Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 25.05.09 |
von Rainer Eppelmann und Markus Meckel
Rainer Eppelmann, 66, musste in den 60ern wegen Wehrdienstverweigerung
in der DDR ins Gefängnis. Später war er Pfarrer in der Berliner
Samaritergemeinde,1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs. 1990 wurde er
Minister für Abrüstung und Verteidigung. Für die CDU saß er im Bundestag.
Eppelmann ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur.
Markus Meckel, 56, engagierte sich schon als Pfarrer in
Vipperow/Müritz für die Opposition in der DDR. Mit Martin Gutzeit gründete er
1989 die Sozialdemokratische Partei in der DDR. Von April bis August 1990 war
er DDR-Außenminister. Seit der Wiedervereinigung gehört er der SPD-Fraktion im
Bundestag an. Meckel ist Vorsitzender des Stiftungsrates in der Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Herr Meckel, konnten Sie sich vorstellen, dass die DDR
jemals aufhören würde zu existieren?
Markus Meckel: Daran dachten wir damals noch nicht. Es
ging um Freiheit, als sich in den frühen achtziger Jahren die Friedensgruppen
gründeten. Im Februar 1983 trafen sich die ersten Basisgruppen unter dem Motto
"Konkret für den Frieden". Man lernte andere kennen, sammelte
Telefonnummern. Durch Michail Gorbatschow bekamen wir neue Perspektiven. Ich
hatte ungefähr ab 1987 den Eindruck, dass Gorbatschow nicht die Panzer rollen
lassen würde. Die Frage der Einheit beschäftigte uns nicht, das schien zu
unrealistisch im geteilten Europa.
Rainer Eppelmann: Wir wollten die DDR offener und menschenfreundlicher
machen. Ich hatte mir verboten, weiterzudenken. Ich wusste nicht, warum über
300000 sowjetische Soldaten die DDR verlassen sollten, wo es sie wahnsinnig
viel gekostet hatte, bis an die Elbe zu kommen. Alles, was wir taten, war ein
Bemühen um die Menschen in unseren Gemeinden. Dieses Tun wurde immer
politischer. Zum Beispiel 1982, als ich mit Robert Havemann den Berliner Appell
veröffentlichte. Darin forderten wir, verbunden mit einer
Unterschriftensammlung, eine regierungsunabhängige Friedensbewegung. Der
Qualitätssprung kam, als wir später sagten: Wir müssen politische Alternativen
gründen, um den ewigen Machtanspruch der SED infrage zu stellen. Wir waren so
vorsichtig, das zunächst nicht Partei zu nennen. Wer die heilige Kuh SED in
Frage stellte, konnte juristisch belangt werden.
Meckel: Das Problem war, dass es keine Tradition der
Opposition gab. Wer politisch unter Druck geriet, ging bis 1961 in den Westen
oder wurde - nach dem Mauerbau - freigekauft. Anders als die Polen, Tschechen,
Slowaken und Ungarn litten wir unter einem ständigen Abfluss an kritischen
Denkern. Dann wurde die Friedensfrage durch die Nachrüstung brisant, so dass
sich die Gruppen vernetzten. Der Friedenkreis in meinem Dorf Vipperow in
Mecklenburg fing ganz banal an: Mich fragte ein Bekannter, was man gegen die
Raketen machen könnte. Weil sich das nicht im Vorbeigehen klären ließ,
verabredeten wir uns. Auf einmal saßen 20 Leute in meinem Wohnzimmer. Ich
kannte nur die Hälfte.
Waren das Kirchenleute?
Meckel: Nicht alle. Mein Landessuperintendent sah das wie
viele andere in der Kirche kritisch, er sagte: "Andere Landpastoren
züchten Bienen, der Meckel macht seine Politik." Als die Vollversammlung
des Ökumenischen Rates 1983 in Vancouver einen "Konziliaren Prozess für
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" einleitete, bekamen
die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in der Kirche viel mehr
Anerkennung.
Eppelmann: Die Supermächte rüsteten Atomraketen nach. Wir
dachten: Um Gottes willen, wie oft wollen sie die Erde denn vernichten? Wir in
der DDR gerieten in Konflikt mit einem Land, das sich permanent als
Friedensstaat bezeichnete. Als ob nur die Pershings der Amerikaner des Teufels
wären und die SS-20 der Sowjets Friedenstauben. Strategisch war das eine Chance:
Wenn wir den Frieden thematisierten, konnten die Oberen eigentlich nichts
dagegen machen. Als es mit dem Stichwort Frieden lief, kamen die anderen Themen
- Umwelt, Menschenrechte.
