Erschienen in Ausgabe: No. 34 (4/2008) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Constantin Graf von Hoensbroech
„Ostalgie ist eine Gefahr für die Demokratie“
Bekannt
ist er vor allem als ehemaliger „Bundesbeauftragter für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“: Zehn
Jahre leitete Joachim Gauck die umgangssprachlich oft nur als
„Gauck-Behörde“ bekannte Bundesbehörde. Der gebürtige
Rostocker studierte Theologie und war Jahre lang als evangelischer
Pfarrer tätig. Schon in seiner Jugendzeit trat der spätere
„Revolutionspfarrer“ der Wendezeit, Mitbegründer des Neuen
Forums sowie Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer in
Opposition zum Sozialismus und zur Diktatur der DDR. Heute leitet der
überzeugte und parteilose Demokrat den Verein „Gegen Vergessen –
Für Demokratie“. Aus Anlass des 19. Jahrestages des Mauerfalls vom
9. November 1989 sprach Constantin Graf von Hoensbroech mit dem
68-Jährigen.
„Gegen
Vergessen - Für Demokratie“ heißt der Verein, dem Sie vorsitzen.
Eigentlich ein schönes Anliegen, und doch stimmt andererseits sehr
nachdenklich, dass es offenbar einen solchen Verein geben muss...
Natürlich
wäre es schön, wenn wir unseren Vereinszweck einmal so weit
erreichen würden, dass wir den Verein auflösen können. Aber
bleiben wir Realisten. Es bleibt eine dauernde Aufgabe aller
entschlossenen Demokraten wie es eben die Vereinsgründer sind, auf
jede Art von Diktatur zu reagieren und unseren Beitrag vor allem zur
Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen zu leisten.
Der
seit Jahren zu beobachtende vielfach sorglose und
geschichtsverfälschende Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur
erinnert mich an den Ausspruch von Joseph Wulf, einen längst
verstorbenen Auschwitz-Überlebenden: „Ich habe hier 18 Bücher
über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine
Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann
in Bonn die demokratischste Regierung sein und die Massenmörder
gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“
Dieses
Zitat ist sehr treffend, weil es ein sehr wichtiges Phänomen
wiedergibt, das mich selbst Jahre lang ratlos gemacht hat: Die
Aufarbeitung der Vergangenheit, besonders die mit Schuld behaftete,
findet nicht als ein kathartischer Prozess statt. In der Regel stehen
zwei Sichtweisen und Traditionen, nämlich die der Opfer und die der
Täter, nebeneinander. Die Opfer wissen um die kriminelle Energie
einer Diktatur und nennen eine Diktatur Diktatur. Bei den Tätern
und vielen Mitläufern werden erstmal die Fakten in Frage gestellt
oder geleugnet, die Motive geschönt und mit Sprüchen wie ,Wenn das
der Führer oder Stalin oder Honecker gewusst hätte’ wird Unrecht
relativiert. Erst im nächsten Schritt werden Fakten dann nicht mehr
geleugnet und es kommt nach und nach zu einer Wiedergewinnung und
Anerkennung von geschichtlicher Realität. Erst im dritten Schritt
erfolgt schließlich die wirkliche Annahme von Schuld, die Akzeptanz
eigener Schuld. Und wenn das geschieht, wenn Scham und Trauer
zugelassen werden, hat ein kathartischer Prozess eingesetzt – spät
in der Regel. Diese Abfolge von verschiedenen Schritten beim Umgang
mit der kommunistischen Diktatur in Deutschland ist in einem Großteil
der ostdeutschen Gesellschaft längst noch nicht abgeschlossen.
Warum?
Da
befinden sich viele noch in einem Denken wie in der alten
Bundesrepublik Deutschland vor 1968. Es gibt im Osten ein Erinnern
ohne Schmerzen, ein selektives Erinnern an die Kindergärten, an
Vollbeschäftigung und andere Errungenschaften. Und schmerzhafte
Erinnerungen wie beispielsweise die Beugung von Grund- und
Menschenrechten, staatliches Unrecht, die nicht vorhandene
Gewaltenteilung oder das Fehlen freier Gewerkschaften finden sich nur
bei einem Teil der ostdeutschen Gesellschaft. Viele hüten sich, die
Frage nach Schuld und eigenem Versagen aufkommen zu lassen.
