Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 28.05.09 |
Boualem Sansal, Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller,Roman, Aus dem Französischen übertragen von Ulrich Zieger, Merlin Verlag, Gifkenkorn 2009, ISBN 978-3-87536-270-1, EUR 22,90
von Karim Akerma
„Hamburg, Harburg, Lüneburg, Soltau, Uelzen. Vier
Katzensprünge für einen einfachen Reisenden, ein schwindelerregender Abgrund
jedoch für einen gebrochenen Zombie...“ Das Vorkommen deutscher Städte im Roman
eines in Algerien lebenden, französisch schreibenden Autors ist keine
Selbstverständlichkeit. Uelzen ist der Geburtsort des SS-Mannes Hans Schiller,
der gebrochene Zombie der ältere von Schillers beiden Söhnen, Rachel, der sich
auf Reisen begibt, um das unbekannte Leben und Wirken des Vaters in Erfahrung
zu bringen. Zu dieser schwarzen Bildungsreise führt er Tagebuch.
Nach Rachels Selbstvergasung bei laufendem Automotor in der
Garage seines Wohnhauses, händigt die Polizei das Tagebuch dem jüngeren Bruder,
Malrich, aus. Mit Malrich, der selbst ein Tagebuch beginnen wird, lesen wir
Rachels Aufzeichnungen: „Es fiel mir schwer, Rachels Tagebuch zu lesen. Sein
Französisch ist nicht meines. Und das Wörterbuch half mir nicht, es schickte
mich von einer Seite zur nächsten.“ Damit ist eines der großen Themen des
Romans angesprochen. Das Leben in der französischen Banlieue, im vorstädtischen
Milieu, fernab von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Als Jugendliche
waren Rachel und Malrich von ihrem Vater aus der algerischen Heimat fort nach
Frankreich geschickt worden. Ihr Leben dort hat keinen gemeinsamen Nenner. Wie
so viele Menschen vergleichbarer Herkunft, ist Malrich weder in der Sprache der
Eltern zu Hause, noch hat er es im Französischen –der Sprache der neuen Heimat –zur Perfektion gebracht. „Wir stammen von
einer algerischen Mutter und einem deutschen Vater ab. Aïcha und Hans Schiller.
Rachel ist 1970 nach Frankreich gekommen, er war sieben Jahre alt. Aus seinen
Vornamen Rachid und Helmut wurde Rachel, das blieb so. Ich bin 1985 ausgereist,
ich war acht. Aus meinen Vornamen Malek und Ulrich wurde Malrich, das blieb
ebenfalls so.“
Im Unterschied zu Malrich ist Rachel in Frankreich
angekommen, kann Frau, Arbeit und Auto sein eigen nennen. Und ein Haus mit
Garage. Warum er sich darin vergasen musste, ist Kern des Romans: unabgegoltene
Schuld, ungerechtfertigte Existenz in Anbetracht des Judäozids. Dessen
Mitbetreiber der eigene Vater und SS-Mann. „Hans Schiller, du bist ein
Haderlump, der Schlimmste der Mörder... ich will, dass du bis ans Ende der
Zeiten in der Hölle brätst, und dass diejenigen, die du vergast hast,
wiederkommen, um dir ins Gesicht zu spucken! Du hattest nicht das Recht zu
leben, du hattest nicht das Recht, uns das Leben zu geben... Ich muss an Deiner
Stelle haften, ich werde für Dich bezahlen, Papa.“
Als dieser Fluch seines älteren Sohnes an ihn ergeht, weilt
Hans Schiller schon nicht mehr unter den Lebenden. Der Massenmörder war selbst
Opfer eines Massenmordes geworden. Am 24. April 1994, so erfährt Rachel am
darauffolgenden Tag in den Fernsehnachrichten, war das algerische Dorf Aïn Deb
von einer bewaffneten Gruppe umschlossen und seine Bewohner umgebracht worden.
Um zu trauern, begibt sich Rachel in das Dorf seiner Kindheit. „Man verlässt
die geteerte Landstraße ein paar Kabellängen von Sétif und stürzt sich
querfeldein in ein nacktes, geplagtes, schweigendes Land, das sich vor
unendlichen Horizonten ausdehnt..., die Leere und der Ocker sind überall, wo
das Auge verweilt. [...] Diese Erde ist ersonnen, um leer zu sein, sie erträgt
den Menschen nur so lange, bis sie das Mittel findet, sich seiner zu
entledigen.“ Im elterlichen Hause schlägt Rachel aus Dokumenten des Vaters die
bislang unbekannte SS-Vergangenheit entgegen. Rachel kehrt mit einer
veränderten Persönlichkeit aus Algerien zurück. Er versenkt sich in Literatur
zum Nationalsozialismus, verliert Frau und Arbeit, magert ab und lebt nur noch
so lange, wie er, auf den Spuren des Vaters, unterwegs ist. Seine schwarze
Bildungsreise führt den nicht nur des eigenen Lebens Müden zu den Stätten, an
denen der Vater lebte und wirkte und die er nach dem Untergang des „Dritten
Reiches“ ansteuerte, um sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Bis nach Ägypten,
von wo aus Hans Schiller als Berater der algerischen Befreiungsfront FLN
schließlich nach Algerien gelangt. In seiner neuen Heimat lebt Hans Schiller
als hochangesehener Mann. In seinem Dorf herrscht Ordnung, alles funktioniert.