Warum entstanden Friedensgruppen im Umfeld der Kirche?
Eppelmann: Es gab in der DDR eine Verordnung, danach
konnte theoretisch jeder Veranstaltungen machen, hätte aber nie eine
Genehmigung gekriegt. Die einzige Ausnahme war die Kirche mit ihren
gottesdienstlichen Veranstaltungen.
Meckel: Der Staat wollte die Kirche auf Gottesdienste
festlegen. Wir bestanden darauf, dass Kirche selbst bestimmt, wie christliche
Verkündigung aussieht. So erhielten Künstler und Schriftsteller, die sonst
keine Gelegenheit dazu hatten, Möglichkeiten aufzutreten. Besonders in den
Friedensdekaden im November gab es viele Veranstaltungen zu den
Hersausforderungen dieser Zeit.
Warum waren - so wie Sie beide - viele Pfarrer an der friedlichen
Revolution beteiligt?
Meckel: Aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung im offenen
Umgang mit Menschen. Als ich aus politischen Gründen nach der 10. Klasse von
der Schule geflogen war, konnte ich nur an einer kirchlichen Schule mein Abitur
machen. Später als DDR-Außenminister hatte ich als anerkannte Ausbildung nur
meinen 10.-Klasse-Abschluss. Faktisch hatte ich intensiv studiert, 15 Semester
lang - und zwar völlig frei. Das gab es sonst nicht.
Eppelmann: Nur in der Kirche konnte man freie Rede üben. Auch
deshalb saßen später an den runden Tischen sehr viele Kirchenleute. Noch etwas
ist wichtig, die soziale Absicherung: 1966 war ich acht Monate im Zuchthaus.
Zum Glück war ich damals noch allein! Später als Familienvater wusste ich: Wenn
sie mich einsperren, wird die Kirche mich weiterbezahlen. Meine Frau und die
Kinder hätten nicht hungern müssen.
Die Staatssicherheit beobachtete Sie. Hatten Sie Angst?
Eppelmann: Ja. In dem Haus in Hohenschönhausen, in dem wir
lebten, ließ sich die Klappe zum Kohlenkeller nicht schließen. Manchmal bin ich
mit einem - Entschuldigung! -Scheißgefühl runter in den Keller. Ich wusste:
Theoretisch kann da einer mit der Eisenstange stehen. Heute weiß ich, dass die
bei der Stasi ernsthaft überlegten, wie sie mich umbringen könnten.
Meckel: Daran, dass die Stasi mich physisch angehen könnte,
dachte ich nicht. Angst hatte ich um meine Familie. Es gab Erpressungsversuche,
die Folgen für meine Familie androhten. Das ging mir sehr nahe. Und als ich am
26. August 1989 in der Berliner Golgathakirche den Aufruf zur Gründung der
Sozialdemokratischen Partei verlas, zitterte mein rechtes Knie. Das war mir
vorher nur bei meiner allerersten Predigt passiert. Natürlich rechneten wir
damit, verhaftet zu werden.
Plötzlich kamen Ihnen als Pfarrer Aufgaben zu, auf die Sie nicht
vorbereitet waren - wie haben Sie das geschafft?
Eppelmann: Man wuchs mit den einzelnen Aktionen in diese Rolle
hinein. Ein Beispiel: Wir wussten, dass bei Wahlen in der DDR betrogen wurde.
Also beobachteten wir als Kirchenleute 1989 bei der Kommunalwahl in einem
Friedrichshainer Wahllokal die Stimmenauszählung und konnten nachweisen: Der
SED sind 80 Prozent nicht genug, die haben beschissen, um auf 105 Prozent zu
kommen! Das waren Betrüger, und das erkannten durch uns auch viele, die
eigentlich zu ängstlich waren, sich in die Politik einzumischen. Für diese
Menschen musste ich da sein.
Meckel: Und dann war da der 4. Juni, das Massaker auf dem
Platz des Himmlischen Friedens. Egon Krenz begrüßte das Vorgehen der Chinesen.
Die Leute bekamen Angst, dass nicht Gorbatschow, sondern Peking die Perspektive
für die DDR sei. Als dann aber am 9. Oktober, dem Tag der DDR-weiten
Großdemonstrationen, nicht geschossen wurde, war klar: Wir werden es schaffen,
eine Demokratie aufzubauen. Dafür musste man aber bereit sein, selbst
Verantwortung zu übernehmen. Übrigens: Nicht der 9. November ist für mich der
Tag der Freiheit, sondern der 9. Oktober.
