Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 05.08.10 |
Fritz J. Raddatz, Rilke, Überzähliges Dasein, Eine Biographie, Arche Literatur Verlag AG, Zürich, Hamburg 2009, ISBN: 978-3-7160-2606-9, 224 Seiten, Preis: 22,- Euro.
von Stefan Groß
Um es vorwegzunehmen: Es ist ein gutes Buch, das über den
nach Goethe wohl weltweit meistgelesenen deutschsprachigen Dichter Rainer Maria
Rilke nunmehr im Arche-Literatur Verlag vorliegt. Bewegend, furios,
sprachgewaltig und bildreich beschreibt der Benn- und Heinebiograph und
Herausgeber von Kurt-Tucholskys Gesammelten Werken, Fritz J. Raddatz, nicht nur
die existentielle Befindlichkeit eines Ausnahmekünstlers wie Rilke, sondern
auch die bewegenden Momente eines künstlerischen Schaffens und Lebens, das
immer wieder mit dem In-die-Welt-Geworfensein rang.
Raddatz’ biographischer Essay ist auch ein Buch über den
Publizisten Raddatz selbst. Zugleich aber auch ein intimes Bekenntnis zu einem
Rilke, der nicht nur Lob, sondern ob seiner religiösen und frühen
sentimentalischen Gedichte oft Spott und Hohn erntete.
Den einen war er zu monumental, den anderen zu verspielt, für
andere war er der Dichter par excellence, so beispielsweise für Marina Zwetajwa,
die ihn zur Künstlerpersönlichkeit stilisierte. Daß Thomas Mann die
Verspieltheit, die bewegte, in Bilder und Momentaufnahmen gerinnende Sprache
Rilkes nicht schätzte, mag insofern nicht überraschen, weil hier zwei Welten
aufeinandertrafen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Lübbecker
Kaufmannssohn verabscheute den Sprachkult des „österreichischen Snobs“, dessen
„Ästhetizismus, sein adliges Getu’, seine frömmelnde Geziertheit“ ihm immer
„peinlich“ waren und ihm die Prosa „unerträglich“ machte.
Empfindsam, doch nicht ohne Kritik zeichnet Raddatz den
Lebensweg von Rilke nach, von einem der immer von einer geheimnisvollen Aura
umweht und umgeben war, von einem, der sich nicht nur als Dichter, sondern auch
als Mensch aller persönlichen Nähe entzog.
Es war dieses Unfaßliche der Person Rilke, das ihn für all jene
zu einem großen Dichter werden ließ, die wie er das Metaphysische, das
Sich-Entziehende liebten und suchten.
Neben dieser Plastizität der Sprache, neben dem In-Stein-gemeißelten
Bild- und Marmorwerden derselben, dem Sich-Begeistern für die vollendete Form, war
es das Expressive seiner Lyrik, die Metaphorik und die Ereignishaftigkeit der
beschriebenen Bilder, die Rilke für Raddatz zu einem Surrealisten avant a
lettre werden ließen. „Es ist so verblüffend wie beglückend, Rilkes
literarische Technik des gefrorenen Details einerseits zurückzuverfolgen in
seine Erlebniswelt, aus der sie sich zugleich herausgelöst hat wie Eisschollen
aus einem Fluß, zu eigenem Rhythmus.“
Dieses Kompositionsgefüge „Vorgefundenes wie eine
Glasscherbe aufzuheben“, um diese in ein groß komponiertes Fenster einzufügen,
„macht die Malte-Prosa zugleich
gläsern und artistisch perfekt.“ Was Rilke mit seinem Malte also vor der
Zeit des Surrealismus in aller Wortgewaltigkeit schon als künstlerisches Mittel
verwendet, ist die Collage, jenes Zusammenfügen disparater Einzelheiten, wo
nicht nur überkommene Gestaltungsprinzipien aufgelöst werden, sondern wo das
scheinbar Zufällige, Unzusammenhängende, in einen neuen Zusammenhang gestellt
wird.
