Erschienen in Ausgabe: No 39 (5/2009) | Letzte Änderung: 16.02.10 |
Das Beben in den Abruzzen bringt die bestürzende Erkenntnis zurück, dass das Böse in der Welt beileibe noch nicht überwunden ist
von Guido Horst
L’ Aquila ist nicht Lissabon. Die
Hauptstadt der Abruzzen liegt nicht am Meer. Die Residenzstadt der
portugiesischen Könige schon. Als an Allerheiligen 1755 ein infernalisches
Stampfen und Stoßen von nur wenigen Minuten die stolze Hafen- und Handelsmetropole
am Tejo in einen blutigen Trümmerhaufen verwandelt hatte, flüchteten die
Überlebenden zum Hafen und blickten dort auf einen mit Schiffswracks und Waren
bedeckten Seeboden, den das zurückgewichene Meer freigegeben hatte. Doch dann
kam es zurück. Ein Tsunami von unvorstellbarer Wucht – auf dem Meeresboden
hatten sich Erdplatten um elf Meter gehoben und daneben um sechs Meter gesenkt
– riss die Menschen mit. Die Flutwellen schossen den Tejo hinauf und walzten
die Gebäude nieder, die das Beben stehen gelassen hatte. Dort, wo der Tsunami
entlang toste, löschte er die Feuersbrunst, die nach der Zerstörung der Stadt
ausgebrochen war. Wo nicht, wüteten die Brände noch Tage lang. In Lissabon mit
seinen damals 270.000 Einwohnern und in den umliegenden Dörfern und Kleinstädten
kamen bis zu neunzigtausend Menschen um.
Europa war entsetzt. Die Titanenfaust aus dem Inneren
der Erde hatte nicht nur Lissabon geschlagen, auf dem ganzen Kontinent hatte
man sie gespürt. An der Algarve im Süden Portugals waren alle Städte weitgehend
zerstört. In Luxemburg war eine Kaserne eingestürzt, bis nach Finnland hatte
die Erde gezittert. Flutwellen von zwanzig Metern Höhe überrollten auch die
Küste Nordafrikas – weitere zehntausend Tote – und überquerten den Atlantik, wo
sie Martinique und Barbados verwüsteten. Die englische Südküste wurde von einer
drei Meter hohen Flutwelle getroffen. In den Niederlanden und in Schweden
wurden Schiffe aus ihren Verankerungen gerissen. Nicht nur Lissabon war mitten
ins Herz getroffen, sondern auch „die beste aller möglichen Welten“ (Leibniz).
Die Trümmer rauchten noch, als in Paris der Spötter
Voltaire bereits sein „Poem über das Desaster“ zu dichten begann: „Wer sagt da,
angesichts der Opfer ohne Zahl, Gott habe sich gerächt?!... Die Kinder an der
Mutterbrust, erschlagen und verblutet, was haben sie getan, was haben sie
verbrochen? Besaß etwa Lissabon, das nicht mehr ist, mehr Laster als London,
als Paris, die beide fröhlich im Vergnügen schwelgten?“
Noch über fünfzig Jahre später entlieh sich Johann
Wolfgang von Goethe aus der Weimarer Bibliothek die 1756 in Danzig erschienenen
Schrift „Beschreibung es Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele
andere Städte in Portugal und Spanien theils ganz umgeworfen, theils sehr
beschädigt hat“, um besser zu verstehen, was ihn selbst als sechsjährigen
Knaben aus dem unschuldigen Glück seiner Kindertage gerissen hatte. Im ersten
Buch seiner autobiographischen Schrift „Aus meinem Leben. Dichtung und
Wahrheit“ schreibt er dann: „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde
jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am
ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete
über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken.
Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt
von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer
braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und
Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen,
die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch
und Brand in den Ruinen.“ Am glücklichsten noch seien die Toten gewesen, denen
„keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die
Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, aber durch
dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher.
Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube,
dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten
die Natur ihre schrankenlose Willkür.“
Doch war es nur die Natur, die sich als willkürlich
erwiesen hatte? Goethe erinnert sich, dass ihn, den Sechsjährigen,damals noch
ein ganz anderer Zweifel befiel: „Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht
an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die
Geistlichkeit nicht fehlen“, schreibt er in seinen Erinnerungen weiter. „Ja
vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig
seine Schauer über die Erde verbreitet. Der Knabe, der alles dieses wiederholt
vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter
Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so
weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den
Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“
Doch jetzt nach L’Aquila. In den frühen Morgenstunden
des letzten Dienstags im April hatte der Hubschrauber mit dem Papst zuerst das
Zeltlager neben dem völlig zerstörten Örtchen Onna erreicht.
Dann ging es weiter in die Hauptstadt der Region der
Abruzzen, in denen mit dem Erdbeben vom 6. April 55.000 Menschen obdachlos
geworden sind. Der Papst steht vor den Trümmern der „casa dello studente“.
Das Studentenheim im Herzen Aquilas, das gleich
mehrere junge Menschen erdrückte, ist mitsamt dem vom Beben kaputt gerüttelten
Krankenhaus „San Salvatore“ zum Symbol für den Pfusch beim Bau relativ moderner
Gebäude geworden, die den Erschütterungen eigentlich hätten Stand halten
müssen.