Eppelmann: Das Ziel der SED war, die Leute von der Straße zu
kriegen. Deswegen redete Egon Krenz auch von Wende - damit er weiterregieren
konnte. Zwischenzeitlich waren aber eineinhalb bis zwei Millionen DDR-Bürger
wenigstens ein Mal auf einer Demonstration gewesen. Das war eine schrittweise
Selbstbefreiung. Als Günter Schabowski am 9. November auf der berühmten
Pressekonferenz die neue Reiseregelung verkündete, dachten die Leute:
"Na, jetzt kieken wir mal, was los ist!" Früher wären sie brav am
nächsten Tag zur Volkspolizei-Dienststelle gegangen, um die Reise zu
beantragen. Das war vorbei. Ich ging zum Grenzübergang Bornholmer Straße, da
standen sie schon und riefen: "Na, nun macht doch mal uff!" Weil sie
nicht aufmachten, machten wir es eben alleine. Ich kann nur sagen: Es ging ganz
leicht.
Meckel: Plötzlich wurde die deutsche Einheit zu einem Ziel.
Bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 kamen die
Parteien, die für eine Vereinigung eintraten, auf 80 Prozent. Warum diese freie
Wahl? Warum ein runder Tisch, der die Wahlen einleitete? Wir wollten die
Einheit, aber sie musste ausgehandelt werden. Wer verhandeln will, braucht ein
Mandat. Diese Legitimation gab es nur durch freie Wahlen.
Eppelmann: Helmut Kohl wird Kanzler der Einheit genannt.
Andere sagen, Willy Brandt mit seinem Ausspruch "Jetzt wächst zusammen,
was zusammengehört" sei es gewesen. Ich sage: Ohne die
Selbstdemokratisierung der DDR hätte es eine Eroberung oder einen Anschluss
geben können - aber keine wirkliche Einheit.
Meckel: Viele Ostdeutsche sehen das anders; sie sagen, die DDR
sei überrannt worden. Ich finde, das ist falsch. Die Ostdeutschen sind
selbstbewusst und selbstbestimmt in die Einheit gegangen.
Wie kam es, dass Sie im Kabinett von Lothar de Maizière, der letzten
DDR-Regierung, Minister wurden?
Eppelmann: Ich war als Vorsitzender des Demokratischen
Aufbruchs an der Regierungsbildung beteiligt und wusste, dass Lothar de
Maizière auf mich zukommen könnte, um mir ein Ministerium anzubieten. Da konnte
ich doch schlecht sagen: "April, April, war alles gar nicht so ernst
gemeint." Mir sind - Markus, das hörst du wahrscheinlich zum ersten Mal -
drei Ministerien mit "A" eingefallen: Arbeit und Soziales, Außenministerium
oder Abrüstung. Als de Maizière mich fragte "Wollen Sie Minister für
Verteidigung werden?", antwortete ich: "Nein, aber Minister für
Abrüstung." Ich glaube, das war weise. Hätte es ein Offizier machen
sollen, ein früherer Knecht Honeckers? Um Gottes willen!
Meckel: Mir waren die europäische Akzeptanz und besonders die
dauerhafte Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze wichtig. Das wollte ich
verhandeln, also wollte ich Außenminister werden. Und wir wollten die Abrüstung
voranbringen.
Eppelmann: Der politisch größte Moment war, als ich das erste
Mal in Strausberg im Ministerium war und die Generäle vor mir antraten. Da war
klar: Wir haben gewonnen. Diese Leute konnten nicht verhindern, dass ihre
Machtsäulen in die Hände der - in Anführungszeichen - Konterrevolutionäre
geraten waren.
Enge Vertraute entpuppten sich als Stasispitzel. Bei Ihnen, Herr
Meckel, war es Ibrahim Böhme, bei Ihnen, Herr Eppelmann, war es Wolfgang
Schnur.
Meckel: Die Frage nach der Stasi im eigenen Umfeld stellte
sich schon lange vor der Revolution. Wenn man einen Verdacht hatte, versuchte
man das zu klären, aber hundertprozentige Gewissheit gab es nicht. Ich lernte
Ibrahim Böhme 1984 kennen, und nach einer Woche hörte ich zum ersten Mal von
Gerüchten, dass er für die Stasi arbeite. Mal vertraute ich ihm, mal misstraute
ich ihm. Es war eine schwierige Kiste, damit umzugehen.
