Erschienen in Ausgabe: No. 23 (3/2005) | Letzte Änderung: 25.05.09 |
von Lutz Rathenow
Kein Erbe aus DDR-Zeiten ist vielen Menschen so lästig und beschäftigt
sie gleichzeitig so anhaltend wie jene Akten der Staatssicherheit.
Innenminister Schily hat seine Zuständigkeit darüber quasi über Nacht
an die Ministerin für Kultur weitergereicht. Als ob diese Akten
plötzlich nur noch ein Archivgut seien, das möglichst unauffällig
verwahrt werden muss.
Dabei stellten auch im Jahr 2004 an die Hunderttausend Privat-Personen
einen neuen Antrag auf Akteneinsicht. Seit Einrichtung der
Stasi-Unterlagenbehörde wurden - so ihr Pressesprecher - ca. zwei
Millionen Anträge auf Akteneinsicht, Kopienherausgabe und
Decknamenentschlüsselung bearbeitet.
Decknamenentschlüsselung - was für ein zähes und abstraktes Wort. Die
Akten geben in aller Verschwommenheit und gleichzeitiger Exaktheit
einen bürokratisch durchregelten Fanatismus exemplarisch wieder. Das
DDR-System entblößt sich in ihnen zu einer ihm spezifischen
Kenntlichkeit. Statt ständig über die Vergleichbarkeit oder
Unvergleichbarkeit von DDR und Nazi-Regime zu räsonieren (man müsste
dann ohnehin die Sowjetunion und die Nazi-Herrschaft vergleichen),
sollte man das in seinen Eigenheiten darstellen, was sich anhand der
Akten vorzüglich darstellen lässt.
Diktaturprävention durch Analyse? Ein großes Wort. Die Nachwirkungen
dieser Vergangenheit werden nach dem Beitritt anderer
ostmitteleuropäischer Staaten im Mai jedenfalls im gewachsenen Maße
unser aller europäische Gegenwart. Es geht um Glaubwürdigkeit und
Maßstäbe für Schuld und die Integrierbarkeit alter politischer Eliten.
Marianne Birthler verwies mehrfach auf diese osteuropäische Perspektive
einer Diskussion im vereinten Europa, auch die neuen Politiker des
Iraks meldeten längst Interesse an einer deutschen
Aktenbesichtigungshilfe an.
Vielleicht wollten manche im Herbst 89 die DDR nur loswerden, um
endlich einmal besichtigen zu können, in welcher Form ganz konkret sie
durch den Geheimdienst bespitzelt und dirigiert worden sind. Die
Akteneinsicht hat neben der politischen immer noch eine therapeutische
und eine pädagogische Komponente. Sie konnte bisher aus gutem Grund an
jenen Orten durchgeführt werden, von denen in den Bezirkshauptstädten
der DDR die Überwachung und das Einwirken auf die Lebenszusammenhänge
ausging.
Erstaunlich wie die Akten jedes Jahr immer im unerwarteten Moment
Diskussionen über die Verstrickungen Einzelner provozieren. Auch 2004
war das mit dem sächsischen Landesvorsitzenden der PDS oder mit dem
Bewerber für die Opernstiftung Berlins Michael Schindhelm so. Nur Akten
können da auch Leute entlasten oder Schuld relativieren.
2035 gehen jene in Rente, die beim Verschwinden der DDR 20 Jahre alt
waren und vielleicht als 18-Jährige eine kurze, aber heftige
Stasi-Karriere hinter sich hatten. Natürlich gibt es 2035 keine
Überprüfungen mehr, aber peinliche Papiere bleiben auch so für Menschen
mit politischer Verantwortung peinlich. Auch 80-Jährige streiten noch
gern und hartnäckig über ihre Kompetenz bezüglich der Vergangenheit. Ab
2050 dürften die Akten endgültig zu etwas geworden sein, das als
normales Archivgut der Bundesrepublik eingelagert werden kann. Sie
könnten dann als Weltkulturerbe der DDR ein repressives System in
seiner negativen Kreativität präsentieren.
200 Kilometer ergeben sie heute nebeneinander gelegt. ihnen offenbaren
sich die Innereien einer Macht, die sie nie preisgeben wollte.
Sowjetische Systemvorgabe und preußisch durchherrschter
Verschriftungsgeist gehen eine verblüffende und gleichzeitig sinnlose
Allianz ein. Das DDR-System entblößt sich zu einer ihm eigenen
spezifischen Kenntlichkeit.
Manchmal wächst zusammen, was nicht zueinander zu gehören scheint:
Jahrzehnte alte Akten und die Möglichkeit einer in die Zukunft
weisenden Technologie. Denn die meisten Neuigkeiten und
Hintergrundkenntnisse dürften in den so genannten vorvernichteten Akten
verborgen liegen. Es geht um die im Herbst 89 von Stasi-Mitarbeitern
zerrissenen und dann in Säcke gestopfte Seiten. Über 250 solcher
Schnipselsäcke haben Menschen im bayrischen Zirntorf per Hand zu
lesbaren Blättern zusammengepuzzelt. Bei jetziger Geschwindigkeit und
Mitarbeiterzahl würde es für die restlichen 15.000 Säcke an die 500
Jahre brauchen.
Und da kommt das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und
Konstruktionstechnik ins Spiel. Zusammen mit der Lufthansa-Systems GmbH
bieten sie ein Computerprogramm zur Zusammensetzung zerstörter
Dokumente an. Eigens für diese Akten entwickelt. Es könnte später in
der Archäologie oder bei der Rekonstruktion beschädigter Archivalien in
Museen eingesetzt werden. So lösen alte Akten High-Tech-Phantasien für
eine Zukunft auf dem Markt aus. Der Innenausschuss des Bundestages
vertagte die Bereitstellung der nötigen Summe für einen Probelauf mit
Hinweisen auf die Pannen beim Toll-Collect-System der Lkw-Maut. Ein
Schelm, wer da nicht an das auch Ende 2003 vorgelegte 1261 Seiten
starkes Dossier über den amtierenden Verkehrsminister Manfred Stolpe
über dessen Stasi-Verwicklungen denkt.
Aber nun funktioniert das ja und es gibt keine Ausrede mehr, 2005 mit
dem Einscannen der vorvernichteten Akten zu beginnen. Das ist eine
Frage der Glaubwürdigkeit, die braucht eine handlungsfähige
Birthler-Behörde, die die nächsten Jahre auf verschiedenen Ebenen
gleichzeitig arbeiten muss. Damit diese Akten möglichst schnell zum nur
noch historisch interessanten Kulturgut werden.
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