Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 25.05.09 |
von Marco Meng
Man kann einem Blinden einen Stummfilm zeigen,
macht ihm aber dadurch wohl nur wenig Freude. So lässt sich vielleicht
plastisch unser Verhältnis zum Fortschritt beschreiben. Wir wissen, dass sich
die Welt in den letzten Jahrhunderten enorm verändert hat, wobei wir annehmen,
sie veränderte sich zum Besseren. Waren wir jemals so frei und so aufgeklärt
wie heute? Die Tatsache aber, dass jeden Tag tausende Menschen verhungern und
wieder abertausende unterdrückt, eingesperrt und sogar aus „Staatsraison“
getötet werden, scheint das Gegenteil zu beweisen; aber auch unser eigenes
tägliches Verhalten, unsere Affekte und Triebe, sind nicht unbedingt als
„fortgeschritten“ zu bewerten. So stellt sich also die Frage, was unter dem
Begriff „Fortschritt“ zu verstehen ist. Ist
Fortschritt, einem Fotomodell, das für Hautcreme wirbt, mittels Computertechnik
zu noch blaueren, leuchtenderen Augen zu verhelfen? Oder ist Fortschritt, dass
wir auch im Winter im Supermarkt Erdbeeren kaufen können?
Wenn wir an Zukunft,
sprich: Fortschritt denken, schwebt uns stets nur eine technische Verbesserung
vor - uns selbst, unser eigenes Denken und Handeln, meinen wir dabei nie.
Sollte sich wirklich bloß die Technik weiterentwickeln - aber nicht der Mensch
und sein Menschsein?
Die technischen
Revolutionen des letzten Jahrhunderts (und das waren nicht wenige), haben den
Gegensatz von Arm und Reich, auch von Unterdrückten und Unterdrückern nicht
aufgehoben und auch nicht gemildert. Der technische Fortschritt hebt eben keine
Ungerechtigkeiten und keine Ungleichbehandlungen auf, er macht das Leben nur
denen erträglicher, die es ohnehin besser haben, könnte man zynisch behaupten.
Das Internet ist als eine
Art technische Revolution bezeichnet worden, deren Auswirkungen im ganzen noch
nicht zu überschauen sind. „Das Netz ist ein Medium, das uns informiert, das
uns noch mehr verbindet, uns noch näher zusammenrücken lässt“, hört man manches
Mal. Ist dem wirklich so? Hat sich durch all die Informationen, die uns nun im
Internet zur Verfügung stehen, unser Verhalten auf der Straße, unser Menschsein
verändert? Wird die Welt irgendwann gerechter und „besser“? Die Frage ist hier
allerdings, ob wir unter besser wieder nur eine ausgewogenere Verteilung
von PKWs unter der Weltbevölkerung oder vielleicht doch etwas anderes
verstehen.
Wie wird sich unser Denken
in den nächsten Jahren durch Internet und Massenmedien verändern? Alles ist am
Ende schon gesagt, alles geschrieben, jedes Lied schon komponiert worden. Allein
die Frage aller Fragen lautet: kann der Charakter des Menschen sich überhaupt
weiterentwickeln, verbessern?
Mit Fortschritt bezeichnen
wir üblicherweise ein bequemeres Leben: der Weg zum Glück soll einfacher
werden. Voraussetzung ist allerdings, dass es dorthin überhaupt einen Weg gibt.
Meint der Mensch nämlich, „das Glück“
gefunden zu haben, ist es ihm gleich wieder entronnen, und es bleibt ihm
nichts, als ihm weiter hinterher zu jagen - ein Zustand, der das ganze Leben
andauert und bestimmt. Alle Philosophien beschäftigen sich mit der Suche nach
dem Glück und manche, wie z. B. die Stoische Ethik, behaupten: Glück ist
innerer Friede und Ruhe des Geistes. Wenn man sich indes vor Augen hält, dass
es bereits vor Jahrtausenden mit Beginn der Philosophie weit über hundert
Lehrmeinungen darüber gab, was Glück überhaupt sei, so könnte man daraus
getrost den Schluss ziehen, dass Glück nicht abschließend definierbar sei. Ist
man vielleicht am glücklichsten, je weniger man vom Leben begreift?