Was
meinen Sie in diesem Zusammenhang mit der alten Bundesrepublik bis
1968?
Man darf
die 68er nicht idealisieren, aber auch nicht dämonisieren. In erster
Linie sind es die Söhne und Töchter einer Generation, die die Frage
nach der Schuld am und im Nationalsozialismus nicht gestellt hat und
bewusst nicht stellen wollte. Wenn es ein Verdienst der 68er gibt,
dann womöglich dieses, das sie die Schuldfrage dauerhaft auf die
politische Agenda gesetzt haben. Das hat die politische Kultur und
den gesellschaftlichen Diskurs völlig verändert und auch zu einem
Sinneswandel geführt. Thesen, wie etwa die Unfähigkeit zu trauern,
konnten auf einmal diskutiert werden. Und was das Spannende daran
ist: Die Nation hat sich dadurch nicht verloren, sondern sie hat sich
im Verhältnis zu ihren Nachbarn und auch zu sich selbst gestärkt.
Wenn es im Johannes-Evangelium heißt: „Ihr werdet die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen “, so gilt das im
politischen und zwischenmenschlichen Bereich genau so wie im
religiösen.
Wenn
ich Ihre Ausführungen nun auf die Wendezeit 1989/90 projiziere,
verstehe ich Sie so, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit damals
schneller eingesetzt hat.
Richtig.
Der Schlussstrich, den viele in der Adenauer-Ära gern unter die
NS-Zeit gezogen hätten, ist durch 1968 nicht gezogen worden. Das ist
meines Erachtens auch ein entscheidender Grund dafür, dass nach 1989
unter die DDR-Vergangenheit auch kein Schlussstrich gezogen wurde und
der Prozess der Aufarbeitung rasch eingeleitet worden ist. Einen
Schlussstrich kann und wird es nicht geben, auch weil Deutschland
weltweit die ausgeprägteste und subtilste Erinnerungslandschaft,
bezogen auf die eigene Vergangenheit, aufgebaut hat.
Wie
sollte sich Ihrer Ansicht nach die Erinnerungskultur ganz praktisch
darstellen?
In drei
Schritten. Erstens geht es um das Sichern und Publizieren von Fakten.
Die Akten einer Diktatur sind die Apotheke gegen Nostalgie. Dazu
bedarf es offener Archive ebenso wie adäquater personeller und
finanzieller Ausstattung für Wissenschaft und Forschung. Und dazu
gehören dann auch die Museen, Gedenkstätten, Mahnmale und
Dokumentationszentren.Zweitens
sollten konkrete und verbindliche Ausbildungsziele für die Schulen
formuliert werden. In den Curricula müssen die Daten und Fakten über
beide deutsche Diktaturen festgeschrieben werden. Vielfach endet der
Geschichtsunterricht mit dem Ende der NS-Zeit. Das ist ähnlich wie
in der Schulzeit nach dem Nationalsozialismus, als der
Geschichtsunterricht auch lange vor der NS-Diktatur endete. Und
drittens müssen beispielsweise Journalisten oder bildende Künstler
sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Durch ihr Tun sprechen sie
die Menschen durch einen anderen Zugang an. Die erzählende und
nacherzählende Form erreicht die Menschen eben anders als die
dokumentierende oder lehrende. Denken Sie nur an Filme wie „Das
Leben der Anderen“ oder auch die Fernsehserie „Holocaust“.
Welche
Rolle kommt den beiden großen christlichen Kirchen in diesem
Erinnerungsgefüge zu?
Zunächst
werden sie tun, wozu sie gerufen sind: den Menschen die
Glaubensinhalte und die Nächstenliebe nahe bringen. So können sie
Menschen davor bewahren, falsche Götter anzubeten. Wer glaubt, kann
leichter einen Kern entwickeln, aus dem Widerstand erwächst.
Außerdem können sie dazu beitragen, im vorpolitischen Raum die
Beziehung und Begabung des Individuums zur Freiheit zu intensivieren.
Im
Westen scheint der Umgang mit Freiheit viel zu sorglos und
selbstverständlich, im Osten entsteht mitunter der Eindruck, man
fürchtet sich vor der Freiheit, statt die Chancen und Möglichkeiten
zu sehen.