Erst in Auschwitz endet Rachels negative Selbstvergewisserung. „Ich hatte
gelernt, meinem Vater im Geiste zu folgen, ich war imstande, im Lager
herumzulaufen, als wäre ich dort aufgewachsen. Es gibt nicht ein Detail seines
Tagesablaufs, das ich nicht in Betracht gezogen hätte. Papa war ein Mann der
Ordnung, präzise wie ein Metronom... Unser Leben in Aïn Deb war so, nach seiner
Uhr gestellt.“
In Ansehung der väterlichen Vergangenheit, die ihn mit der
Gewalt eines Hirnschlags heimsucht, stellt Rachel nicht nur sich selbst in
Frage. In Auschwitz sieht er die Menschheit von Gott verraten. „In ein paar
Stunden steigen sie als Rauch in den Himmel Gottes auf, dieses tauben, blinden
und intoleranten Gottes, den sie seit dem ersten Tag anbeten. Wie an diesen
Gott glauben? Ein Tier, ein Kater, eine Ratte, eine eiskalte Schlange spenden
der Menschheit mehr Wärme...“ Sansals Roman mündet in eine Gottesanklage, die
noch keine Theologie der Welt zu entkräften vermochte, die aber einem auch und
gerade in Algerien starken Islamismus zur Grundlage dienen könnte, diesen
bedeutenden Autor anklagelos im Namen Gottes zu richten. So ist der Autor
selbst denn auch dort am vernehmbarsten, wo ihm Das Dorf des Deutschen als
Vehikel dient, um eine deutliche Warnung auszusprechen, in den Worten Malrichs:
„Als meine Eltern und ihre Nachbarn aus dem Dorf von den Islamisten
hingemetzelt wurden, hat Rachel angefangen nachzudenken. Er hat verstanden,
dass der Islamismus und der Nazismus Jacke wie Hose sind. Er wollte sehen, was
uns bevorstand, wenn wir es laufen ließen wie in Deutschland, in Kabul und in
Algerien, wo die islamistischen Leichenhaufen sich nicht mehr zählen lassen,
wenn wir es bei uns, in Frankreich, so laufen lassen, wo sich die islamistische
Gestapo zahlenmäßig nicht mehr erfassen lässt.“ In der Banlieue französischer
Großstädte, flüstert uns der Autor zu, ist das Lager längst Gegenwart. Seine an
Oriana Fallaci gemahnende Warnung ist an alle diejenigen gerichtet, die das
Einsickern islamistischer Lebensformen in die Poren westlicher Großstädte –
noch sind es zumal deren Vorstädte – nicht als ernste Bedrohung wahrnehmen.
Infolge islamistischen Terrors und oft nur halbherziger bis
duldender oder gar provozierender Reaktionen des Militärs wurden in Algerien
circa 150000 Menschen teils auf bestialische Weise ermordet. Geduldet wird der
Islamismus in Algerien auch insofern, als Sansals Schriften in seiner Heimat
verboten sind. In ihnen kritisiert er nicht nur die islamistische
Glaubensentgleisung, sondern überdies den Umstand, dass die Geschicke des
Landes seit der Unabhängigkeit 1962 in den Händen von Militärs liegen. Hätte er
– ähnlich wie der seine Arbeit verlierende Tagebuchschreiber Rachel – seinen
Posten im algerischen Industrieministerium nicht bereits im Jahr 2003 verloren,
so spätestens nach dem Erscheinen dieses neuen Romans, der nahelegt, dass die
algerische Befreiungsfront FLN vom Wissen und Können von SS-Männern profitierte.
Mit Das Dorf des Deutschen hat Sansal ein in vielerlei
Hinsicht bedeutendes Buch vorgelegt. Sein Rang leuchtet bereits dann ein, wenn
man es auf dem Boden der nach wie vor denkbar unsensiblen Einstellung mancher
Araber zum Judäozid liest oder vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ein
iranischer Präsident sich erdreistet, den größten Massenmord der Geschichte zu
leugnen und damit Beifall findet. In Teilen der arabischsprachigen und
islamistisch ausgelegten Welt gilt der Judäozid nach wie vor oder erneut als
Erdichtung, aus dem der Staat Israel sein Existenzrecht herleitet, ein Recht,
welches Rachel sich abspricht, nachdem ihm klar geworden ist, dass, auf welche
Weise und an welchen Orten sein Vater als Chemiker an der Durchführung des
Unausdenkbaren beteiligt war.
Der von Ulrich Zieger vorgenommenen Übersetzung aus dem
Französischen ist bisweilen leider anzumerken, dass, wer von Übersetzungen
leben will, nicht immer die nötige Sorgfalt walten lassen kann, sondern schnell
nach dem Erstbesten greifen muss, was das Lexikon vorschlägt. Nur ein Beispiel:
Wo von den von morgens bis abends, sechs Tage die Woche, in schlechtbezahlten
Jobs tätigen Moussa, Abdallah, Arezki und „Ben Dingsbums“ der Banlieue die Rede
ist, lesen wir in der Übersetzung: „Wenn man sie vorüberhuschen sieht, sind es
vor Lachen sich biegende Schatten, die in die Nacht ziehen oder von dort
herkommen.“ „... des ombres pliées en deux...“ – dies sind allerdings nur
„gebeugte Schatten“, von Menschen geworfen, denen gerade nicht zum Lachen
zumute ist.
Im französischen Original finden sich zahlreiche, teils
unübersetzte deutsche Wortbrocken des Nazi- und SS-Jargons, die sich dem
französischen Leser allein durch ihre lautmalerische Anmutung erschließen
müssen: Sonderkommandos, Einsatzgruppen, Vernichtung lebensunwerten Lebens,
Befehl ist Befehl.
Die französische Originalausgabe erschien im Dezember 2007
unter dem Titel Le village de
l’allemand Ou le journal des
frères Schiller bei Gallimard, Paris, ISBN 978-2-07-078685-5
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