In aller Ausführlichkeit mit den jeweils biographischen
Bezügen beschreibt Raddatz den Entwicklungsgang Rilkes, der mit der frömmelnden
Geziertheit eines „Silbenkonfektionärs“ beginnt und dann in jener
unnachahmlichen „Sphärenmusik“ endet. Unterwegs zum Sein, so ließe sich die
Genealogie Rilkes umschreiben, die vom bloß äußerlichen Empfinden und Schwelgen
ausgeht, von einer bloß konstruierten Schein-Welt, die nicht verinnerlicht ist,
um dann peu à peu zum Wesen der Kunst, zu ihrem Kern voranzuschreiten.
Auch spannt sich Raddatz’ Buch immer wieder einfühlsam um
die großen Pole von Rilkes künstlerischem
Werden, um die Einsamkeit, die Gottesferne, die Liebe und den eigenen Tod.
Immer, so wird deutlich, schöpft der aus Prag stammende Dichter, den Raddatz
als politischen Menschen und Deutschlandhasser, als haßerfüllten
Anti-Wilhelmisten beschreibt, seine Kreativität wie eine Schnecke aus der Selbstreduktion
seiner Seelenbefindlichkeit – die innere
Struktur Rilkes bleibt hermetisch, lebt in und aus der Ästhetisierung eines
Ich, das um Kunst zu produzieren, um seine Liebesfähigkeit zu beweisen, tiefer
in die Einsamkeit zurückgleitet, den Anderen aus der Ferne betrachtet, aus der
unendlichen Distanz, die erst die Nähe erlaubt. Es ist diese Unnahbarkeit Rilkes, die ihm jede
Unmittelbarkeit versagt, die ihm „Weib“ und „Welt“ entrückt.
Rilkes Produktivität, dies zeichnet Raddatz ganz akribisch
nach, bleibt an die Stilisierung der großen und unvertretbaren Einsamkeit
gebunden, an die vom Dichter immer wieder beschworene Entsagung und an die eine
sich von der Wirklichkeit distanzierende Weltbetrachtung. Rilkes Seele blieb
unbesiedelbar, wer sich ihm näherte, wie später seine Frau Clara Westhoff, dem
verschloß er emphatisch sein Innerstes, denn ein täglich praktiziertes
Zusammensein widersprach seinem Nervensystem. Er liebte nur das, was nicht zu
erringen war.
Wie sein Gott, den Rilke aus der Ferne betrachtet, der sich
nur in den Rändern greifen läßt, bleibt auch er der Welt fremd, zieht rastlos
durch die Zeiten, heimatlos. Ganz existentialistisch ist das Leben für ihn, das
Aushalten der Gottesferne, der in seiner Unbegreifbarkeit als Deus absconditus
seine Werke und Geschöpfe im Stich gelassen hat. Das Stunden-Buch wird diese Anklage weiterführen, den bitteren Gesang
über die, die aus der Hand Gottes fielen.
Was Rilke, so Raddatz, empört, ist die Gnadenlosigkeit
Gottes, sein Schweigen. Demgegenüber fordert er in metallisch klarer Sprache
das Recht auf Diesseitigkeit, wie einst Heinrich Heine. Zum Gottesbegriff
Rilkes konstatiert der Interpret: „Rilke hat sich einen sehr eigenen Gott
erschaffen, er ist eine Sehnsuchtsmetapher, eine mögliche Ordnung für diese
Welt – die er aber in dieser Welt nicht findet.“ Der Künstler setzt sich als
säkularisierter Gott an dessen Stelle, füllt die leer gewordenen Raum. Er sucht
tröstendes Licht in eine Welt zu bringen, die nur Trostlosigkeit gebiert, und
wie Raddatz schließt: „also der Frau Konkurrent. Frau Welt. Sie soll vorhanden,
aber nicht da sein.“
„Wir müssen schon hier zwei so frühe wie tiefe, die Existenz
bestimmende Prägungen Rilkes festhalten. Die Frau als Bedrohung, umschwärmt
zwar in der Entfremdung, gefürchtet als Gefahr in realer Gegenwart; da der
Dichter Rilke Weiblichkeit als die wahre Voraussetzung zur Produktivität sah,
verriegelte er seine Pforten vor dem Weib Welt. […] Letztendlich aber bleibt
beides – Weib und Welt – der Feind.“
Die beständig gesuchte Heimatlosigkeit, dieses stetige
Fliehen vor der Beständigkeit, das immer nur kurze Rasten, sie bleiben
letztendlich für Raddatz das Fundament aller Kreativität Rilkes. Selbst als
unermüdlicher Briefeschreiber, die Korrespondenz, die er Zeit seines Lebens an seine
Gönner und an das angebetete, letztendlich aber zurückweisende weibliche
Geschlecht richtet, haben, wie Raddatz herausstellt, unendlich viele Adressaten,
aber nur einen Empfänger, Rilke selbst. Das Leben als artifizielle
Selbstbegegnung, als die harte Zäsur, die nur ein Entweder-Oder kennt, das
Leben als Monolog und Selbstgespräch, das aus den endlosen Wiederholungen sich
erzeugt, sie bleiben das künstlerische Lebensmotto Rilkes und hinterlassen ihre
Spuren im Werk.
