Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 01.05.09 |
Guillermo Martínez Roderers Eröffnung Aus dem Spanischen von Angelica Ammar Titel der Originalausgabe: Acerca de Roderer Eichborn Berlin (Februar 2009) 118 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3821857870 ISBN-13: 978-3821857879.
von Heike Geilen
"Habe nun
ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus
studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh' ich nun, ich armer Tor, / Und bin so
klug als wie zuvor! / Heiße Magister, heiße Doktor gar, / Und ziehe schon an
der zehen Jahr' / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase
herum - / Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz
verbrennen."
Mit diesen Sätzen beginnt die Szene "Nacht" aus
dem wohl berühmtesten Werk Johann Wolfgang Goethes. Der Gelehrte Faust hat sich
alles Wissen angeeignet, was die Welt bieten konnte und ihn erfüllt dennoch
Verzweiflung. Zurückgezogen in sein Studierzimmer sucht er schließlich seine
innere Erfüllung durch das Hinwenden zur Magie, um den Sinn des Lebens zu
erkennen.
Parallelen zum Lebenswerk des großen deutschen Dichters sind
in dem Roman "Roderers Eröffnung"
des promovierten Mathematikers und Schriftstellers Guillermo Martínez durchaus
zu finden: Zusammenhänge verstehen, hinter die Dinge blicken, Bildung, die
einem das Fenster zur Welt öffnet. Aber manchmal liegen Genie und Wahnsinn
dicht beieinander. Was, wenn man nicht mehr aufhören kann, wenn Erkenntnisgewinn
zur Sucht wird? "Manchmal ... wird
es unerträglich. Es wächst immer weiter an und saugt alles auf, will alles für
sich. Das ist auch gut so: es muss eine gewisse Besessenheit erzeugen. Aber
dann weiß ich nicht, wie ich dem Einhalt gebieten könnte, ich kann einfach
nicht die Bücher schließen und mir ruhig sagen: Morgen mache ich weiter.",
lässt der Autor seinen titelgebenden Protagonisten Gustavo Roderer dem
gleichaltrigen Ich-Erzähler, Abiturient und Klassenbester, eröffnen.
Zwei interessante,
durch eine Art Hass-Liebe miteinander verbundene Charaktere
Letzterer, heimlicher Schachmeister seines Heimatortes,
trifft Roderer das erste Mal in einer Bar und wird von dem Neuling in einer
zunächst harmlos anmutenden Schachpartie gnadenlos an die Wand gedrückt. Das Spiel
der beiden hochintelligenten jungen Menschen mit den schwarzen und weißen
Figuren offeriert bereits bei diesem ersten Zusammentreffen ein Äquivalent ihrer
nun folgenden eigentümlichen Beziehung. "Dieses Duell, bei dem ich der einzige Kämpfende war und nichts als Fehlschläge
landete. Denn das war vielleicht das merkwürdigste: Roderer schien keinem
Gegenangriff gewillt, keine sichtbare Bedrohung schwebte über meinen Figuren,
und dennoch empfand ich jedes seiner Manöver als eine dunkle Gefahr, die Ahnung
ließ mich nicht los, daß sich dort subtil und unausweichlich etwas anbahnte,
das es mir nicht zu greifen gelang."
Zwei interessante Charaktere hat der argentinische Autor
entworfen, die durch eine Art Hass-Liebe miteinander verbunden sind. Zum einen der
Ich-Erzähler, hochintelligent, aber trotzdem im realen Leben stehend und sich
der Wirklichkeit stellend. Und zum anderen der unangepasste Sonderling, der
sich in kein soziales Gefüge einordnen kann, dem Unterricht nicht folgt und
stattdessen seine eigenen Bücher liest (u. a. Hegels Logik, die "Göttliche
Komödie" auf Italienisch und eben jenen "Faust I" auf Deutsch). Es
jagt ihn die Zeit. Er will dem wahren, dem absoluten Wissen auf die Spur
kommen. "Natürlich nicht durch die
vier oder fünf Gesetze, mit denen sich die Menschen die Zeit vertreiben; nicht
durch das Überflüssige, die erlaubte Quote an Erkenntnis, sondern durch das
wahre Wissen, den Logos, den sich Gott und der Teufel vorbehalten."
Die (Un)Möglichkeit
des absoluten menschlichen Erkenntnisvermögens
Ihr gemeinsamer Lehrer Dr. Rago klassifiziert die beiden
jungen Hochintelligenten treffend in zwei divergente Grundtypen:"Da wäre
zum einen [...] die assimilierende Intelligenz, die ähnlich wie ein Schwamm
alles sofort in sich aufsaugt, die vertrauensvoll vorangeht und von anderen
aufgestellte Beziehungen und Analogien selbstverständlich anerkennt, die im Einverständnis
mit der Welt ist und sich in allen geistigen Domänen in ihrem Element fühlt."
Bei Roderers Genius hingegen handelt es sich "um eine Art von Intelligenz, die die gewohnten geistigen Bahnen, die
gängigen Argumente, alles Bekannte und Bewiesene als befremdlich oder häufig
sogar als feindlich empfindet. Für diese Intelligenz ist nichts 'normal', sie
nimmt nichts an, ohne gleichzeitig eine gewissen Ablehnung zu verspüren. [...]
Doch es drohen ihm zwei noch viel schlimmere Gefahren: Wahnsinn und Selbstmord."
Während der Ich-Erzähler schlussendlich in eine andere Stadt
zieht, studiert und ein eigenes Leben beginnt, zieht sich Roderer immer mehr
zurück. Er verbringt Tage und Nächte in seiner "Studierstube" mit Unmengen
an philosophischer Literatur und Analysen mathematischer Theoreme, nimmt nichts
mehr um sich herum wahr und schließt seine Familie und die Frau, die ihn liebt,
von seinem Leben aus. Genau wie Goethes Faust zerbricht er letztendlich an der
(Un)Möglichkeit des absoluten menschlichen Erkenntnisvermögens.
Bereits 1992 erschien das Buch unter dem Titel "Acerca de Roderer" im Heimatland des
Autors. Guillermo Martínez feierte mit seinen Kriminalromanen "Der langsame Tod der Luciana B."
und "Die Pythagoras-Morde"
bereits große Erfolge. Letzterer erhielt 2003 den "Premio Planeta",
wurde in 14 Sprachen übersetzt und 2007 unter dem Titel "The Oxford Murders" mit Elijah
Wood und John Hurt in den Hauptrollen verfilmt.
Fazit:
Guillermo Martínez beschäftigt sich genau wie Goethe in
seinem Faust mit der Frage, ob Intelligenz Fluch oder Segen, Verhängnis oder
Glück ist. "Roderers Eröffnung"
offeriert auf hohem literarischem Niveau einen intelligent-intellektuellen
"Spaziergang" durch die "Gärten" der Mathematik, der Logik,
der Philosophie und letztendlich der Literatur. Ein durchaus beeindruckendes
Frühwerk des Argentiniers, das gleichfalls Parallelen zu seinem eigenen
Werdegang aufweist.
"Grau, teurer
Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum." (Faust
I)
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