In einer Gesellschaft, in
der einem täglich vorgegaukelt wird, alles sei erreichbar, alles verfügbar,
alles, jede Naturressource, müsste ausgenützt und verbraucht werden zu unserem
eigenen Wohlbefinden, ist die Unfähigkeit zu menschlichem Miteinander
vorprogrammiert. Wer zufrieden oder gar bescheiden ist, ist selber schuld. Da
sitzen sie alle in Internetcafés und blättern Fotos und Daten auf der Suche
nach dem idealen Partner durch, tatsächlich in dem Glauben, dass es diesen
wirklich - so wie man ihn haben will - gibt. Vielleicht schafft es ja bald die
Genindustrie, den idealen Model-Partner fürs Leben nach Wunsch zu kreieren,
Zahlung per Nachnahme: sollte an diesem dann eine Eigenschaft gefunden werden,
die einem nicht gefällt, ist Umtausch innerhalb von 14 Tagen möglich. Weil wir
Mobiltelefone erfunden haben, können wir nicht ohne sie leben - aber hätten wir
nicht genauso gut ohne sie leben können? So manche „Errungenschaft“ scheint nichts
weiter als banale Spielerei zu sein. Zweifelsohne hat der Mensch die Erde in
den letzten 1000 Jahren, ja schon allein in den letzten 100 Jahren in
vielfältigster Weise verändert - sich selbst allerdings kaum. Technischer
Fortschritts und Glück – so die nüchterne Erkenntnis - hängen nicht
notwendigerweise zusammen. Darin lag schließlich auch der Kern der antiken, zu
schweigen von den östlichen Philosophien: Nicht durch die Lösung von Problemen
erreicht man einen höheren Grad des Glücks. Deshalb brauchen wir den
technischen Fortschritt gar nicht wirklich, eher lassen wir uns von seinem Reiz
und seiner Macht betören. Wir haben gemerkt, dass wissenschaftlicher
Fortschritt leichter zu erlangen ist als wirklicher Fortschritt, nämlich der in
uns selbst - und aus Faulheit haben wir uns für den bequemeren Weg entschieden.
Und ist unsere westeuropäische Friedfertigkeit (und die US-amerikanische
Aggressivität) nichts anderes als die Angst davor, unseren technischen Standard
zu verlieren? Nichts wirklich ändert sich. Eine Welt voller Differenzen ist
aber eine, in der Unterordnung, Schmerz, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und
Ausgrenzung gedeihen können - und jeder einzelne für sich selbst sein Menschsein
finden und definieren muss. Marinettis Futuristen‑Hymne an den Krieg als
"Hygiene der Menschheit" oder Che Guevaras schauerlicher Wunsch nach
"zwei, drei... vielen Vietnam" ist inzwischen auch nur noch eine
Albernheit. Die grundlegenden, immanenten Probleme unseres Daseins sind nicht
durch Programme, Ideologien oder Religionen zu lösen, auch nicht durch
technische Erfindungen - sie liegen in uns selbst begründet, und können mit
keiner Wissenschaft, keiner Technik gelöst werden: es geht um unsere
Beziehungen mit unseren Mitmenschen und unserer Mitwelt – und um unsere
Beziehung zu uns selbst. Bei Fragen, ob und unter welchen Umständen man doch
vielleicht irgendwann, irgendwo Menschen klonen darf (und ähnliche durchaus
realen Schreckensvorstellungen) stellen wir uns in erster Linie immer die
Frage, ob wir etwas tun können, nicht warum wir es überhaupt sollen. Statt den
Krebs mit Gentechnik zu besiegen, sollten wir vielleicht einfach nur gesünder
leben? Der Traum von der Reise zum Mars ist inzwischen real geworden.