Seinen Vorgänger Coelestin V. kann Benedikt XVI.
nicht aufsuchen. Der von seinen Anhängern als „Engelspapst“ gefeierte
Einsiedlermönch zog 1294 auf einem Esel reitend in L’Aquila ein, um dort die
Nachfolge Petri anzutreten. Sein Leichnam hat schon das große Erdbeben von 1703
„überlebt“. Auch jetzt schützte ihn das gehärtete Glas seines durchsichtigen
Sargs vor den Trümmern des einstürzenden Dachs der Basilika Santa Maria di
Collemaggio. Es ist der schönste Kirchenbau der Stadt, vor dem Benedikt XVI.
schweigend verharrt. Den Sarkophag seines Vorgängers haben Feuerwehrleute
weggeräumt. Coelestin V. ist übrigens der
einzige Papst der Geschichte, der – bereits nach einem halben Jahr, am 13.
Dezember 1294 – in seinem Amt verzagte und resigniert zurücktrat. Rom hat er
nie gesehen.
Und zum ersten Mal sieht Benedikt XVI. den weiten
Platz vor der Schule der Finanz-Polizei, wo schon sein Staatssekretär am
Karfreitag 205 Särge ausgesegnet hatte. Insgesamt fast dreihundert Menschen hat
das Beben das Leben gekostet.
Ausgerechnet in der Karwoche brach das Unglück über
die stolzen und selbstbewußten Abruzzesen herein. Mit Kardinal Tarcisio Bertone
war Papstsekretär Georg Gänswein zur Trauermesse nach L’Aquila geflogen und
verlas eine Botschaft Benedikts XVI. an die Überlebenden: „In Momenten wie
diesen ist der Glaube eine Quelle des Lichts und der Hoffnung, denn gerade in
diesen Tagen erzählt er uns von den Leiden des Sohnes Gottes, der für uns
Mensch geworden ist: Sein Leidensweg, sein Tod und seine Auferstehung mögen für
alle eine Quelle des Trosts sein und die Herzen aller für den mystischen Weg
zum ewigen Leben öffnen, in dem der Tod nicht mehr sein wird, keine Trauer,
keine Klage, kein Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“
Viele der Zehntausende von Obdachlosen, die jetzt um L’Aquila herum in Zelten leben, haben Verwandte und Freude sowie ihr Hab und
Gut verloren. Eines ist wie 1755 beim Erdbeben von Lissabon: Nur durch Zufall
hatte damals Portugals König José I. die Katastrophe überlebt – außerhalb der
Stadt. Nach dem Beben entwickelte der König eine unkontrollierbare Angst davor,
innerhalb von vier festen Wänden zu leben. Er zog es vor, eine riesige Zeltstadt in den Hügeln von Ajuda vor den Toren
Lissabons errichten zu lassen und von da an dort zu residieren. Bis zu seinem Tod sollte sich diese Angst nicht mehr
legen. Erst danach ließ seine Tochter Maria I. den Palácio Nacional da Ajuda
auf dem Platz der väterlichen Zeltstadt errichten.
In den Abruzzen ist heute ähnlich. Die Menschen sind
traumatisiert. Der Terror hat sich tief in viele Gesichter der hart gesottenen
Abruzzesen eingegraben. Sie wollen oder können noch nicht in ihre Wohnungen
zurück, auch wenn Techniker des Zivilschutzes und der Kommunen einen guten Teil
der nicht oder nur leicht beschädigten Wohnhäuser inzwischen wieder frei
gegeben haben. Warum hat das Beben die urkatholische Region der Abruzzen
getroffen, mit ihren zahllosen Klöstern und Kirchen – und nicht Piemont und
Turin mit seinen Freimaurern und Satanisten. Warum wurde in Paganica eine
Äbtissin vom Dach ihres einstürzenden Klosters erschlagen – und nicht ein
Mafiaboss auf Sizilien? Aber die bange Frage des kleinen Goethe, warum Gott die
Gerechten dem Verderben preisgab, stellt hier keiner. Stattdessen suchen Medien
und Justiz Schuld und Versagen bei den Bauunternehmern, die zuviel Sand und
zuwenig Eisen und Zement verwandten, als sie in den letzten vierzig Jahren ihre
palazzi in dieser Erdbebenregion errichteten.
Besonders stark hat das Beben neben diesen
Skandalbauten das Patrimonium der Kirche getroffen. Von den etwa vierzig
Gotteshäusern und Klöstern im historischen Zentrum L’Aquilas sind alle schwer
beschädigt. Es gibt keine einzige Kirche, in der man noch eine Messe feiern
kann. Auch in den Dörfern haben die Pfarrer mit den Helfern, wenn es gut ging,
das Allerheiligste und die Glocken und Kirchenbänke aus den oft kunsthistorisch
wertvollen Gotteshäusern geborgen. Viel liturgisches Gerät liegt noch unter
Trümmern begraben. So als sollte sich gerade die Kirche wieder die schmerzliche
wie geheimnisvolle Frage stellen, warum Gott eben nicht, wie es noch Leibniz
formulierte, „die beste aller möglichen Welten“ geschaffen hat. Sondern eine
Welt, die – wie es im Katechismus der Katholischen Kirche heißt – nach wie vor
„auf dem Weg zu ihrer letzten Vollkommenheit ist“. (310) Beim Erdbeben von
Lissabon ist der gütige Himmel der Philosophen eingestürzt. Das Erdbeben in den
Abruzzen hat fast durchgängig die Pfarrer und ihre Kirchen, die Nonnen und ihre
Klöster, die Ordensleute und einfachen Kirchgänger getroffen. Vielleicht waren
es ja die Theologen, die den Himmel zu oft und zu lange schon als nett und
gütig sowie die Welt als nicht mehr erlösungsbedürftig beschrieben hatten. Das
Beben aber bringt die bestürzende Erkenntnis zurück, dass das Böse beileibe
noch nicht überwunden ist.
(c)-Vermerk: www.vatikan-magazin.de
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