Erschienen in Ausgabe: No 39 (5/2009) | Letzte Änderung: 14.05.09 |
Wir reden viel über Pisa und Lesekompetenz, kümmern uns aber beschämend wenig um die ersten konkreten Leseanregungen in Form von Büchern. Wäre unser Interesse an dem, was Kinder zuerst zu lesen bekommen, größer, wäre der diskutierenden Feuilleton-Öffentlichkeit längst ein Problem aufgefallen: der gespaltene deutsch-deutsche Bilderbuchmarkt.
von Lutz Rathenow
Vielleicht ist dem einen oder andern schon aufgefallen, dass die
Schaufenster der Buchhandlungen an der Ostseeküste oder im östlichen Berlin im
Bilderbuchbereich nur Neudrucke von DDR-Büchern enthalten. Die ostdeutschen
Großeltern nötigen ihren Enkeln das auf, was sie als gute DDR-Erinnerung
weitertragen möchten: ihre alte, schöne und etwas zu DDR-heile Kinderbuchwelt.
Natürlich gab es im deutschen Teilstaat ein paar wunderschöne, viele
ordentliche und wenige kaum erträgliche Bilderbücher. Zu nennen sind ferner
tolle Illustratoren wie Klaus Ensikat oder Egbert Herfurth, Künstler die heute
zu Recht als Teil der deutschen Kinderbuchkultur gesamtdeutsch gefragt sind.
Während heute viele deutsche Erwachsene den Erstlesebüchern eher gleichgültig
gegenüberstehen, kümmerte man sich in der DDR sehr intensiv um das, was Kinder
lesen, sehen oder als Hörspiel hören sollten. So sehr, dass ein paar
Manuskripte gar nicht zum Buch reifen durften: aus diffusen, aber immer auch
politischen Gründen. Das berühmte Löwen-Kinderbuch von Reiner Kunze durfte nie
erscheinen, auch der in der DDR viel verlegte Peter Hacks konnte sein aus
meiner Sicht schönstes Bilderbuch nie in der DDR veröffentlichen: Der Bär auf
dem Försterball.
Nein, dieser Titel befand sich nicht unter den Buchstapeln im letzten
Weihnachtsgeschäft, das im Bilderbuchbereich im Osten zu 95 Prozent durch
DDR-Nachdrucke bestimmt wurde. Kleine Kinder wollen Bücher vorgelesen bekommen
- da können Eltern und Großeltern ihre eigene Nostalgie voll ausleben.
Widerspruch setzt erst später ein, der Erfolg von den DDR-Jugendhelden wie
Ottoka Domma oder Alfons Zitterbacke bleibt jedoch beschränkt. Die heranwachsenden
Enkel lesen auf einmal Pferdebücher oder Gruselgeschichten, Krimis oder
Cornelia Funke, vom Welt-Phänomen Harry Potter ganz zu schweigen. Der zunächst
strikt getrennte Bilderbuchmarkt fließt bei älteren Kindern dann zu einem
gesamtdeutschen zusammen. Aber entscheidend bleibt, was zuvor passiert ist.
Was stört ältere Ossis an den westdeutschen Bilderbüchern? Sie seien zu grell,
hätten eklige Farben, außerdem zu teuer, zu unbekannt, zu elitär - einfach zu
westlich. Da greift man lieber zum ordentlich bebilderten und nicht
provozierenden "Hirsch Heinrich" - der in die Ferne auszieht. Und
sich umso schlechter fühlt, je weiter er sich von der Heimat entfernt. Aber
keine Angst, er kommt zurück und alles wird wieder gut.
Nein, man muss die nette Geschichte nicht so DDRig interpretieren wie man sie
deuten könnte. Es geht gar nicht um das einzelne Buch, sondern die Summe der zu
braven, altmodischen, betulichen Titel. Gerade die Illustrationen wirken zum
Teil sehr abgestanden. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass Westeltern ebenso
gern ihre Lieblingsbücher den Kindern weitervermitteln. Das ist völlig richtig,
der Mix aus Tradition und Neuem macht es. Manche DDR-Bücher könnten daher
durchaus von dem einen oder anderen Westleser entdeckt werden - aber nicht als
Teil der besseren Kinderbuch-Staatsliteratur, sondern als künstlerische
Ergebnisse der Arbeit einzelner.
Tatsache bleibt, dass ostdeutsche Eltern und Großeltern ihren Kindern den
Zugang zu interessanter, aktueller, anregender neuer Literatur, auch
übersetzter verbauen. Nur im Bereich der sehr billigen Werke - oft in
Begleitung einer Fernsehserie - klappt der Verkauf westlichen Lesematerials.
Als die Mecklenburger Autorin Susanne Beck ihre kritische DDR-Betrachtung als
Märchen verarbeitet Kindern vorträgt, sind diese begeistert. Die Lehrer
weniger, einen Verlag findet sie auch nicht. Wie auch - gibt es doch in der
gesamten Ex-DDR nur drei Verlage, die überregional Kinderbücher verlegen. Und
den legendären Kinderbuchverlag Ostberlin, der fleißig die alten Bücher
nachdruckt. Er ist längst zum Reprint-Verlag verkümmert, weil die trotzig auf
bewährtes setzenden Ostkäufer auch die neuen Bücher ihrer bewährten Autoren
ignorieren.
Es gab einmal eine DDR, in der die Menschen nach ungewohnten und selten zu
habenden Bilderbüchern aus dem Westen dürsteten. Diese Zeiten sind vorbei. Was
das für das innerdeutsche Zusammenfinden bedeutet, müsste viel intensiver
beobachtet und diskutiert werden.
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