Daß dieser Ästhetisierungswille, dieser Drang in sich selbst
zu gelangen, letztendlich jene Einsamkeit gebiert, dies war Rilke wohl bewußt,
war seiner ambivalenten Natur eingeschrieben. Auch daß dieser Prozeß des sich
selbst Wahrhaftig-Werdens schließlich einer ist, der ein Innerlichwerden einschließt,
das sich von der hohlen Sprache verabschiedet, um eben „Sphärenmusik“ zu
werden, dies hat Raddatz in aller Vortrefflichkeit nachgezeichnet. Denn: Blanke
Ästhetisierungswut und die Banalität des Jugendwerkes zeigten in aller Deutlichkeit,
daß „lyrische Redseligkeit“ und „Jedermannsgefühle“ leere Sprachschablonen
bleiben, eine Erkenntnis, die auch Rilke machte, wenn er die Vielzahl seiner
Jugendwerke verwarf.
Aus der zügellosen „Facilität“ entsteht die Kunst nur durch
ein Wunder und nicht mittels der ästhetisierenden Einbildungskraft, die Nicht-Erlebtes
und Nicht-Erfahrenes in eine äußerliche Hülle preßt oder in eine frömmelnde
Formelsprache. Im Cornet wird Rilke reif, verliert sich das Tändelhafte
und Gekünstelte der Sprache. „Dieses Rilke-Wunder ist der Cornet“, den Raddatz als Rilkes Werther
feiert. Er ist es, der im Unmittelbaren geboren, endlich das Geheimnis der
Kunst, ihren wundersamen Charakter, offenbart. „Der Text führt auch auf
mysteriöse Weise den Umschlag von Emphase in Kargheit vor; denn emphatisch –
bis an die Grenze religiöser Verzückung – war Rilkes Stimmung zu dieser Zeit.“
Auch im Liebes-Intermezzo mit der weitaus älteren Lou
Andreas-Salomé, die sich, so Raddatz, für Rilkes innerliches Reife-Werden mitverantwortlich
zeigte, siegte letztendlich die Einsamkeit. „Doch angekommen auf dem Grund –
findet ein jeder nur sich selbst, verliert den anderen.“ Auch zu diesem
Zeitpunkt bleibt Rilke hermetisch.
„Seine Wirklichkeit heißt Kunst. Und seine Liebesfähigkeit
heißt Alleinsein. Er wird von nun an eine wahre Philosophie der Entfremdung
entwickeln, die Nähe zum Unstatthaften dekretiert. […] Liebende als Idee einer
alles überwölbenden, aber nichts berührenden Bindung, ein Phantom-Traum, der
beim Erwachen in den Tag erlischt: das ist sein Konstrukt. Unlebbares Leben.
Rilke vertraut der Kraft des Irrealen. Das ist schlecht für die Realität. Es
ist gut für die Kunst.“ Rilkes Werk, so resümiert Raddatz „ist wie der Marmor
von Adern durchzogen von Metaphern der eigenen Weiblichkeit als Quell des
Schöpferischen, von der Sehnsucht nach dem Androgynen – Engel sind ja
geschlechtslos – und von der Angst, seine ihm heilige Einsamkeit könnte
penetriert werden.“
Aber auch Rilkes neue Sachlichkeit ist es, die Raddatz immer
wieder schätzt, die dialektische Klammer zwischen „Unterwerfung und Empörung“,
„Aufgezehr und Aufbegehr“, wie er es nennt, aus deren Spannung große Kunst
hervorgeht. Seine Ding-Ästhetik gleiche dabei der Technik des surrealen Films,
sein Malte sei ein originäres Kunstwerk, das nur wenige Assoziationen
von Baudelaire, Flaubert und Nietzsche in sich aufgesogen hat.