Eppelmann: Wolfgang Schnur war ein Freund, seine
Stasiaktivität hat mich geschockt. Das war, wie wenn meine Frau jahrelang
fremdgegangen wäre. Richtig unanständig. Als er nach seinem Geständnis
erzählte, dass er seine Geschichte an den "Stern" verkauft hatte,
wurde mir schlecht. Da vermarktet der noch seine Schweinegeschichte. Einmal bin
ich ihm wieder begegnet, vor Gericht, ich sollte als Zeuge aussagen. Ich komme
die Treppe hoch, er dreht sich um und streckt mir seine Hand entgegen. Er hatte
jahrelang nie versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte:
"Entschuldigung, Wolfgang, bevor ich dir die Hand gebe, muss von deiner
Seite aus viel passieren." Ich versuche, als Christ zu leben, dazu gehört
Vergebung. Aber als Theologe weiß ich, dass es keine billige Gnade gibt. Wenn
mich jemand um Vergebung bittet, muss er bereuen. Ein anderes Erlebnis: Der
Stasioffizier, der die 41 Inoffiziellen Mitarbeiter gegen mich geführt hat,
hätte mich doch verständnislos angeguckt, wenn ich ihm hätte vergeben wollen.
Ich hatte ihn über eine Zeitungsannonce kennengelernt. Wir tranken eine Tasse Kaffee,
und unaufgefordert sagte er: "Ich habe mich bei Ihnen nicht zu
entschuldigen, Sie waren gegen meinen geheiligten Staat, und damit waren alle
Mittel recht."
Meckel: Als ich gehört hatte, dass Ibrahim Böhme im Sterben
lag, besuchte ich ihn. Er sollte die Chance haben, sich auszusprechen. Aber als
er nur zu Small Talk bereit war, sagte ich: "Das ist kein Besuch allein
zur besseren Genesung."
In diesem Jahr liegt die friedliche Revolution 20 Jahre zurück. Was
haben wir aus diesen Jahren gemacht?
Meckel: Wir wollten dieses vereinte Deutschland. Ich habe
mit der Einheit nicht den Himmel auf Erden erwartet, sondern demokratische
Strukturen und die Chance, dass Europa zusammenwachsen kann. Ich finde weltweit
kein besseres System als unser Grundgesetz. Viele in Europa hatten Angst vor
einer Art Großdeutschland. Wir sind das größte Land der EU. Da ist
Fingerspitzengefühl nötig, und wir sind mit dieser Verantwortung bisher gut
umgegangen. Als Deutsche sind wir Europäer. Europa erwartet von uns, dass wir
Verantwortung übernehmen, einschließlich militärischer Mittel. Ich selbst habe
als 17-Jähriger den Wehrdienst in der DDR total verweigert. Als vor einigen
Jahren einer meiner Söhne ähnlich pazifistisch für den Zivildienst
argumentierte wie ich damals, redeten wir lange darüber. Ich bin heute
überzeugt, dass wir Militär brauchen, auch für Friedenseinsätze.
Eppelmann: Ich habe die Unterschiede zwischen Diktatur und
Demokratie erlebt. Aus tiefer Überzeugung sage ich: nie wieder Diktatur! Heute
erlebe ich Menschen, 20 Jahre und jünger, die - glücklicherweise - nie meine
Erfahrung machen mussten. Viele von ihnen fragen nur danach, wie sie ihre
Wünsche umsetzen können und wie gefüllt ihr Portemonnaie dafür sein muss. Ob
sie in diktatorischen oder demokratischen Strukturen leben, ist nicht so
wichtig. Ich war immer der Meinung, dass sich 1933 nicht wiederholen kann, weil
wir unsere Lektion gelernt haben. Heute denke ich, das gilt nur für die
Menschen, die die Folgen von 1933 erlebt haben. Den Nachgeborenen gegenüber haben
wir die Pflicht und Schuldigkeit, ihnen unsere Erfahrungen zu vermitteln. Die
Stasi schätzte mal, wie groß der harte Kern der kirchlichen Friedensbewegung
war: Es waren nur 500 bis 600 Menschen in der DDR. Das will ich den Jungen
sagen: Selbst 500 bis 600 Leute können, wenn sie nicht verzweifeln, etwas
erreichen! Mir fällt dazu der Satz von Václav Havel ein: "Hoffnung ist
nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht, sondern die Gewissheit,
dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."
©-Vermerk: www.chrismon.de
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