weltweit für Menschenwürde und gegen
Massenarmut einzutreten. Ich bin überzeugt: Das wird uns nur gelingen, wenn wir
auf allen Ebenen das Demokratieprinzip stärken und beleben, bei uns in
Deutschland, in der Europäischen Union und im weltweiten Miteinander der
Nationen.
Darum sollten wir in Deutschland noch weiter an einer Neuordnung der
Bund-Länder-Beziehungen arbeiten. Das Ziel sollte sein, mehr demokratische
Transparenz und Verantwortlichkeit zu schaffen. Es ist wichtig, dass die
Volksvertreter und die Bürger in Bund, Ländern und Gemeinden die Kosten von
Entscheidungen so weit wie irgend möglich vorher kennen. Sie sollten sie aus
eigener Kraft finanzieren und nicht auf andere abwälzen können. Wir sollten
auch Änderungen des Wahlrechts diskutieren, die den Wählerinnen und Wählern
mehr Einfluss darauf geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten der Parteien
ein Mandat bekommen - es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen.
Darum brauchen wir in allen Bereichen des Zusammenlebens Demokratie als
Lebensform, brauchen wir in Schule und Gesellschaft viele Gelegenheiten und
Angebote, die Jung und Alt zur Mitverantwortung und Mündigkeit einladen und sie
an den Geschmack der demokratischen Selbstbestimmung gewöhnen. So wächst ein
Ethos, das die Bürger verbindet und sie gern die Mühen in Kauf nehmen lässt,
die demokratisches Engagement und freiheitliche Abstimmungsprozesse nun einmal
unweigerlich auch mit sich bringen.
Das müssen wir für unsere demokratische Selbstbestimmung tun - und mehr.
Betrachten wir die Europäische Union: Deutschland hat ihr wie alle Mitgliedstaaten
eine Fülle von Entscheidungsrechten übertragen. Entsprechend intensiv
durchdringt und beeinflusst das Handeln der EU unseren Alltag - es geht uns
alle an. Entsprechend aufmerksam müssen wir darauf achten, dass dieses Handeln
demokratisch kontrolliert und gesteuert wird. Darum sollten wir Deutsche nicht
allein die europapolitische Willensbildung von Bundestag und Bundesregierung,
von Landesregierungen und Landtagen genauestens verfolgen, sondern darum haben
wir auch ein großes Interesse daran, dass die demokratische Legitimität des
Europäischen Parlaments gestärkt wird, dass seine Befugnisse entsprechend
wachsen und dass die Bedeutung der einzelstaatlichen Parlamente auf
europäischer Ebene angemessen zur Geltung kommt. Der Vertrag von Lissabon sieht
nicht zuletzt in dieser Hinsicht erhebliche Verbesserungen vor. Er wäre ein
bedeutender Schritt zur nötigen weiteren Demokratisierung der Europäischen
Union.
Die Bundesrepublik Deutschland tritt für das Demokratieprinzip natürlich
auch in ihrer Außenpolitik ein. Aber in den internationalen Beziehungen hat es
bisher noch nie eine so intensive demokratische Dimension gegeben, wie sie in
unserer Verfassung und im Recht der Europäischen Union verankert ist; und ein
Weltstaat mit Weltdemokratie und Weltregierung bleibt Utopie. Statt dessen
gelten noch immer weithin der Grundsatz der Staatengleichheit und
Staatensouveränität und das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren
Angelegenheiten, das seinerseits dem Respekt davor entspringt, dass jede Nation
ihr Schicksal selber bestimmt und wir darum zum Beispiel auch nicht einfach das
westliche Demokratiemodell als allgemeinverbindlich unterstellen oder gar
aufnötigen dürfen.
Vor diesem Hintergrund werden wir es noch lange mit Unfertigem und
Unbefriedigendem zu tun haben. Wir werden mit Regierungen umgehen müssen, die
nicht unseren demokratischen Ansprüchen genügen und sich doch von uns nur um
den Preis ignorieren lassen, dass die Lage ihrer Völker sich eher noch
verschlechtert. Wir werden mit Staaten zu tun haben, die den westlichen Weg
selbstbewusst als Irrweg ablehnen und ihre Legitimität aus anderen Quellen
ableiten als aus demokratischen Entscheidungen. Wir werden, befürchte ich,
Nationen erleben, die sich frei und demokratisch für die Feinde von Freiheit
und Demokratie entscheiden. Und wir werden im Interesse aller Völker trotz
krasser Ungleichheiten von Macht, Einfluss und demokratischer Dignität dennoch
zu Fortschritten kommen müssen.
Darum ist gerade die Außenpolitik kein Feld für Ungeduldige und Rechthaber.
Wer vorankommen will, muss in den und mit den bestehenden Verhältnissen und
Strukturen arbeiten und braucht einen langen Atem. Aber dabei lässt sich schon
kurz- und mittelfristig viel Gutes erreichen.