Auch auf die tiefe Verstörung durch den Ersten Weltkrieg
spielt Raddatz an, wenn er das lähmende Jahrzehnt beschreibt, den in sich
zurückgeworfenen Rilke, der seine Briefe nunmehr in quälender Innenschau
schreibt, gerade so, „als lege sich da einer selbst unter den Röntgenapparat;
zumal auch die körperlichen Malaisen aufs Sorgsamste inspiziert werden.“ […]
Die Briefe sind aber auch Notsignale, ausgeworfene Halteseile eines
Losgerissenen, der sich selbst nicht mehr zu orten weiß. Der Ich-kranke Rilke
kann sich diagnostizieren, therapieren kann er sich nicht.“
Einst äußerlich unruhig und rastlos hatte Rilke in der
Schweiz, in seinem geliebten Muzot, Heimat gefunden. Doch wurde ihm diese
Heimat nun zur Stätte innerer Unruhe, die in ihm, dem hypochondrischen Narziß,
permanente Verstimmungen hervorriefen, letztendlich seine sich schon in
Jugendjahren anbahnende Krankheit zum Tode, die ihn nun nicht nur emotional
tiefer, sondern auch physisch bedrohlich einholte. Daß Rilke den Gedanken Leben
nicht fassen konnte, ohne zugleich den Tod mit zu bedenken, war eine seiner
Eigenheiten, was auch Raddatz fest untermauert, wenn er schreibt: „Rilkes
Entwurf vom Leben schloß immer ein das Denken an den anderen Pol, den Tod. Wer
ihn nicht einbezieht in alles, was er fühlt und tut, die Gültigkeit von Welt
nicht der Endgültigkeit gegenüberstellt – der beschreibt nichts, außer
bestenfalls Papier.“ Tod und Leben bleiben die Klammern dieses Dichtens, das
dem Unsagbaren Ausdruck verleihen will. Der Tod bleibt die „Ergänzung zur
Vollkommenheit“, ein Seinsgeschick. In Muzot, nahe Sierre, wird sich Rilke
selbst geschichtlich. Sein Purgatorium beginnt ohne Engel, Himmel und Gott und
endet am 29. Dezember 1926, um 3 Uhr 30, wo er im Krankenhaus in Valmont an
einer zu spät diagnostizierten Leukämie stirbt.
Kurzum: Raddatz liegt nicht nur daran, Rilke als Gaukler und
Geck vorzuführen, ihm seinen Adelstick als Marotte anzukreiden, ihn als
Lebemann und verwöhnten Sonderling vorzustellen, sondern eben als Ästheten mit
einer feingliedrigen Seele. Und er will den Dichter vom Klischee des sich
„verpuppenden Weihepriesters“ herauslösen, ihn nüchtern und mittels Verstand lesen,
denn Rilke ist keine „unbegreiflich geweihte Hostie“.
Was sich in seinem biographischen Essay manchmal aber dann doch
zu plakativ abzeichnet, ist die Rilke suggerierte „Eigenweiblichkeit“, sein
feminines Schreiben, das seinen Ursprung und seine Schuld in einer
verhätschelten Erziehung hatte, im anerzogenen Frau-Sein Rilkes, dessen Mutter
ihn als Mädchen erzog. Was sich diesem Befund viel eindrucksvoller entgegenstellt,
ist der von Raddatz herausgearbeitete existentielle Riß in Rilkes Wesen, diese
Urwunde in seinem Leben, die ihn immer wieder vorantreibt, die seine Kunst
gebiert. „Er versagt sich jeglichen Glauben, an den er zugleich glaubt.“ Die
Welt läßt sich nicht erlösen, auch kann Gott nicht von der Welt erlösen, sie
läßt sich also nur ertragen. Nur in diesem Sein kann man in aller Vorläufigkeit
wohnen, wobei es nicht die Religion ist, die dem Ich in der oft trostlos
erfahrenen Welt aufhilft, sondern das sich als selbst erfühlende Ich.
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