Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 08.06.09 |
Hans Peter Balmer, Montaigne und die Kunst der Frage, Grundzüge der Essais, Narr Francke Attempto Verlag Tübingen, Tübingen 2008, ISBN: 978-3-7720-8261-0
von Stefan Groß
Ein bemerkenswertes kleines Büchlein liegt nunmehr im Francke-Verlag
Tübingen vor. Bemerkenswert in zweierlei Hinsicht: Zum einen erweist es
sich als gut lesbare Einführung in die Denkkunst des Michel de Montaigne
(1533-1592). Zum andern wird der Grand-Seigneur des philosophischen Essays auf
seine Aktualität hin gelesen.
Daß Montaigne innerhalb der Philosophiegeschichtsschreibung
nie wirklich zum Mainstream gehörte, daß er immer wieder gegen die unendlichen
Mühlen des Cartesianismus und später von seinen Verächtern gegen den kantischen
Rigorismus anstreiten mußte, läßt einen der ersten Vertreter des bon sens, des
gesunden Menschenverstandes, als Lichtfigur der abendländischen
Geistesgeschichte erscheinen, als einen analytischen Denker, der vom konkreten
Fall ausgeht und die Welt nicht aus dem Blickwinkel des Dogmatischen
betrachtet.
Hier wird nirgends methodisch-mathematisch exakt deduziert,
hier wird die Welt nicht in den ewig sich selbst durchlaufenden Kreis des
Cogito ergo sum gepreßt. Montaigne bleibt bescheidener, wenn er an die Stelle ego
cogitans die Frage Que sais-je?, Was weiß ich?, stellt. Anstelle das ewige Ich
zu errichten, das sich als reflektierendes selbst gewinnt, stellt Montaigne,
wie Hans Peter Balmer herausarbeitet, das skeptische Argument, den
humanistischen Diskurs, das immer offen bleibende Gespräch, ja, letztendlich
die kommunikative Kompetenz, die zur wahrhaftigen conditio humana anleitet und führt.
Statt wie Spinoza deduzierend zu verfahren, ist es also der
Zweifel, der das denkende Ich immer wieder beschleicht, der die Subjektivität
als etwas höchst Gebrochenes und Unwissendes erscheinen läßt, als eine sich
stets und ständig hinterfragende.
Die Essais sind
die neuen Entdeckungen eines Philosophen ohne Vorbedacht und Plan, persönliche
Hinterlassenschaften von einem, der sich dem apodiktischen Wissen widersetzt,
der für Mäßigung eintritt und jeglichem Fanatismus den Kampf ansagt, der, wie
später Voltaire und die Aufklärung, für jene eintritt, die ins Abseits geraten
sind, die Entrechteten.
Montaigne ist, wie Balmer immer wieder nachzeichnet,
Skeptiker, Humanist, Sokratesschüler, Integralist und Humanist in einem. Seine
Philosophie taugt nicht zum Fundamentalismus. Dort, wo dieser religiös
entbrennt, liegt er in der Verantwortung der sogenannten Ismen. Dualistische
Weltbilder und philosophische Erklärungsmodelle bleiben Montaigne fremd; es ist
vielmehr das verbindende Element zwischen Gefühl und Verstand, das seine Essais
auszeichnet, das sein Denken als reflektiertes Empfinden erscheinen läßt.
So verwundert es nicht, daß der sich in den Essais
Ausdruck verschaffende Existentialismus, die Frage nach dem richtigen Leben,
nach dem gesunden Menschenverstand, zum zentralen Anliegen eines Denkens wird, in
dem sich die Vernunft immer wieder kritisch vor der stetig wiederkehrenden
Skepsis zu verantworten hat, wo also das richtige Leben nicht auf die Wahrheit
an sich, nicht auf die Ratio an sich, verkürzt wird, sondern wo es in der Vielheit
verschiedenster Seinsschichtungen vorurteilslos agiert – naturalia non sunt
turpia (Natürliches ist nicht schändlich).
Montaigne geht es „in stetig zunehmender Reflexivität darum,
zu entdecken und zu erproben, was es auf sich habe mit der menschlichen
Situation, innerhalb derer aller Handel und Wandel, alles Sprechen und Denken
sich entfaltet. Die Ermittlung, Überprüfung und Veranschaulichung der conditio
humana, das ist das Charakteristische und Bedeutsame, welches sein
essayistisches Verfahren zu einem spezifisch moralistischen Denken, zur
unverwechselbaren und unersetzlichen Leistung eines Künstlerphilosophen macht.“
Es ist der ganze Mensch, der Montaigne in den Blick gerät,
derjenige, der in seiner Lebenswelt verhaftet ist, für den eben nicht alles
Nichtsystematische „als bloß rhapsodisches Daherreden aus dem Bezirk strenger
Philosophie verbannt bleiben muss“. Die rein praktische Vernunft ist für den
Franzosen immer auch eine zutiefst pragmatische, wobei die empirisch bedingte
Vernunft mit ihren Maximen und Regeln des gesunden Menschenverstandes eine
tragende Rolle spielt, eine kritisch-distanzierte Vernunftauffassung also, die
Montaignes Reflektieren für Schopenhauer, Nietzsche und die französischen
Moralisten wertvoll werden ließ, weil sie darin den elan vital in all seiner
Lebendigkeit und furchteinflößenden Kraft deutlicher als in der weltabgewandten
platonischen Philosophie erspürten. Diese Philosophie des Lebens war es dann
auch, die Dilthey und den angelsächsischen Pragmatismus (Peirce) und die Common
sense-Philosophie (Moore), ja, darüber hinaus Ludwig Wittgenstein inspirierte.
Wie sehr der gesunde Menschenverstand sich seine Domäne
immer wieder zurückerobert, zeigt ein Blick in die gegenwärtige
Literatur von Peter Sloterdijks „Du mußt dein Leben ändern, Über Religion,
Artistik und Anthropotechnik“ bis hin zu Wilhelm Schmidts Ratgebern für ein
gelungenes und glückliches Leben. Welchen maßgebenden Anteil Montaigne an derartigen
Diskursen immer noch hat, ist nicht zu übersehen. Für die Bewältigung des
alltäglichen Lebens bleibt der bon sens der ultimative Ratgeber, der nicht nur
gegen jedweden Fundamentalismus rebelliert, sondern auch mit Bedächtigkeit zu
einem maßvollen Leben aufruft. Es bleibt dieser gesunde Menschenverstand als
unsichtbare Hand, der das ethische Minimum reguliert, der mit einer gesunden
Skepsis versehen, kraftvoll gegen die Ismen anstreitet.
Balmers Buch sei also ausdrücklich allen empfohlen, auch und
insbesondere denen, die vor philosophischen Fachaufsätzen zurückschrecken. Wie
Montaigne selbst legt Balmer sein Buch über den Franzosen so
allgemeinverständlich vor, daß sich der gesunde Menschenverstand über ein
derartiges Unternehmen freut.
Für all jene, die heutzutage versuchen, die Philosophie
lebenspraktisch zu „verkaufen“, bleibt Montaigne das große Vorbild, ihn zu
überbieten, dazu bedarf es einer fundierten Lebenskunst und vor allem einer
genialen Empathie, die bei vielen Ratgebern, die derzeit auf den Markt drängen
gar nicht zu finden ist, weil sie sich in bloße Geschwätzigkeit ergießen.
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