Der große
Reiz der Freiheit ist dort verflogen. Wir sind aus dem Raum der
Sehnsucht herausgetreten und in der Realität angekommen. Es darf
aber nicht sein, dass das Spiel mit Ängsten und Sorgen die positive
Beziehung zu Freiheit so verstellt, dass nunmehr die Frage der
Sicherheit oder die Sorge um die persönliche Existenz auf möglichst
hohem ökonomischen Niveau im Zentrum steht.
Ist es
dieses Plädoyer für die Freiheit, die dem 9. November 1989 seine
historische Bedeutung verleiht?
Der
eigentliche Kulminationspunkt ist der 7. und 9. Oktober 1989 mit den
Demonstrationen in Plauen und Leipzig. Der Freiheitswille vom
Oktober, sein kraftvolles Motto ‚Wir sind das Volk’, die
Tatsache, dass aus Untertanen plötzlich Bürger geworden sind, all
das lässt die Mauer fallen. Das ist ein unglaubliches Geschenk der
Ostdeutschen an die ganze Nation. Weil wir die Freiheit errungen
haben, sind wir geeint und machen Unmögliches wie die
Wiedervereinigung oder das Verschwinden der Machtblöcke möglich.
Das muss immer wieder erinnert und verdeutlicht werden.
Gleichwohl
gibt es derzeit eine politische Partei, die sich dem entzieht und
damit offenbar viel Erfolg hat...
Die Linke
wird sich überleben, wenn sie kein aufgeklärtes Geschichtsbild hat
und sich der Nostalgie bedient. Mit dem Schüren von Ängsten und mit
populistischen Versprechungen wird man nicht ewig Erfolg haben.
Ist es
das Versagen der Bürgerlich-Konservativen, zu spät die inhaltliche
Auseinandersetzung mit den Linken gesucht zu haben?
Generell
ist es doch so, dass in der deutschen Kultur und in den Feuilletons
Gefahren von links eher weniger beachtet werden. Da ist man
möglicherweise zu duldsam und hat die Demokratiedefizite der Linken
zu wenig diskutiert oder deren Simplifizierungen wirtschaftlicher
Zusammenhänge nicht beachtet oder deren Populismus unterschätzt.
Andererseits: Die PDS oder jetzt Die Linke ist keine alte
kommunistische Partei sowjetischer Prägung. Von ihren Mitgliedern
und Wählern her ist das eine Mixtur unterschiedlicher linker
Positionen. Es gibt übrigens auch eine Gruppierung innerhalb dieser
Partei, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzt.
Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich eben auch kommunalpolitische
Bündnisse von Konservativen mit Linken erklären. Da geht es um
pragmatische Zweckbündnisse und die bürgernahe Lösung von
Problemen. Dies alles ändert für mich aber nichts daran, dass ich
diese Partei für überflüssig halte.
Ist
DDR-Nostalgie eine Gefahr für die Demokratie?
Aber
selbstverständlich. Ostalgie verringert all das, was unsere
Demokratie ausmacht. Durch selektives Erinnern, Bagatellisierungen
und Leugnen droht die politische Urteilsfähigkeit bei der
grundsätzlichen Unterscheidung von Diktatur und Demokratie verloren
zu gehen.
Welche
Rolle kommt den Stasi-Akten zu?
Die
juristische Aufarbeitung ist eigentlich beendet, das meiste, außer
Mord, ist verjährt. Es ist gut, dass es einen längeren Zeitraum als
die ursprünglich vereinbarten und bereits abgelaufenen 15 Jahre
gibt, in denen Personen für bestimmte Tätigkeiten hinsichtlich
einer möglichen Stasi-Verstrickung überprüft werden können. Die
weitere Zugänglichkeit der Akten muss darüber hinaus in der
aktuellen und bewährten Form gewährleistet bleiben.
Gestatten
Sie zum Schluss eine einfache, persönliche Frage an Joachim Gauck,
dessen Biographie in so bewegender Weise einen Teil der
deutsch-deutschen Geschichte widerspiegelt: Wie fühlen Sie sich
heute?
Ich habe
50 Jahre lang unter Diktatoren gelebt. Das ist seit 1989 vorbei; ich
bin glücklich und freue mich täglich, dass ich in Freiheit leben
darf.
Der Verein im Internet: www.gegen-vergessen.de
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