Dafür bietet die aktuelle weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise - so
bedauerlich sie ist und so wütend ihre Ursachen machen - zusätzliche Chancen.
Sie zeigt zum einen, wie dringend die Wirtschafts- und Finanzmärkte einer
wirksamen Aufsicht und Rechenschaftspflicht bedürfen. Diese Aufsicht und
Verantwortlichkeit muss ihrerseits demokratisch legitimiert sein, denn es geht
um res publica, um öffentliche Angelegenheiten, die in ihren Folgen alle
betreffen. Nur wenn innerstaatlich und zwischenstaatlich die Parlamente und
Regierungen als demokratische Repräsentanten die nötige Aufsicht und
Verantwortlichkeit verbindlich machen (die auch empfindliche Sanktionen
einzuschließen hat), nur dann werden sie ihrer politischen Verantwortung
gerecht. Wenn das weltweit gelingt, dann wird die Krise zu einem wichtigen
Beispiel dafür geführt haben, dass sich die Globalisierung im Sinne des
weltweiten Gemeinwohls gestalten lässt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise bietet
zum anderen die Chance, die nun gebotenen Konjunkturprogramme und die
nachfolgenden Investitionen intelligent auf dieses globale Gemeinwohl
auszurichten. Wenn jetzt zum Beispiel weltweit in eine bessere Infrastruktur,
in Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften und in erneuerbare Energien
investiert wird, dann kurbelt das nicht bloß heute die Volkswirtschaften an, sondern
dann macht es sie dauerhaft robuster und umweltfreundlicher. Darauf sind wir
alle angewiesen, denn die gedankenlose Fortschreibung und Fortsetzung des
heutigen Wirtschaftsmodells und Lebensstils der Industriestaaten trägt auf
Dauer nicht.
Wir alle, und gerade die Demokratien als die verständigsten aller
Staatsformen, müssen lernen, in solchen weltweiten Zusammenhängen zu denken und
zu handeln. Die Erde braucht längst eine Entwicklungspolitik für den ganzen
Planeten; und zwar im vitalen Interesse aller. Eine kluge Politik in und mit
den gegebenen Verhältnissen wird darum auch energisch die Vereinten Nationen
stärken. Dort steht die Paulskirche für die weltweiten Aufgaben, dort hat die
Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten ihren natürlichen und legitimen
Rahmen.
Als konstruktive Pfeiler der Weltpolitik werden auch regionale
Zusammenschlüsse immer wichtiger werden. Die Erfolgsgeschichte der Europäischen
Union zeigt, dass es möglich ist, Frieden und Freiheit zu sichern, in der Welt
an Gewicht zu gewinnen und Wohlstand zu mehren - indem man sich in freier
Selbstbestimmung zur Zusammenarbeit verpflichtet und lernt, Souveränität neu zu
bündeln. Wir Europäer sollten diese demokratische Erfahrung selbstbewusst in
die Arbeit an einer neuen Weltordnung einbringen.
Alles das setzt viel Einsicht und noch mehr zähe Arbeit voraus. Dafür kommt
es ganz entscheidend auch auf die öffentliche Meinung und auf das Engagement
möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger an. Wenn Parlamente und Regierungen
sich von ihren Bürgern getragen, ja gedrängt fühlen bei der Mitarbeit an der
Weltinnenpolitik und an der Entwicklung der Erde, dann wachsen ihnen Kräfte zu,
wie sie allein demokratische Legitimität verleiht. Und wenn sich viele Menschen
in grenzüberschreitenden Initiativen und Interessengruppen engagieren, dann
wirkt das als zusätzliche tragende Säule für die internationale Zusammenarbeit.
Schon heute leisten Institutionen wie Greenpeace, wie die Welthungerhilfe und
wie Amnesty International unendlich viel für die Verbesserung der
Lebensbedingungen von Millionen Menschen und für die Durchsetzung der
Menschenrechte. Das bürgerschaftliche Engagement und die sich abzeichnende
internationale Zivilgesellschaft können das Handeln der Staaten und Regierungen
nicht ersetzen, auch und gerade weil sie kein Ersatz für demokratische
Selbstbestimmung sind. Aber sie können das demokratisch legitimierte Handeln
ergänzen und beflügeln, so wie jede Demokratie von Bürgern gestärkt und
beflügelt wird, die je für sich und auch gemeinsam ihre Freiheitsrechte mit
Leben erfüllen und das Gemeinwohl mehren. Globalisierung und Demokratie
widersprechen einander nicht, im Gegenteil: Die Globalisierung erweitert den
Bereich des Handelns, das demokratischer Steuerung bedarf.
Machen wir uns also ans Werk, in Deutschland, in Europa und weltweit.
Vergessen wir nicht: Das Erbe der Paulskirche bereichert uns. Es verpflichtet
uns auch.
©-Vermerk: REGIERUNGonline (www.bundesregierung.de)
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