Vielleicht muss die Menschheit ja irgendwann einmal dort leben, heißt es zur
Begründung. Man sollte sich also schon mal mit den schlimmsten
Science-Fiction-Szenarien von einer im Weltall umherirrenden Menschheit
anfreunden. Wenn wir die Erde zerstört haben, gehen wir eben (jedenfalls die,
die sich dann das Ticket leisten können) woanders hin - so der unterschwellige
Tenor. Das ist dann wieder der einfachere Weg.
Unser Bemühen, fortzuschreiten ist – letztendlich
– nichts anderes als die Suche nach einem sinnvollen Leben, nach dem Sinn des
Lebens. Fast regelmäßig hört man von Berühmtheiten, die sich trotz ihrer mit
Millionen Dollar gefüllten Bankkonten das Leben nehmen – weil sie bei der
verzweifelten Suche nach Glück entdecken mussten, dass sie es in immer neuen
Ferraris, Segeljachten und dröhnenden Partys nicht fanden. Wie viele
Armleuchter gibt es, die Villen, Jachten und Ferraris besitzen, aber damit
nichts daran ändern können, dass sie doch nichts anderes als eben Armleuchter
sind? Ist Fortschritt also nur das Erreichen von bestimmten materiellen Zielen,
dann hat mich die Realität des Daseins bald mit all seinen Beschwernissen wieder
eingeholt, und uns bleibt nur, dem nächsten Zipfel dieses vermeintlichen Glücks
nachzujagen, denn nicht dadurch, dass jemand Luxusautos in seiner Garage parkt,
findet er Glück (nicht in der Größe des Reichtums), sondern in der Kleinheit
der Bedürfnisse, meinte schon Epikur. Immerhin: es bleibt zu überlegen, wie
unglücklich viele sich machen, indem sie sich gerade um nichts anderes bemühen
als eben darum, glücklich zu werden (was viele mit ständigem Haben-Wollen
verwechseln). Sind Hass, Missgunst, Gier und Nicht-Verzeihenkönnen fester
Bestandteil des Menschseins oder können sie durch einen Fortschritt überwunden
werden? Unglücklich macht uns jedenfalls oftmals, feststellen zu müssen, dass
wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen, und vielfach liegt das auch
einfach daran, dass wir gar nicht das Leben dessen leben, der wir wirklich
sind.
Warum wir als Fortschritt
in erster Linie darum Materielles bezeichnen, liegt auf der Hand: weil dem
Menschen Materielles immer das Wichtigste ist - es ist messbar.
„Der hat es zu was
gebracht“, sagt man darum, wenn jemand ein entsprechendes Haus oder Auto besitzt
(er kann dabei der gleiche dumme Idiot sein wie eh und je), nicht aber, wenn er
ein besonders einfühlsamer, sanftmütiger oder ehrlicher Mensch ist, denn das
ist nicht messbar. So sind auch die kommunistischen Systeme vor allem deswegen
zugrunde gegangen, weil die Menschen materiell gegenüber dem „Westen“
schlechter gestellt waren. Auf die ganze Meinungs- und Gedankenfreiheit hätten
viele gerne verzichtet, wenn sie ein entsprechendes Auto in der Garage gehabt
hätten. Und auf einen Künstler, sei er ein neuer Michelangelo oder Da Vinci,
sähen auch heute noch viele naserümpfend hinab, wenn ihn seine Kunst nicht
reich machen würde, da sich bei uns das Schlagwort vom „der Erfolg gibt recht“
eingebrannt hat. Wir haben die trügerische Vorstellung, Erfolg sei per se etwas
Gutes.
Auch heute noch würden
viele einen massenmordenden Alexander
als „groß“ bezeichnen, auf ihn „stolz“ sein und ihm Denkmäler errichten – man
sah im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und danach, dass immer die Mörder
auf der „anderen“ Seite die schlimmen sind; die auf der „eigenen“ Seite sind es
nicht. So bleibt zu überlegen, ob wir nach wie vor an der Oberfläche geblieben
sind und alle Weiterentwicklungen, die wir bislang sahen, nur äußerliche waren.
Solange der Mensch jedenfalls vorgibt, alles ändern zu wollen, außer sich
selbst, ist jede seiner Revolutionen zum Scheitern verurteilt.
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